Iwan Sergejewitsch Turgenjew: Russe, Europäer, adliger Grandseigneur,

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

Reformer, Vermittler zwischen den Kulturen, ewiger Liebhaber, „Puschkin“ der Prosa – man könnte noch einige Eigenschaften aufzählen, für die Turgenjews Name steht; die wichtigste ist jedoch: ein brillanter Erzähler, der Westeuropa als Erster die russische Literatur, das russische Wesen und die Probleme Russlands nahe gebracht hat.

Die Brüder Edmont und Jules de Goncourt berichten am 28. Februar 1863 in ihrem Journal, wie sie den 45-jährigen Turgenjew zum ersten Mal trafen:

Abendessen im Magny. Charles Edmond bringt uns Turgenjew mit, diesen Russen mit dem zartsinnigen Talent, den Autor der »Erinnerungen eines russischen Herrn«, von »Antéor« [gemeint ist ›Antschar‹. hmw], des »Russischen Hamlet«. Er ist ein charmanter Koloss, ein sanfter Riese mit weißen Haaren; er sieht aus wie ein altes, sanftes Genie aus einem Wald oder von einem Berg; er sieht aus wie ein Druide und ein guter alter Mönch in »Romeo und Julia«. Er ist schön, aber von welch ehrwürdiger Schönheit, außerordentlich schön. (…) In Turgenjews Augen ist Himmel. Zum freundlichen Blick kommen das Liebkosende und Singende des russischen Akzents, etwas von der Kantilene eines Kindes und eines Schwarzen. Bescheiden, gerührt von der Ovation der Tafelrunde, spricht er uns von der russischen Literatur, die sich mitten in realistischen Studien befindet, vom Theater bis zum Roman. (1)

Der Schriftsteller und Maler Ludwig Pietsch (*1824, †1911), ein guter Freund Turgenjews und Fontanes, beschreibt den 28-jährigen Turgenjew in Wie ich Schriftsteller geworden bin. Der wunderliche Roman meines Lebens (1893/94):

Er sprach das Deutsche rein und fließend. Der leichte russische Akzent ließ es wohl etwas fremdartig, aber nur desto anmutiger und einschmeichelnder klingen. Hatte er doch, nachdem er die Moskauer Universität besucht, zwei Jahre an der Berliner studiert; war ein eifriger Hörer und damals gläubiger Bekenner der Hegelschen Philosophie – zu den Füssen Karl Werders und Michelets sitzend – wenigstens gewesen, hatte auch wiederholt andere deutsche Städte zu kürzerem oder längerem Aufenthalte besucht. Er kannte Paris und Italien; bewies ein ebenso feines, tiefes und eigenartiges Gefühl und Verständnis für die Musik und Malerei wie für die Poesie und Literatur der Völker. Mit der deutschen schien er gründlich vertraut und von einer imponierenden Goethe-Festigkeit. […]
Diese körperlich im gewaltigen Stil seiner Ahnherrn angelegte Gestalt war die eines Menschen von fast weiblicher Zartheit und Weichheit des Gemüts, dessen kräftigste Leidenschaft der tiefe Hass gegen das Unrecht, gegen die Brutalität, gegen die Unmenschlichkeit in jeder Form war und somit am heftigsten durch und gegen die Sünden und Frevel wider die Humanität, Recht und Wahrheit erregt werden musste. Und gerade diese sah er, wie in der Geschichte seines eigenen Hauses, überall in seinem ganzen Vaterlande unter der Regierung Nikolaus die unbedingte, grausame Herrschaft führen. Was Leibeigenschaft heißt, hatte er auf seinen elterlichen Besitzungen und denen seiner Nachbarn an der Quelle studieren können. Was brutale Geistesknechtschaft, gewaltsame Erstickung des geistigen Lebens einer ganzen großen Nation sagen will – überall in Russland, in den glänzenden Hauptstädten und ihren Palästen wie in den Hütten des kleinsten Dorfes…

So weit, so gut. Hier spricht die Stimme eines begeisterten Freundes, dessen Worte zwar nicht bezweifelt werden sollen, aber… Will man aber die ganze Persönlichkeit Turgenjews beschreiben, tut man sich schwer: Jeden geschriebenen Satz möchte man wieder streichen, denn es drängt sich immer wieder ein ABER auf.

