Innere Migration: „Alle kommen nach Moskau, und keiner fährt weg“

Der Demograf Nikita Mkrtschjan spricht in einem Interview für „Gaseta.ru“ über die Probleme der Migration innerhalb Russlands.

„Erwartet Moskau ein neuer Boom an Zugereisten, hat die russische Hauptstadt Konkurrenten unter den Millionenstädten des Landes und warum kann Migration die Demografie im Fernen Osten schon nicht mehr retten? Ein Gespräch mit Nikita Mkrtschjan vom Institut für Demografie bei der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften.

Wie wirkt sich die anhaltende Wirtschaftskrise auf die Mobilität der Bevölkerung aus? Ziehen die Menschen jetzt öfter aus einer Region in eine andere um, auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen? Die offizielle Arbeitslosigkeit ist nicht hoch und nimmt zudem weiter ab, aber nach Einschätzung sieht die Sache in der Realität sehr viel schlechter aus.

— Wir sehen keinen sonderlichen Einfluss der Krise auf die Fortbewegung der Menschen innerhalb Russlands. Weder die von Rosstat berücksichtigte Langzeit-Migration noch die temporäre Arbeitsmigration (…) zeigen Veränderungen bei der Mobilität der Bevölkerung.

Auf den ersten Blick ist das seltsam – die Lage auf den Arbeitsmärkten ist wirklich besorgniserregend. Aber um zu migrieren, braucht man die Möglichkeit, Arbeit zu finden, aber weder in Moskau noch in anderen Städten, die Migranten anziehen, ist es mit der Arbeit besser geworden, es gibt keine neuen Arbeitsplätze. Um langfristig umzuziehen, braucht man Geld, um sich Wohnraum zu kaufen oder zu mieten; das kommt aber nur durch Arbeit rein, zumal der Lohn entsprechend anständig sein muss.

Dabei ist aktenkundig, dass die Menschen aus jenen Regionen, wo es mit der Arbeit und also auch mit dem Einkommen besonders schlecht ist, nicht umziehen können – es gibt keine Mittel und keine Möglichkeiten, menschliches Kapital anzuhäufen, das erlauben würde, sich in einer anderen Region eine gute Arbeit zu suchen. Ganz einfach deshalb, weil kein Geld dafür da ist.

Dieses Phänomen wird als „Armutsfalle“ bezeichnet, es wurde von Sergej Gurijew und Jelena Wakulenko ausführlich beschrieben.

Gibt es überhaupt Verfahren, um das wirkliche Volumen der inneren Migration darzustellen, unter Berücksichtigung dessen, dass ein bedeutender Teil der Umzügler sich am faktischen Wohnort nicht registriert?

— Die Langzeitmigration wird besser berücksichtigt, weil seit 2011 alle, die für neun Monate und länger ankommen, am Aufenthaltsort Formulare für die statistische Erfassung ausfüllen müssen. Warum neun Monate? Die Statistiker gehen davon aus, dass man sich völlig legal 90 Tage ohne Registrierung aufhalten kann, was ergibt, dass der Aufenthalt nach der Registrierung für neun Monate in der Summe nicht weniger als ein Jahr beträgt – das entspricht der Frist, die als Kriterium für Langzeitmigration genutzt wird. Natürlich bleiben immer noch viele, die sich jahrelang nicht am Aufenthaltsort registrieren – ungeachtet dessen, dass das Meldesystem jetzt wesentlich liberaler geworden ist.

Mit denen, die für kürzere Zeit fahren, ist es schwieriger. Deshalb werden für die Vermessung des Volumens der kurzfristigen Migration traditionell Auswahlstudien betrieben, aber in Russland geschieht das nicht. Für die Einschätzung der Migration können alle administrativen Daten genutzt werden – wo die Person ihren Lohn bekommt oder Steuern zahlt, wo sie eine Poliklinik besucht, usw. Aber bisher ist das sehr schwierig, und die Forscher haben auch keinen Zugang zu diesen Daten.

In Russland soll ein Register der Bevölkerung auf Basis der bestehenden verstreuten Daten der administrativen Statistik geschaffen werden, aber wie es aussehen wird und wie die Zugangsbedingungen sein werden, ist bisher unklar.

Großes Potential haben die Nutzer von sogenannten „großen Daten“ – von der Verkehrsstatistik bis zur Nutzung des Billings von Mobilfunkbetreibern.

