Kommentar über Nawalny sorgt für heftige Diskussion: „Was die Intoleranten eint“Foto: Archiv Alexander Tsypkin

Kommentar über Nawalny sorgt für heftige Diskussion: „Was die Intoleranten eint“

Alexander Tsypkin ist der neue Star auf dem russischen literarischen Olymp. Der viel gelobte Blogger und Facebook-Autor hat mit seinem ersten Buch „Frauen im fortschrittlichen Alter“ Furore gemacht, sein zweites Buch wurde als TV-Serie verfilmt. Sein satirischer Facebook-Post über eine Äußerung von Alexej Nawalny führte zu heftigen Diskussionen und zeigte auf, wie gespalten die moderne russische Gesellschaft ist. russland.NEWS druckt den Text und sprach mit dem Autor darüber, wie er die Stimmung im Land wahrnimmt.


Ich habe gelesen, dass Alexej Nawalny im Interview mit einer deutschen Zeitung vorschlug, Menschen, die Putin unterstützen, nicht in die EU einreisen zu lassen, zum Beispiel Walery Gergiew.

In diesem Zusammenhang habe ich wie üblich mehrere Fragen.

  1. Bei welcher Behörde soll ich einen Nachbarn denunzieren, der heimlich, aber in meinen Augen offensichtlich Putin unterstützt?
  2. Bekomme ich eine Belohnung für das Verpfeifen von Menschen, die Putin unterstützen? Wenn ja, ist es ausreichend Freiberufler zu sein und gibt es noch sieben Prozent dazu?
  3. Was muss getan werden, wenn ein Ehepaar in die EU einreisen will, bei dem einer der Ehepartner Putin unterstützt? Wird es mobile Scheidungsstellen an den EU-Grenzen geben?
  4. Was tun mit einem EU-Bürger, wenn er während seines Aufenthalts in Russland beginnt, seine Zustimmung zu Putins Tätigkeit auszudrücken? Sollte er in Russland erschossen oder in die EU transportiert werden?
  5. Werden mobile Lügendetektoren an den EU-Grenzen stehen? Gibt es offene Stellen für den Betreiber?
  6. Reicht es aus, dreimal Putin zu verleugnen, um ein Schengen-Visum zu erhalten, oder ist es notwendig das ein Jahr lang auf Facebook zu posten?
  7. Auf wessen Kosten wird es möglich sein, Schurken aus der EU zu vertreiben, wenn erst in der EU klargestellt wird, dass sie Putin unterstützen?
  8. Hilft das Tragen einer Schutzmaske gegen die Unterstützung für Putin und hat die Entwicklung von Impfungen schon begonnen? Gibt es Nebenwirkungen?
  9. Kann ich anstelle von Walery Gergiew bei seinen bereits ausverkauften Konzerten auftreten?

Ich habe gegen die Änderungen der Verfassung gestimmt, ich habe sogar eine Urkunde dafür. Kein Scherz, ich bin zu einer Kundgebung der Opposition gegangen, ich habe über Furgal, Belarus und das Dima-Jakowlew-Gesetz berichtet! Und hören Sie, ich kann mehr: ich kann Ihnen die Namen der mir bekannten Putinisten nennen!

Alexander Tsypkin 


Alexander, Sie waren kürzlich mit dem Coronavirus infiziert. Es freut mich, dass Sie sich erholt haben.

Alexander Tsypkin: Ja, ich danke Ihnen. Ich muss sagen, die Krankheit ist sehr unangenehm. Es handelt sich nicht um eine gewöhnliche Grippe, wie manche sagen. Ich musste viele Medikamente einnehmen und brauchte sehr lange, um wieder auf die Beine zu kommen. Dabei habe ich alle Sicherheitsvorkehrungen befolgt, ich weiß nicht einmal, wo ich mich infiziert haben könnte. Deshalb möchte ich an alle appellieren: Nehmen Sie die das Coronavirus ernst! Aber ich habe mich selbst davon überzeugt, dass unsere Ärzte mehr über diese Infektion wissen, dass es klare Verfahren und geeignete Protokolle gibt. Es gibt keine Verwirrung, die zu Beginn der Pandemie herrschte. Ich bewundere wirklich die Arbeit der Moskauer Ärzte.

Ihr satirischer Facebook-Post löste eine heftige Reaktion in sozialen Netzwerken aus.

