„Keine Massenproteste“: Professor Ruslan Grinberg über die Wirtschaftslage in RusslandProfessor Dr. Ruslan Grinberg

„Keine Massenproteste“: Professor Ruslan Grinberg über die Wirtschaftslage in Russland

Professor Dr. Ruslan Grinberg ist wissenschaftlicher Leiter des Wirtschaftsinstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) und gilt als einer der führenden Wirtschaftsexperten des Landes.

Ruslan Semjonowitsch, Russland wird mit einem Sanktionspaket nach dem anderen belegt. Die Preise steigen und mit ihnen die Inflation. Was ist Ihre Prognose für die Zukunft der russischen Wirtschaft?

Die Wirtschaft wird sich vereinfachen und vor allem primitivisieren. Es wird eine Art von Wirtschaft geben, die der sowjetischen ähnelt. Der Schwarzmarkt wird zurückkehren, die Leute werden anfangen, sich irgendwie anzupassen, „sich irgendwie zu verdrehen“, wie wir es nennen. Das bedeutet, dass die Wirtschaft weniger marktorientiert sein wird und die dringendsten Bedürfnisse der Menschen im Vordergrund stehen werden.

Und wann werden die Menschen diese offensichtliche Verschlechterung spüren? Wann werden sie die Auswirkungen der Sanktionen spüren?

Ich denke, das wird Ende des Sommers/Anfang des Herbstes passieren. Ein neues Leben wird beginnen. Die Verschlechterung der materiellen Bedingungen wird zu einer unabänderlichen und alltäglichen Tatsache. Es wird ums Überleben gehen. Ich denke, dass eine Regulierung der Preise, der Finanzströme und sogar der Löhne eingeführt werden wird.

Aber gleichzeitig hat sich der Rubelkurs verfestigt. Sogar vor dem 24. Februar war die russische Währung billiger. Und die Leute sagen: „Hey, der Rubel ist stark, das bedeutet, dass mit unserer Wirtschaft alles in Ordnung ist“.

Der Rubel ist aber eine nicht konvertierbare Währung. In Russland gibt es Beschränkungen für den Kauf von Devisen, was bedeutet, dass man sie nicht einfach kaufen und verkaufen kann. Der Anstieg des Rubels ist gerade darauf zurückzuführen, dass die Importe stark zurückgegangen sind. Das bedeutet, dass es wenig Bedarf für Dollar und Euros gibt. Es gibt wie gesagt so gut wie keine Einfuhren. Und die Importe werden lange Zeit nicht steigen, so dass auch der Rubelkurs nicht fallen wird. Aufgrund der starken Exporte einerseits und fehlenden Importe andererseits gibt es einen ausgezeichneten Devisenzufluss. Aber wenn man nichts importieren kann, gibt auch keine Nachfrage nach Devisen. Jetzt sind die Einfuhren um fast 70 Prozent zurückgegangen. Was bedeutet das? Dass wir diese 70 Prozent selbst produzieren müssen? Aber das wird nicht passieren. Wir werden also russische Moskwitsch-Autos ohne Airbags herstellen, das mit Benzin betrieben wird, das vor zwanzig Jahren abgeschafft wurde, weil es keine Umweltstandards, das heißt Euro-Normen, erfüllte. Wenn ich also gefragt werde, was man mit den Dollars machen sollte, lautet meine Antwort immer: „Bleiben Sie darauf sitzen und bewegen Sie sich bloß nicht“. Es wird alles wiederkommen, und der Dollar wieder hundert Rubel kosten. Und ganz davon abgesehen: Tatsächlich ist der Wechselkurs für den Durchschnittsrussen von geringer Bedeutung. Was für ihn zählt, ist die Inflationsrate. Aber die Gleichung „1 Euro = 60 Rubel“ sieht natürlich sehr hübsch aus.

Aber warum sind die Menschen bereit, Entbehrungen zu ertragen? Wofür? Bislang kann Russland doch keine nennenswerten Siege vorweisen.

