„Keine Isolation, aber hoher Preis für die Anpassung“: führender Ökonom Russlands über die WirtschaftssituationProfessor Dr. Alexander Auzan

„Keine Isolation, aber hoher Preis für die Anpassung“: führender Ökonom Russlands über die Wirtschaftssituation

Professor Dr. Alexander Auzan gilt als einer der besten russischen Wirtschaftsexperten. Er ist Dekan der Wirtschaftsfakultät der Moskauer Lomonossow-Universität

Herr Professor Auzan, Ökonomen gehen heute davon aus, dass das russische BIP bis Ende 2022 um 10 Prozent sinken wird. Werden die Russen diese Zahl unmittelbar zu spüren bekommen?

Die Zahl, die Sie nennen, wurde vom Rechnungshof zu Beginn der Krise genannt. Die Zentralbank hat ihre Prognosen bereits nach unten korrigiert und geht von einem Rückgang von etwa vier bis fünf Prozent aus. Mit anderen Worten: Der Rückgang des BIP wird derselbe sein wie in den Jahren 2008 und 2009. Damals sank das real verfügbare Einkommen der Bevölkerung nicht. Die Regierung leistete Zahlungen an die Beschäftigten des öffentlichen Sektors und die Rentner, wodurch die Nachfrage „angekurbelt“ wurde, was den Machinhabern zugutekam, die auf diese Weise ihre Position bei den Wählern stärkten. Ich glaube nicht, dass ein Rückgang der Realeinkommen jetzt vermieden werden kann, aber das ist für die russische Bevölkerung nicht sehr schmerzhaft. Man muss berücksichtigen, dass das wirtschaftliche Verhalten von Land zu Land unterschiedlich ist. So sind die Realeinkommen in Russland zwischen 2014 und 2021 um 12 Prozent gesunken. Die Menschen ertrugen es aber ganz gelassen. Das war unangenehm, aber nicht tödlich. Im Jahr 2021 gab es eine gewisse Erholung, und 2022 ist wieder ein Rückgang zu verzeichnen. Es wird aber nicht zu einer radikalen Veränderung im Leben der Menschen führen.

Es gilt aber als unbestreitbare Wahrheit, dass die ärmsten Bevölkerungsschichten als erste unter der Wirtschaftskrise leiden. „Die Reichen werden nur reicher“, wie „einfache Leute“ argumentieren.

Bislang ist das Gegenteil der Fall. Russlands führende Geschäftsleute haben in den letzten fünf Monaten rund 60 Milliarden Dollar verloren, während die ärmsten Menschen bisher nichts gespürt haben, abgesehen vielleicht von einem gewissen Preisanstieg. Bislang haben die Eliten also weit mehr verloren als die Bevölkerung.

Es gibt bereits sieben Sanktionspakete gegen Russland. Bislang scheinen sie jedoch nicht zum Zusammenbruch der russischen Wirtschaft geführt zu haben. Wir sehen bisher auch keine Massenarbeitslosigkeit.

Es gibt ein sogenanntes russisches Arbeitsmarktmodell. Während der Krise versuchen wir nicht, Menschen zu entlassen, sondern Menschen in Teilzeitarbeit zu versetzen, sie „auf Tarife zu setzen“, wie wir es nennen. Das passiert jetzt in Autofabriken, und das ist die Branche mit dem größten Multiplikator: Für jedes Automobilwerk arbeiten mehrere andere Zulieferer. Wenn sie schließen, dann wird es dramatisch. Man kann nicht sagen, dass die Schließungen vermieden wurden (im Mai gab es eine tiefe Rezession), aber es gab keine Massenentlassungen. Jetzt versucht man dringend, an den Orten, die von ausländischen Investoren verlassen wurden, die Produktion von etwas nach chinesischen Vorbildern und einigen eigenen Entwicklungen aufzubauen. Daher entwickelt sich die Krise tatsächlich nicht so schmerzhaft, wie viele Experten angenommen haben.

Könnte es sein, dass, wie der Kreml sagt, der Schlag der Sanktionen die EU selbst mehr treffen wird als Russland?