Moskau bleibt nach wie vor führend unter allen Regionen, die innere Migranten anlocken. Vor dem Hintergrund der depressiven Nachrichten aus den Regionen gibt es in Moskau wohl nach wie vor genug Arbeit. Immobilien werden günstiger, die Stadt selbst wächst in territorialer Hinsicht; es gibt Schätzungen, nach denen wegen des Renovierungsprogramms vier Millionen Einwohner umziehen werden – kann man einen besonderen Zuwanderer-Boom voraussagen?

— Moskau wächst, und auch die Stadtregierung spricht von neuen Plänen zum Bau von Wohnraum auf den alten (die berüchtigte Renovierung) wie den neuen Territorien. Auch das Moskauer Gebiet steht nicht zurück, das ist ebenfalls „Moskau“, wenn wir vom Arbeitsmarkt sprechen. Moskau und das Gebiet bekommen seit langem Jahr für Jahr 200.000 bis 250.000 Menschen dazu (ich spreche von Langzeitmigration), in den kommenden 15 bis 20 Jahren werden es auch ohne „Boom“ vier Millionen Menschen mehr sein, einfach wenn alles so bleibt, wie es ist.

Meiner Meinung nach ist es nicht schlecht, dass die Menschen nach Moskau kommen; schlecht ist, dass fast niemand Moskau verlässt.

In anderen Ländern ziehen junge Leute in die großen Städte, Menschen im mittleren und fortgeschrittenen Alter wechseln meist in die grünen Vorstädte. Moskauer Rentner wollen dagegen ihren Wohnsitz in der Hauptstadt nicht aufgeben, selbst wenn sie in andere Regionen übersiedeln oder auf der Datscha überwintern. Für junge Menschen oder solche im mittleren Alter ist ein Umzug nur in die engere Umgebung möglich, um nicht die Verbindungen zum Moskauer Arbeitsmarkt zu verlieren.

Ein Umzug in andere Regionen wird nur als nötige Stufe beim Karriereaufstieg akzeptiert oder als persönliche Tragödie wahrgenommen, selbst wenn das die Rückkehr in die Heimatstadt oder das Heimatdorf ist. Nun, wenn man nicht von Downshifting redet, dessen Außmaße oft übertrieben werden und Einzelfälle stark schöngefärbt werden.

Es gibt die beliebte Vorstellung, dass Moskau und die Moskauer Agglomeration Arbeitsressourcen aus dem gesamten Land anziehen und damit die Regionalwirtschaften plündern, wobei sich im Land eine merkliche demografische Schieflage ergibt. Was halten die Demografen selbst davon und was für einen Einfluss hat diese Schieflage auf die Entwicklung des Landes?

— Moskaus Anteil an der Bevölkerung Russlands ist nicht größer als der von London in Großbritannien und von Paris in Frankreich. Russlands Besonderheit liegt nicht daran, dass Moskau groß ist, sondern darin, dass es außer St. Petersburg keine richtig großen Städte gibt; östlich von Krasnojarsk gibt es keine einzige Stadt, die, wenn auch mit Mühe und Not, Anspruch auf den Status einer Millionenstadt erheben könnte. Im größten Teil des Landes fehlen große Städte.

Wenn es die Möglichkeit gebe, Moskaus Wachstum direktiv einzuschränken (die gab es auch in der Sowjetunion nicht, ungeachtet der polizeilichen Anmeldung und den damit verbundenen Beschränkungen), sollte das nicht getan werden.

Moskau, vielleicht noch St. Petersburg, erfüllt die Rolle eines „inneren Auslands“. Gebe es nicht die Möglichkeit, hierher zu ziehen, würden mehr Menschen, besonders junge, versuchen, das Land zu verlassen.

Natürlich kann man nicht alle Ambitionen (im guten Wortsinne) in Moskau befriedigen, aber für viele ist das trotzdem ein gewisser Ausweg, der „den Horizont erweitert“.

Aber jedes Subjekt der Föderation hat sein „Moskau“ – eine regionale Hauptstadt, die die Bevölkerung aus der innerregionalen Provinz anzieht. Deshalb steigen die Kontraste bei der Besiedlungsdichte nicht nur auf der Linie Moskau-alle anderen Regionen, sondern auch innerhalb jedes Territoriums.

Hat die Moskauer Agglomeration potentielle Konkurrenten? Hätte es Sinn, wenn sie dafür staatlicherseits extra finanziell gefördert würden?