Turgenjew war, wie ihn Goncourt beschreibt, „ein charmanter Koloss, ein sanfter Riese mit weißen Haaren“, eine beeindruckende, gewaltige Erscheinung, ABER er war auch ein wankelmütiger Hypochonder, der große Angst vor Krankheiten hatte und sich schon mit 35 Jahren als alten Mann bezeichnete.

Turgenjew war von ganz altem Adel, nicht nur seiner Geburt nach, am 28. Oktober jul. / 9. November greg. in Orjol, dem fruchtbarsten Schwarzerdegebiet Russlands, in dem die meisten „Adelsnester” mit ihren riesigen Gütern lagen, – er war es in seinem ganzen Wesen und seiner Erziehung nach. Im Alter verkörperte er perfekt das Bild des adligen Grandseigneurs, ABER er war auch ein überzeugter Kämpfer für den evolutionären Fortschritt, für soziale Reformen und einen Liberalismus mit stark demokratischer Tendenz. 1879 definierte er „Liberaler“ für sich selbst mit den Worten:

Protest gegen jeden Obskurantismus und jede Unterdrückung, Achtung vor Wissenschaft und Bildung, Liebe zur Dichtung und zur Kunst und schließlich – dies vor allem – Liebe zum Volk, das unter dem Joch der Leibeigenschaft und der Rechtlosigkeit die tätige Hilfe seiner glücklicheren Söhne benötige.

Turgenjew war ein eingeschworener Gegner der Leibeigenschaft, die er in der Kindheit hautnah miterlebt hatte, wobei er nicht nur die schlechten Seiten erinnerte, die die Grundlage für die Aufzeichnungen eines Jägers (1847–1852) bildeten, die ihn berühmt gemacht haben; er erinnerte auch die Güte und Liebe, die er bei „seinen“ Leibeigenen, nie aber bei seiner Mutter erfahren hatte. ABER als er 1850 das Gut Spasskoje erbte, gab er die Leibeigenen nicht bedingungslos frei, sondern behielt sie als zinspflichtige Arbeiter auf dem Gut (was, zugegeben, eine sehr große Erleichterung für sie bedeutete).

Turgenjew war mit Leib und Seele Russe, er liebte sein Russland, ABER er verbrachte (ab 1856) mehr als sein halbes Leben in Deutschland und Frankreich; er studierte u.a. in Berlin, lebte zur Zeit der 48er-Revolution zwei Jahre in Paris und reiste regelmäßig für längere Zeit nach Deutschland; ab seinem 45. Lebensjahr hatte er seinen ständigen Wohnsitz in Baden-Baden und später bei Paris; er war dann in Russland nur noch regelmäßig zu Besuch. 1867, bei einem wütenden Disput mit Dostojewski, der über die Deutschen schimpfte, erklärte er sogar, dass er sich mehr als Deutscher fühle und sich die Beleidigungen verbitte; klagte dann ABER 1869 in einem Brief an den Schriftsteller Pissemski (*1820, †1881): „Ich sehe jeden Tag klarer, dass man nicht lange schreiben kann, wenn man von seiner Heimaterde losgerissen ist.“

Die Liebe zu Frauen bestimmte sein Leben und sein Schaffen, ABER in seiner autobiografischen Novelle Ein Briefwechsel formuliert er seine Liebesphilosophie, nach der Liebe kein schönes Gefühl, sondern eine Art von Krankheit des Körpers und der Seele ist; es gäbe in der Liebe keine Gleichheit, sondern nur die Unterordnung des einen Willen unter den anderen; der Glücksrausch sei kurz, das Leid und der Schmerz lang. Alle seine Liebschaften brach er ab, wenn es „brenzlig“ wurde.

Turgenjew war ein brillanter Erzähler (auch in Gesellschaft), der die feinsten Wortnuancen fand, und ein nahezu begnadeter Stilist, ein Meister der Wortkunst, ein Meister, der es verstand, selbst die Rhythmik des Satzes dem Geschehen und dem behandelten Gegenstand anzupassen. Seine Novellen sind russisch, wie sie russischer nicht sein könnten, so dass man sie schon als prototypisch bezeichnen kann, (und jetzt folgt schon wieder ein) ABER er knüpfte bewusst an die vielhundertjährige westeuropäische Tradition seit Boccaccio und Cervantes an.