Sanktionen lassen sich nur sehr schwer „optimieren“, sie sind keine zielgenauen Waffen. In einer globalisierten Wirtschaft werden die Wirtschaftsbeziehungen an der Basis, also auf den Märkten, aufgebaut. Weil es sich als profitabel erweist, dort einzukaufen, dorthin zu liefern usw. Die Regierungen sind nicht sehr gut darin, diese Prozesse zu verfolgen. Erst werden die Sanktionen auferlegt, und dann merkt man plötzlich: „Hoppla, das wirkt ja wie ein Bumerang“. Und dann beginnen die Sanktionen neu ausgerichtet zu werden. Daher hat das siebte Sanktionspaket aus meiner Sicht die Situation nicht verschärft, sondern eher abgemildert. Man verhängte ein Verbot für die Ausfuhr von russischem Gold, gleichzeitig aber werden die Beschränkungen für die Kreditvergabe der sanktionierten russischen Banken für die Ausfuhr von Lebensmitteln und Düngemitteln verringert und die Beschränkungen für die zivile Luftfahrt gelockert. Ich denke, wir sind in eine Phase eingetreten, in der die Sanktionen neu geordnet werden. Weil die Grenzen der gegenseitigen Abhängigkeit klar werden. Wie kann man zum Beispiel das russische Metallkonzern VSMPO-AVISMA mit Sanktionen belegen, wenn es Titan liefert, das die US-Industrie benötigt? Russland produziert 30 Prozent der Edelgase, und Taiwan, ein führender Hersteller von Mikroprozessoren, braucht sie dringend. Das bedeutet nicht, dass diese Art von Transaktionen von Sanktionen befreit werden. Aber das bedeutet, dass die Sanktionen mal gelockert und durch rein symbolische ersetzt werden; mal werden die Augen davor verschlossen, dass es große Vermittlungsketten zur Lösung gegenseitiger Probleme aufgebaut wurden. Und noch etwas: Die Sanktionen betreffen vor allem den Energiesektor, und Energie ist alles. Ich würde es so ausdrücken: Energiebeschränkungen sind eine Waffe mit universeller und unmittelbarer Wirkung. Und die technologischen Verbote haben eine punktuelle Auswirkung, die sich vielleicht in sechs Monaten, vielleicht in drei Jahren zeigen wird. Russland verfügt jedoch über drei Ressourcen, die dem Land das wirtschaftliche Überleben sichern – eine große Menge an Bodenschätzen, die jetzt zu einem guten Preis auf dem Weltmarkt verkauft werden, finanzielle Ressourcen, die bislang ausreichen, um die Probleme Russlands zu lösen, und eine hohe Anpassungsfähigkeit der Bevölkerung, die die EU offensichtlich nicht hat.

Es ist also unmöglich, in der heutigen globalisierten Welt von einer vollständigen Isolierung der russischen Wirtschaft zu sprechen?

Ein so großes Land wie Russland kann sicherlich nicht isoliert werden. Man kann eher von einem „Sektor“ der Isolation sprechen als von einem Kreis. Die so genannten unfreundlichen Länder machen etwa 57 Prozent des weltweiten BIP aus, und gemessen an der Kaufkraftparität sind es 43 Prozent. Und dann gibt es noch den Osten, den Süden, Afrika und Lateinamerika. Und dorthin geht die Wende der russischen Wirtschaft. Ein weiterer Punkt ist, dass die Hinwendung zum Osten und Süden ein langwieriger und schwieriger Prozess ist, denn um die Exporte umzustellen, muss die Infrastruktur wiederaufgebaut werden, was drei bis sieben Jahre dauern wird. Zum Beispiel, um die Ölpipelines nach Süden statt nach Westen zu verlegen. Mit anderen Worten: Es gibt keine Isolation, aber wir zahlen einen sehr hohen Preis für die Anpassung an die neue Situation und an die neue Struktur der Weltwirtschaftsbeziehungen.

Hat Russland eine Chance, ohne die Zusammenarbeit mit dem Westen, an die wir uns in den letzten, sagen wir, 20 Jahren gewöhnt haben, einen akzeptablen, hohen Lebensstandard zu erreichen?

