„Kognitive Dissonanz“Andrej Winokurow

„Kognitive Dissonanz“

Andrej Winokurow, Journalist der einflussreichen russischen Zeitung „Kommersant“ und Experte für Innenpolitik, im Interview mit russland.NEWS

Andrej, wir wollten über Russland sprechen, aber wir kommen an den Ereignissen in Belarus nicht vorbei. Westliche Kommentatoren weisen darauf hin, dass die russische Politik angeblich Angst davor hat, dass Lukaschenko stürzt. Dies würde zeigen, dass eine Protestbewegung zu einem Regimewechsel führen könnten, was bedeutet, dass dies auch in Russland möglich wäre.

Andrej Winokurow: Ich denke genau das Gegenteil. Wie Sie wissen, haben wir viele Änderungen in der Wahlgesetzgebung. Es wurde eine dreitägige Abstimmung eingeführt, die vorzeitige Stimmabgabe außerhalb der Wahllokale wurde legalisiert usw. Das heißt, alles soll zu einem hohen Ergebnis führen. Die belarussischen Ereignisse sollten uns zeigen, dass das Streben nach einem hohen Ergebnis zu negativen Folgen für die amtierende Macht führen kann. Schließlich sind Wahlen kein Wettrennen, bei dem alle Mittel erlaubt sind. Wahlen sind auch eine Art riesiger gesellschaftlicher Meinungsumfrage, die wirklich die Stimmung in der Gesellschaft widerspiegelt, vor allem ihren aktivsten Teil. Ich kenne die tatsächlichen Ergebnisse der Wahlen in Belarus nicht, aber eines ist ganz offensichtlich – es sind nicht 80 Prozent, die Lukaschenko angeblich erhalten hat. Deswegen verspüren die Menschen eine kognitive Dissonanz, und es beginnen Prozesse, die außer Kontrolle geraten. Ich hoffe, dass die russische politische Führung jetzt begreift, dass es einfach eine gewisse Grenze der Verzerrung des Ergebnisses gibt und wozu lokale Verfälschungen führen können. Es ist eine Sache, die Zahl um fünf bis sieben Prozent zu erhöhen, und eine andere, buchstäblich unrealistische Ergebnisse anzustreben. Man sollte der Öffentlichkeit kein Bild zeigen, das völlig unwahr ist.

Dies gilt umso mehr, als in Russland jetzt auch nicht mehr so ruhig ist. Zum Beispiel gibt es Proteste in der Region Chabarowsk. Der Kreml schickte dorthin einen Gouverneur, der in derselben Partei ist (LDPR) wie der verhaftete Sergej Furgal. Aber das hat die Menschen nicht beruhigt, die Protestaktivität in der Region geht nicht zurück. Wie sieht die Kreml Strategie denn aus?

Andrej Winokurow: Ich habe von zwei Strategien gehört. Zunächst einmal, wie Sie eben sagten, dass der populäre Gouverneur durch seinen Parteigenossen ersetzt werden soll, in der Hoffnung, dass die Menschen ihn mit der Zeit akzeptieren werden. Und zweitens gehe es nur darum, den Parteien der LDPR Verantwortung für die Region zu übertragen, denn Schirinowski forderte dies ja genau das. Auf diese Weise befreit sich die Partei „Einiges Russland“ von der Verantwortung für die Ereignisse, die sich ereignet haben. Ich bezweifle jedoch, dass diese Taktik das Rating der föderalen Macht erhöht. Schließlich positioniert sich Michail Degtjarjow selbst als Schützling des Kremls, nicht als Mitglied der LDPR-Partei, und wiederholt immer wieder, dass er von Präsident Putin ernannt wurde. Aus meiner Sicht war Degtjarjows Ernennung daher ein Fehler. Doch schon seit der Verhaftung des Gouverneurs in der Region ist die föderale Macht in Zugzwang geraten.

Glauben Sie, dass die Forderung der Bewohner der Region Chabarowsk, dass Furgal zurückkehren soll, nicht erfüllt wird?

Andrej Winokurow: Furgal ist zu einer Figur von föderaler Größe geworden. Daher denke ich, dass sich die Behörden gegenüber ihm ziemlich hart verhalten werden. Präsident Putin unterzeichnete ein Dekret zu seiner Amtsenthebung aufgrund des Vertrauensverlustes. Wie kann er ihn jetzt nach Chabarowsk zurückbringen? Wenn Furgal freigelassen wird, könnte er außerdem ein richtiger politischer Rivale auf höchstem Niveau werden. Wladimir Schirinowski hat ja bereits angekündigt, dass die Partei ihn bei den Präsidentschaftswahlen 2024 als Kandidaten nominieren könnte. Es ist klar, dass man das nicht ernst in Betracht ziehen sollte, aber dennoch.

Die Politologin Jekaterina Schulmann glaubt, dass die Machtinhaber den Demonstranten in Wirklichkeit immer Zugeständnisse machen. Dies zeigte sich in der Frage der Vereinigung der Region Archangelsk und der Republik Komi, mit Protesten in Jekaterinburg oder Schies.

Andrej Winokurow: Aber es gibt noch andere Beispiele. Hier sollte man jede Situation separat analysieren. Die moderne russische politische Macht ist sehr pragmatisch. Sie handelt auf der Grundlage von Umständen, und eines der häufigsten Szenarien ist die Behauptung, dass die Verantwortung für diesen oder jenen Schritt bei den Regionen liegt. In einer solchen Situation kann das Zentrum sie auch korrigieren. Wenn sie sehen, dass das Ergebnis explosiv sein kann, rudert die Macht zurück. Eines ihrer Hauptprinzipien ist jedoch, niemals Schwäche gegenüber einem einzigen Gegner oder Leader zu zeigen. So erging es dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Pawel Grudinin. Auch deshalb hat Sergej Furgal übrigens keine Chance.

Apropos, politische Leader. Bei allen Protestbewegungen sieht man keine offensichtlichen Anführer. Sie werden sogar als „unorganisierte Proteste“ bezeichnet. Warum, glauben Sie, ist das so?

Andrej Winokurow: Chabarowsk hat, wie übrigens auch Belarus, eine Symbolfigur. Und das ist Sergej Iwanowitsch Furgal. Ich glaube im Allgemeinen, dass bei Protesten nicht der physische Anführer wichtiger ist, sondern ein symbolisches verbindendes Element. Erinnern wir uns zum Beispiel an Mahatma Gandhi. Erinnern wir uns auch an die Ereignisse von 2012 in Moskau. Zwar war Alexej Nawalny ihr Teilorganisator, aber alle Experten waren sich einig, dass der wahre Leader zunächst nicht da war. Mir scheint, dass hier die emotionale Komponente entscheidend ist. Generell ist Politik eine emotionale Sache. Die Proteste in Chabarowsk zum Beispiel werden wahrscheinlich nicht schnell enden, gerade weil sich Menschen verletzt fühlen. Es gibt eine einfache menschliche Erklärung: Sie waren beleidigt und werden weiterhin beleidigt, und Ihr Groll wächst. Und ein in die Enge getriebener Mensch kann nicht mehr einen Rückzieher machen. Ich stimme mit jenen Politikwissenschaftlern überein, die sagen, dass die regionale Identität berücksichtigt werden muss. Der Ferne Osten ist ein Außenposten Russlands, wo Menschen nicht gewöhnt sind (oder zumindest glauben, dass sie nicht daran gewöhnt sind), sich zurückzuziehen und auch zurückschlagen können. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass es in all diesen Prozessen natürlich einige politische Gegeneliten gibt, die ihre Interessen verteidigen.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

 

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