Aber alle erwarten große Siege. Sie erwarten das „Neue Russland“. Der berühmte russische Filmregisseur Nikita Michalkow sagte in seiner Rede, als er vom russischen Präsidenten die Medaille des Helden der Arbeit erhielt: „Wir leben heute – so scheint es mir – in einer Zeit, in der ein neues Russland geboren wird – dort, im Donbass. Dort wird eine neue Elite geboren.“ Eine andere Sache ist, dass nicht ganz klar ist, was es ist, dieses „Neue Russland“. Wir sind daran gewöhnt, dass wir eine Großmacht sind. Die sowjetische Geschichte hat uns durch die Beeinflussung unseres öffentlichen Bewusstseins daran gewöhnt. Das heißt, es ist egal, ob wir genug Kartoffeln haben oder nicht, die Hauptsache ist, dass wir zu den Guten gehören. Die Menschen werden sich also unter keinen Umständen gegen die Regierung auflehnen. Ich sehe keine Vorbedingungen für Massenproteste, wie man sie sich in Europa vorstellt.

Nun, die ältere Generation denkt vielleicht wirklich so. Sie erinnern sich noch an die schreckliche Notlage in den Neunzigerjahren. Aber junge Menschen? Wozu brauchen sie das alles?

Ich sehe hier eigentlich gar keinen großen Widerspruch. Es gibt vielleicht ein Dutzend Städten in Russland, wo die Menschen daran gewöhnt sind, sozusagen „online“ zu leben und eine andere, offene Lebenseinstellung haben. Sie haben auch nicht diese ungesunde Einstellung zum Westen. Für einen durchschnittlichen Russen jedoch ist das entweder Liebe oder Hass oder Hassliebe. Leider haben wir immer noch keine normale Haltung gegenüber dem Westen entwickelt. Und die Schicht der neuen jungen Menschen ist noch zu klein, zu dünn, um das Geschehen im Land zu beeinflussen. Zehntausende haben bereits Russland verlassen, und die, die geblieben sind, haben keinen Einfluss auf die Politik. Die Bereitschaft zur Solidarität, zur Einheit hat sich in unserer Gesellschaft leider gar nicht erst entwickeln können.

Apropos diejenigen, die gegangen sind. Unter den Russen, vor allem unter denen, die Russland verlassen haben, gibt es derzeit eine recht emotionale Debatte darüber, ob wir darüber sprechen können, wer die Schuld am ….. in der Ukraine trägt. Ist es möglich, von einer Kollektivschuld der Russen zu sprechen?

Es kann keine Kollektivschuld geben. Aber man kann von kollektiver Verantwortung sprechen. Ich denke, ich persönlich hätte mehr tun können, um die Demokratie in Russland zu etablieren. Damals, in den Neunzigerjahren schien es uns, als sei das nicht so wichtig, als sei die politische Zweckmäßigkeit wichtiger, denn wir standen erst am Anfang des langen Weges. Und das war ein großer Fehler. Der KGB hat in Russland nicht ohne Grund das Sagen. Der Totalitarismus geht nicht nur auf das Konto derjenigen, die das Land jetzt regieren. Wladimir Putin war das, wonach sich die Menschen nach der Anarchie der Neunzigerjahre sehnten. Putin hat ihnen gegeben, wonach sie suchten – eine starke Hand und Ordnung. Die russischen Demokraten haben die Demokratie diskreditiert, die Liberalen den Liberalismus diskreditiert. Aber ich sage immer, die Wurst wächst aus der Freiheit heraus, nicht umgekehrt. Und damals schien es, dass der Begriff der Legitimität recht weit gefasst werden konnte, wobei es in erster Linie darum ging, die Machtübernahme durch die Kommunisten zu verhindern. Und jetzt brauchen wir einen zweiten Gorbatschow, aber einen, der das Chaos besiegen kann.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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