Doch genug der Versuche, ein kennzeichnendes Bild von einem Mann zu zeichnen, den man nur in vielen widersprüchlichen Bildern erfassen kann. Wie jeden anderen Menschen prägen auch Turgenjew Herkunft und Ereignisse. Hier sind die wichtigsten davon:

Iwan Sergejewitsch Turgenjew entstammte wie schon erwähnt dem uralten Adel, der Stammbaum seines Vaters geht auf einen tatarischen Prinzen aus dem 15. Jahrhundert zurück. Das allein sagt noch nicht viel, aber er wuchs auch im typischen Adels- und Gutsbesitzermilieu auf, in den Hochburgen des reichen Adels, den „Adelsnestern“, die er in seinem gleichnamigen Roman beschreibt. Seine Nachbarn waren zum Beispiel die Bakunins, mit deren Sohn Michail – dem späteren Prototypen des militanten Anarchisten – er befreundet war und mit deren Tochter er eine Liaison hatte.
Das Gut Spasskoje, auf dem Turgenjew aufwuchs, hatte Tausende Leibeigene und Zehntausende Morgen Land und wurde von seiner Mutter gnadenlos regiert; auch die Kinder wurden gnadenlos regiert. Mit 15 Jahren begann er 1833 an der Moskauer Universität zu studieren, ein Jahr später ging er nach St. Petersburg auf die Universität und legte dort 1837 an der Philosophischen Fakultät mit 19 Jahren das Kandidatenexamen ab – der russische „Kandidat“ entspricht unserem Doktorgrad.
1838 ging Turgenjew mit Michail Bakunin nach Berlin und studierte die Hegelsche Philosophie. Dort lernte er Karl August Varnhagen von Ense, Alexander von Humboldt und Bettina von Arnim kennen –Letztere entfachte seine Leidenschaft für Goethe. Zurück in St. Petersburg erlangte er 1842 mit 24 Jahren den Magistergrad; außerdem begann seine Freundschaft mit dem Sozialkritiker Alexander Herzen (*1812, †1870). In diesem Jahr kam auch seine uneheliche Tochter Pelageja (Polina, später Paulinette) zur Welt, die er mit einer Leibeigenen gezeugt hatte; 1850 wird er seiner engen Freundin Pauline Viardot gegenüber bekennen, dass er sich nicht einmal mehr an das Gesicht der Mutter erinnern kann, dass aber die Tochter ihm wie aus dem Gesicht geschnitten sei. Sie wird später in der Familie von Pauline Viardot aufwachsen.

Das Jahr 1843 war für Turgenjew ein Schicksals- und ein Schlüsseljahr: Im Frühjahr erschien seine Verserzählung Parascha, die vom Literaturkritiker Wissarion Belinski (*1814 †1848) in den höchsten Tönen gelobt wurde, was für ihn die entscheidende Anerkennung als Schriftsteller bedeutete; in diesen Monaten bekam er auch eine Anstellung im Ministerium, was ihn von dem höchst knauserigen Unterhalt seiner Mutter unabhängig machte; und er beendete eine längere Liaison mit Bakunins Schwester (auch in dieser Beziehung stand er wieder einmal sich selbst im Weg).
Das zentrale Ereignis aber war die Bekanntschaft mit der berühmten Sängerin Pauline Viardot-García, nicht gerade eine Schönheit, jedoch eine hinreißende, von vielen angebetete, nur leider verheiratete Frau. Er sah sie in der Oper, lernte sie über ihren Mann kennen, dem er Zeit seines Lebens freundschaftlich verbunden war, und betete sie zeit seines Lebens an. Bald bildeten sie eine »ménage à trois«, lebten in Baden-Baden und in Paris zusammen bis zu seinem Tod.