— Meiner Ansicht nach gibt es keine Konkurrenten, vielleicht St. Petersburg. Moskau erstickt die Entwicklung der Städte im eigenen Umland, deshalb gibt es in keinem der nahegelegenen regionalen Zentren einen nennenswerten Migrationszuwachs. Aber dabei entwickeln sich Jekaterinburg und Nowosibirsk nicht schlecht, obwohl es mehr Beispiele dafür gibt, dass sogar große Städte ihre Anziehungskraft einbüßen.

Zum Beispiel waren Nischni Nowgorod und Samara in den 1990er Jahren attraktiver; jetzt haben sie sich in gewöhnliche Regionalzentren verwandelt. Perm hatte in den 2000er Jahren Ambitionen, aber daraus wurde nichts, außerdem ist das dynamischere Jekaterinburg nicht weit genug weg. Auch Krasnojarsk und Irkutsk hätten sich dynamischerer entwickeln können, gebe es nicht den Westdrang der Bevölkerung und die immer stärker werdende Entleerung um sie herum.

Im Rating der russischen Städte, die für die Jugend am attraktivsten sind, an dem Sie gearbeitet haben, führen St. Petersburg und das Leningrader Gebiet. Zu Beginn der 2010er Jahre zogen mehr junge Leute dorthin als nach Moskau. Hält dieser Trend an? Interessant wäre zu erfahren, ob die jungen Leute dort bleiben oder das nur ein Tribut an die jugendliche Romantik ist?

— Ich präzisiere: St. Petersburg und das Leningrader Gebiet haben nicht die absolute Mehrzahl junger Leute angezogen, sondern die Mehrzahl im Verhältnis zur eigenen Bevölkerungszahl im Vergleich zu Moskau und dem Moskauer Gebiet. Ja, St. Petersburg entspricht – wie Moskau – den Vorstellungen von der „Großstadt“, seine Lichter verzaubern nicht nur Romantiker. Nicht wenige Menschen wählen Petersburg bewusst statt Moskau, zum Beispiel geben die Bewohner des russischen Nordens und von Sibirien ihm den Vorzug; das zeigen die Untersuchungen der Geografin Nadeschda Samjatina. „Nordlichter“ fühlen sich in Petersburg wohler.

Bleiben junge Leute nach dem Hochschulabschluss in Petersburg wohnen? Ich nehme an, die meisten ja, wer die Möglichkeit hat. Für wen sonst werden die Außenbezirke der Stadt mit Neubauvierteln zugebaut? Manche, ein kleiner Teil, ziehen nach Moskau um oder gehen ins Ausland.

Inwieweit sind die neuen russischen Regionen – die Krim und Sewastopol – attraktiv für Migranten? Besitzen sie ein Potential?

— Noch ist das schwer zu beurteilen, obwohl diese Regionen von einem Zuwachs der Migration gekennzeichnet sind. In dieser Hinsicht ähneln sie mehr oder weniger den Schwarzmeergebieten des Gebiets Krasnodar. Ihre Ressource sind die Natur- und Klimabedingungen, darauf basiert ihre Migrations-Attraktivität. Aber attraktiv sind sie – wie andere Urlaubsorte auch – für Menschen mittleren und fortgeschrittenen Alters, nicht für die Jugend.

Inwieweit wirkt sich heute die Anmeldepflicht auf die Mobilität aus?

— Die Anmeldepflicht wurde Mitte der 1990er Jahre abgeschafft, aber Sie haben Recht, dass das an ihrer Stelle eingeführte System der Registrierung am Wohnort ihr im Allgemeinen ähnelt. Aber es gibt mehr Unterschiede. Nach dem Buchstaben des Gesetzes hatte die Anmeldepflicht Genehmigungscharakter, beide Formen der Registrierung sind von benachrichtigender Art. Aber was wichtiger ist – wenn die Registrierung an dem einen oder anderen Wohnort fehlt, darf einem Bürger der Russischen Föderation die Einstellung nicht verweigert werden. Sie steht einfach nicht auf der Liste der Dokumente, die im Personalbüro vorgelegt werden müssen, und der Arbeitgeber hat kein Recht, andere Papiere zu fordern.

Obwohl das sowjetische System der Anmeldepflicht aus Gewohnheit den Menschen das Leben erschwerte, waren in den 2000er Jahren noch viele Leute mit ernsten Problemen konfrontiert, wenn sie am Ort ihres faktischen Aufenthalts soziale Dienstleistungen bekommen wollten. Diese Schwierigkeiten sind bis heute nicht völlig ausgeräumt. Etwa, um Kinder in der Schule oder im Kindergarten anzumelden. Aber der Einfluss der Registrierung auf die Mobilität ist jetzt sehr gering.