Lassen Sie uns erstmal klarstellen, ob wir über den akzeptablen oder hohen Lebensstandard reden? Das akzeptable Lebensniveau werden wir erreichen. Ich denke, dass die Krisenanpassung drei Jahre dauern wird, und als Ergebnis wird es das geben, was Ökonomen ein schlechtes Gleichgewicht nennen. Das heißt, das Leben wird irgendwie geregelt sein, aber die Lebensqualität und die Einkommen werden niedriger und die Preise höher sein. Wie der russische Dichter Puschkin mal sagte: „Obwohl es traurig ist zu leben, meine Freunde, ist es doch möglich zu leben.“ Die wichtigste Frage ist, was nach 2025 passieren wird.

Aus irgendeinem Grund verfolgen die Russen den Wechselkurs des Rubels gegenüber dem Dollar und dem Euro stets besonders aufmerksam. Man glaubt, wenn der Rubel stark ist, dann ist alles in Ordnung.

Der starke Rubel, von dem die oppositionellen Ökonomen gesprochen haben, stellt ein symbolischer Wert da. Die Importe sind zurückgegangen, die Exporte jedoch nicht. Folglich wurden weiterhin Euro und Dollar in die russische Wirtschaft gepumpt, ohne dass es dafür eine Nachfrage gab. Dies ist jedoch schlecht für die Exporteure. Wirtschaftlich setzt dies den Exporteur unter Druck, und der Export ist viel wichtiger für die Entwicklung der Unabhängigkeit der russischen Wirtschaft. Mir scheint, dass die Frage eines „schweren“ Rubels jetzt eine Frage von Indikatoren ist, die zeigen, was mit dem Saldo von Exporten und Importen passiert. Sie beginnen sich auszugleichen. Die Wirtschaft ist dabei, eine Art Gleichgewicht zu erreichen.

Die Arbeit des russischen Finanzblocks, insbesondere der Zentralbank und des Finanzministeriums, bekommt viel Lob. Sie hätten eine Katastrophe verhindert. Wie sehen das?

Ich schätze ihre Arbeit, auch wenn ich zugeben muss, dass ich voreingenommen bin, weil die meisten Leiter der Zentralbank Absolventen der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität sind, also keine Finanzfachleute, sondern Wirtschaftswissenschaftler mit einem breiten Profil. Ich glaube, sie haben sehr geschickt und vielfältig gehandelt. Die Entscheidungen waren hart. So war das Land beispielsweise lange Zeit stolz auf die Konvertierbarkeit des Rubels. An einem Tag haben sie es aufgegeben, und ich denke, sie haben mit der Einführung von Devisenkontrollen das Richtige getan. Andernfalls wäre es zu einer Panik auf den Finanzmärkten gekommen. Ich denke, die Regierung hat Recht, wenn sie versucht, das Problem des „schweren Rubels“ mit marktwirtschaftlichen Methoden zu lösen. Die Führung des Finanzblocks hält an der Strategie des frei schwankenden Wechselkurses fest und ist darüber hinaus auf neue Herausforderungen, wie zum Beispiel. Sanktionen gegen Moskauer Börse, vorbereitet. Und ihnen steht noch eine Fülle von Instrumenten zur Verfügung.

Was geschieht derzeit in der Hochschulbildung in Russland? Haben Sie die Cancel Culture direkt gespürt?

Uns wurde der Zugang zu einer großen Zahl von Programmen und Informationsgrundlagen verweigert. Manchmal in erstaunlicher Form. Wir haben zum Beispiel einen Vertrag über 26.000 Euro mit einem britischen Anbieter, der seine Dienste eingestellt hat, ohne das Geld zurückzuzahlen. Ich frage mich grundsätzlich, warum die Sanktionen Druck auf Universitäten ausüben. Wer profitiert davon, dass die Menschen schlechter unterrichtet werden? Darüber hinaus haben Universitäten immer Beziehungen über alle Konflikte und Kriege hinweg gepflegt. Wir haben viele Partner in Deutschland, etwa jede vierte deutsche Hochschule hat sich von uns nicht getrennt. Alle französischen Universitäten beendeten die Beziehungen vollständig, und dies war eine Entscheidung auf Regierungsebene. Ich halte das für völlig falsch und bin erstaunt, wie sehr die europäische Hochschulgemeinschaft in die Prozesse von heute hineingezogen wurde. Dabei sind wird doch für Übermorgen verantwortlich.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

Foto: Pressedienst der Wirtschaftsfakultät der Moskauer Lomonossow-Universität

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