Ein nicht ganz so schicksalsträchtiges, dennoch aber sehr wichtiges Jahr war das Jahr 1852: Im Frühjahr erschienen die Aufzeichnungen eines Jägers, die Turgenjew weltberühmt machten. Die Erzählungen in dieser Sammlung handeln alle von der Leibeigenschaft, was der Regierung unter Nikolaus I. wenig genehm war (bei seinem Nachfolger Alexander II. sollen sie dagegen „auf dem Nachttisch“ gelegen haben). Zur selben Zeit starb Nikolai Gogol und Turgenjew schrieb einen Nachruf, der von der Petersburger Zensurbehörde abgelehnt wurde. Der Moskauer Zensor Fürst Georgi Lwow hingegen hatte nichts gegen Turgenjews Text und der Nachruf erschien in den »Moskauer Nachrichten«. Die Verärgerung über die Veröffentlichung der Aufzeichnungen und die Freundschaft mit dem missliebigen Sozialreformer Herzen waren wohl der eigentliche Grund, dass die Regierung den Nachruf zum Anlass nahm, Turgenjew zu verhaften. So wie Michail Lermontow 1837 wegen seines Nachrufs auf Puschkin, einem Gedicht auf seinen Tod, inhaftiert und in die Verbannung geschickt worden war, wurde nun auch Turgenjew im April wegen seines Nachrufs auf Gogol festgesetzt. Ihm ging es jedoch ungleich besser als Lermontow, denn die Töchter(!) des Polizeikommissars sorgten dafür, dass er im Gefängnis bequem im Raum ihres Vaters leben konnte. Danach wurde er auf sein Gut Spasskoje verbannt, das er im Dezember 1853 wieder verlassen durfte. Ins Ausland konnte er allerdings auch danach nicht reisen, da Nikolaus I. während des Krimkrieges (1853–1856) ein Reiseverbot ins Ausland erlassen hatte. Turgenjew hatte nach dem Tode Belinskis dessen Bibliothek gekauft und wollte in dieser Zeit stattdessen – wie er den Viardots schrieb – „[s]eine Studien über das russische Volk fortsetzen, über dieses Volk, das seltsamste, erstaunlichste, das es auf der Welt gibt“. Damit diese Studien nicht allzu trocken blieben, lebte er mit einer schönen Leibeigenen zusammen, die er seiner Cousine im Jahr zuvor für 700 Rubel abgekauft hatte; er lebte drei Jahre mit ihr zusammen und nahm sie, nachdem er das Gut wieder verlassen durfte, sogar nach Petersburg mit; Schreiben lernte sie allerdings nie.

Ab 1856 lebte Turgenjew hauptsächlich im Ausland, reiste viel durch Westeuropa (u.a. Italien, Wien, London, Paris und natürlich Deutschland) und besuchte natürlich die Viardots. 1860, mit 42 Jahren, wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg ernannt.
1862 zog die Familie Viardot nach Baden-Baden; 1863 – er war jetzt 45 Jahre alt – folgte er ihnen und machte Baden-Baden zu seinem ständigen Wohnsitz. In den Jahren 1864 bis 1867 baut er sich neben der Villa der Viardots eine eigene Villa. Ab diesem Zeitpunkt ist er in Russland nur noch für einige Wochen jährlich zu Besuch, meist während der Sommermonate.
Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 zog er mit den Viardots nach Paris. Das arrogante militaristisch-bürokratische Benehmen der Deutschen nach dem Sieg über Frankreich hatte sie alle zunehmend abgestoßen.
1879 verliehen die »Gesellschaft der Freunde der russischen Literatur« und die »St. Petersburger Künstlervereinigung« dem 61-Jährigen die Ehrenmitgliedschaft und die Universität Oxford die Ehrendoktorwürde.
1882 wurde Turgenjew schwer krank und bettlägerig, alle möglichen Diagnosen wurden gestellt, letztendlich wird sich nach seinem Tode am 22. August jul. / 3. September greg. 1883 herausstellen, dass es sich Rückenmarkkrebs handelte.
Wie er es sich gewünscht hatte, wurde Turgenjew in St. Petersburg auf dem Friedhof Wolkow beigesetzt. Zum Begräbnis kamen 167 Delegationen aus ganz Russland und eine Menge von zigtausend Menschen.

Ein ausführlicher tabellarischer Lebenslauf findet sich hier… . Turgenjews schriftstellerisches Wirken wird in den nächsten Essays besprochen.

(1) [zitiert aus Juan Eduardo Zúñiga: Turgenjew, 2001]

COMMENTS