Können das Internet und die neuen Technologien das Bild der inneren Migration in Russland qualitativ verändern?

— Sie meinen jene Möglichkeiten, die in Zusammenhang mit Fernarbeit entstehen? Noch, scheint mir, wirkt sie sich nicht spürbar auf die Migration in Russland aus. In Zukunft wird dieser Einfluss eher die internationale Migration beeinflussen, denn es gibt in der Welt mehr Plätze, wo man komfortabel leben und von zuhause aus arbeiten kann, als in Russland.

Wenn man die Möglichkeiten für ein Leben außerhalb der großen Städte betrachtet… In Russland könnte das zur Zunahme des Radius der städtischen Agglomerationen führen: Wenn man nicht täglich zur Arbeit fahren muss, so kommen als mögliche Wohnorte außerhalb der Zentralstadt immer neue, weiter entfernte Siedlungen in Betracht. Aber es braucht ein komfortables Milieu, und das ist schwer zu schaffen. Auch der Begriff „Komfort“ kann von einzelnen Familienmitgliedern unterschiedlich verstanden werden. Das, was für die 40 bis 50 Jahre alten Eltern attraktiv ist, ist für ihre Kinder im Teenager-Alter nicht unbedingt interessant.

Welche Bedrohung geht vom Wegzug der Menschen aus Transbaikalien und dem Fernen Osten aus? Inwieweit ist die Bevölkerungszahl heute überhaupt ein Gradmesser für Erfolg?

— Ich denke, am alarmierendsten ist die Zerstörung der einheitlichen Ansiedlung, die dort sowieso sehr dünn ist. Man nehme nur die Frage der Transport-Anbindung der Territorien. Die Leute, die im Fernen Osten leben, sind – noch mehr als zu Sowjetzeiten – vom westlichen Teil des Landes abgetrennt; nicht wenige Fernöstler waren niemals in anderen Landesteilen. Das benachbarte China verbindet das Land mit Hochgeschwindigkeits-Magistralen, und bei uns wird sogar das System der Flugverbindungen reduziert.

Nehmen wir an, es findet sich Geld für den Bau einer Hochgeschwindigkeitstrasse, die den Fernen Osten mit dem europäischen Teil des Landes verbindet – aber wer wird sie benutzen?

In Russland ist man gewohnt, mehr in Begriffen geopolitischer Bedrohungen zu denken – jenseits des Flusses liegt China, dessen demografisches Potential nicht nur mit dem fernöstlichen, sondern mit dem russischen im Ganzen nicht zu vergleichen ist. Was man damit machen soll, ist unklar, aber mit Migration wird dieses demografische Ungleichgewicht niemals aus der Welt geschafft. Das Einzige, was mir scheint: Chinas Interesse an unseren fernöstlichen Territorien hat sich etwas gelegt, genau wie der Wunsch, zur Arbeit zu uns zu kommen – die Löhne in China sind schon jetzt höher als in Russland.

Die Chinesen sehen Russland immer öfter als günstiges Reiseziel, vor 15 Jahren war das unvorstellbar.

Hat der Staat irgendeine Strategie für die räumliche Entwicklung? Ist eine Strategie in Fragen der inneren Migration prinzipiell nötig?

— Jetzt läuft die Ausarbeitung einer Strategie der räumlichen Entwicklung, aber die Details sind mir unbekannt. Eine Strategie auf dem Gebiet der inneren Migration kann nur eine gewisse Ergänzung dazu sein, dort kann gezeigt werden, dass sich die innere Migration bei der Umsetzung von Zielen der räumlichen Entwicklung auf irgendeine Art verändern kann (nicht muss, sondern kann). Aber die innere Migration kann nicht vor der Lösung von Fragen der Entwicklung von Territorien stehen – im Hinblick auf sozialökonomische, Infrastruktur- und andere Aspekte.

Überhaupt bin ich ein Gegner der Lenkung von innerer Migration. Schafft Bedingungen, und die Menschen werden selbst entscheiden, ob sie sich in die eine oder andere Richtung fortbewegen wollen. Bei uns hat der Staat ja immer das Gefühl, er könne – wie Mitte des letzten Jahrhunderts – im Interesse des Aufbaus der lichten Zukunft Menschenmassen bewegen.“

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