Alexander Tsypkin: Natürlich ging ich von einer solchen Reaktion aus, eigentlich dachte ich, es würde noch schlimmer. Ich zähle mich selbst zu liberalen Kreisen und habe entsprechendes Publikum. Ich nehme sehr oft eine kritische Haltung zu den Geschehnissen in unserem Land ein. Und dieser Post war eine Satire auf die Äußerungen des Oppositionsführers. Aber es scheint mir, dass ich eine völlig berechtigte Behauptung aufgestellt habe: Die Tatsache, dass jemand Oppositioneller ist bedeutet noch lange nicht, dass er die ultimative Wahrheit verkündet. Es schien mir, dass die Aussage von Alexej Nawalny nicht ganz den demokratischen Prinzipien entsprach, die er selbst verteidigt. Es ist zumindest unkorrekt, die Rechte eines Menschen nur deshalb zu verletzen, weil er sich an bestimmte politische Ansichten hält, umso mehr, ausländische Behörden zu bitten, einen Landsmann zu bestrafen. Niemand in Russland mag das. Daher hat die Mehrheit meines Publikums den Post unterstützt, was sicherlich erfreulich ist.

Sie nennen sich einen Liberalen, ich würde Sie aber eher den Zentralisten zuordnen. Obwohl dies im modernen Russland wahrscheinlich unmöglich ist.

Alexander Tsypkin: Ich glaube eher, dass die gemäßigte Position immer beliebter wird. Jedenfalls bin ich von Menschen mit solchen Ansichten umgeben. Es gibt aber auch Randgruppen, die in zwei Lager gespalten sind. Einige glauben, dass alles im Land einfach nur schrecklich ist. Selbst wenn ich schreibe, dass Moskau cool ist, werden sie mich zerreißen, obwohl die russische Hauptstadt objektiv gesehen zu einer der bequemsten Städte der Welt geworden ist. Während andere glauben, dass alles großartig und wunderbar ist und dass es bei uns keine Korruption, keine Kriminalität gibt usw. Beide Extreme sind psychisch nicht sehr gesund. Es ist schon komisch, dass man von solchen Bürgern hören kann, ich sei Putins Handlanger und gleichzeitig ein liberaler Bastard, der ins Arbeitslager gehört. Aber ich wiederhole, von solchen abscheulichen Menschen gibt es immer weniger. Das ist übrigens, was die Intoleranten eint. Häufig wird Russland von im Ausland lebenden russischsprachigen Menschen besonders heftig kritisiert. Sie scheinen sich selbst beweisen zu wollen, dass sie Russland nicht umsonst verlassen haben. Und genau die gleichen Unzulänglichkeiten finden sich bei denen, die in Russland leben, aber verzweifelt das Licht darauf richten, was in Amerika und in Europa falsch läuft.

Das heißt, es gibt keine Spaltung in der russischen Gesellschaft?

Alexander Tsypkin: Die gibt es leider, wie in jeder Gesellschaft. In Russland ist der Konflikt der Ära der Teilung des Landes in Weiße und Rote zu Beginn des 20. Jahrhunderts nirgendwohin verschwunden. Diese Konfrontation besteht nach wie vor auf verschiedenen Ebenen, von der Ästhetik bis zu unterschiedlichen Ansichten über die Priorität der Rechte des Individuums gegenüber den Interessen des Staates. Manche wollen um jeden Preis in einer Großmacht leben, und manche wollen, dass glückliche Menschen im Land leben. Darüber hinaus haben wir die finanzielle Ungleichheit noch immer nicht überwunden, wir waren nicht in der Lage, eine gerechte Gesellschaft aufzubauen. Außerdem wird jedes Ereignis im Land genau unter dem Gesichtspunkt bewertet, ob sie für oder gegen Putin sind. Dies ist ein typisch russisches Phänomen. Bei uns ist die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte enorm. Putin ist eine große politische Persönlichkeit; dementsprechend assoziiert man sich entweder mit Putin oder stellt sich ihm entgegen. Ein Mensch kann sich nicht vom Landesleader trennen, er muss notwendigerweise seine eigene Einschätzung abgeben, seine Haltung definieren, auch wenn all diese Diskussionen keinen Einfluss auf sein tägliches Leben haben. In Amerika dagegen interessiert es viele Menschen nicht einmal, wer ihr Präsident ist.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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