Inklusion: Wie Russland weltweit mit gutem Vorbild vorangeht

Inklusion: Wie Russland weltweit mit gutem Vorbild vorangeht

[Von Anastasia Byrka] Russlands innovative Ansätze bei der Inklusion von Menschen mit Behinderungen stießen bei Vertretern ausländischer Staaten auf großes Interesse; sie wurden kürzlich auf einem Forum in Genf den Vereinten Nationen vorgestellt. Experten zufolge kann diese Erfahrung während des bevorstehenden Vorsitzes Russlands in den BRICS-Staaten im Jahr 2020 geltend gemacht werden.
Eugenia Voskoboinikova, russische Fernsehmoderatorin, Aktivistin und Rollstuhlfahrerin sagte: „Als wir vor 10 Jahren mit der Inklusionsarbeit in Russland begannen, hätten wir uns nicht vorstellen können, dass wir unsere Erfahrungen bei den Vereinten Nationen in Genf vertreten und unsere ausländischen Kollegen damit überraschen würden. Aus irgendeinem Grund ist es für uns üblich zu denken, dass wir von jemandem lernen müssen. In diesem Zusammenhang ist dies nicht der Fall – heute können wir Erfahrungen austauschen.“
Nach der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2012, ist die Russische Föderation dem globalen Inklusionsprozess beigetreten. Inklusion wurde damit Teil der Agenda für Staat und Wirtschaft, wodurch Voraussetzungen zur qualitativen Verbesserung von Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen sowie zur Stärkung der Inklusionskultur geschaffen wurden.

Bevorzugung von Inklusion oder Exklusion?
Stellen Sie sich ein Kind mit ausgeprägten Verhaltensmerkmalen im Klassenzimmer vor. Zum Beispiel bleibt es nicht an seinem Platz sitzen, steht alle fünf Minuten auf, spricht laut dazwischen oder wirft die Schulbücher anderer Kinder von den Tischen. Wie kann man diese Kinder im Unterricht mitnehmen? Offensichtlich brauchen sie ein spezielles Lernprogramm. Doch die Frage, ob Lehrer zwei Programme gleichzeitig durchführen können, beantworten diese unterschiedlich.
Diejenigen, die diese Frage verneinen, sind noch immer auf der Integrationsseite. Mit anderen Worten sind sie für getrennte Klassen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen in normalen Schulen. Oder sie befürworten die Exklusion, bei der „besondere“ Kinder in getrennten, spezialisierten Sonderschulen unterrichtet werden.
Es gibt jedoch auch jene Lehrer, die die Inklusion befürworten. Ihr Prinzip ist es, ein barrierefreies Lernumfeld zu schaffen – Bildung für alle zugänglich zu machen, Kinder mit und ohne besondere Bedürfnisse gleichermaßen in den Bildungsprozess einzubeziehen. Inklusive Bildung bietet allen Menschen die gleiche Behandlung, schafft jedoch besondere Bedingungen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf.
Wichtig ist es hierbei, „besonderen“ Kindern die Möglichkeit zu geben, an schulinternen Veranstaltungen teilzunehmen, bei denen sie gemeinsam mit allen anderen ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen können. Dies hilft nicht nur den Kindern dabei, in besseren Kontakt mit ihren Mitschülern zu treten, sondern gibt auch den Lehrkräften Aufschluss über ihre individuellen Stärken und Schwächen. Beispielsweise kann sich im Schultheater bei einem Kind mit Lernschwierigkeiten plötzlich großes schauspielerisches Talent offenbaren; Lehrer können solche Erkenntnisse und Potentiale nutzen, um dem Kind Lernstoff effektiver zu vermitteln.

Fachkräftemangel
In diesem Herbst stellte das russische Bildungsministerium einen Mangel an Lehrkräften im Bereich der integrativen und speziellen Bildung fest. Der stellvertretenden Ministeriumsleiterin Tatjana Sinügina zufolge, sei dies nicht nur mit dem Mangel an notwendigen Fachkräften verbunden, sondern auch mit einem Mangel an Ausbildungsplätzen. Gemeinsam mit den russischen Regionen (Bundesländern) sollten daher mehr Ausbildungsplätze geschaffen werden. Laut Sinügina müssten zur Deckung des bestehenden Defizits 21.000 Mitarbeiter ausgebildet werden, doch gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass die russischen Universitäten nur etwa 14.000 der erforderlichen Fachkräfte ausbilden können.
Die stellvertretende Ministerin fügte hinzu, das Ministerium arbeite an der Festlegung von einer zusätzlicher Vergütung von Lehrern, die mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen arbeiten. Derzeit würde die Einführung einer solchen Entlohnung in allen Teilgebieten der Russischen Föderation erörtert werden.
Ende Oktober fand in der Region Rostow die allrussische wissenschaftlich-praktische Konferenz mit dem Titel „Psychologische und pädagogische Unterstützung des integrativen Bildungsprozesses in professionellen Bildungsorganisationen: Methodik und Praxis“ statt, an der etwa 150 Teilnehmer aus verschiedenen Regionen Russlands teilnahmen.
Die Konferenz tagte im Ressourcen-Bildungs- und Methodenzentrum zur Ausbildung von Behinderten. Derartige Zentren entstehen mittlerweile in vielen Regionen Russlands.
Auf der Konferenz kamen teilnehmende Experten zu dem Schluss, dass sich die Situation integrativer Bildung in Russland allmählich verbessere. Immer mehr Lehrer betrachten die Erziehung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen als wichtige pädagogische Aufgabe und verstehen, dass das Unterrichten eines solchen Kindes eine ernstzunehmende berufliche Herausforderung darstellt. Darüber hinaus werden spezielle Schulungskurse für Lehrer und Mitschüler entwickelt, um den Umgang mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu fördern. Ebenso erleichtern neue Programme den Anpassungsprozess von Kindern mit Behinderungen in einer allgemeinen Bildungseinrichtung. Zuletzt kommt auch eine Verbesserung der technischen Ausstattung von Schulen der Inklusionsarbeit zugute.

Recht auf Inklusion
Die inklusive Bildung in Russland wird heute durch das Grundgesetz der Russischen Föderation, das russische Bildungsgesetz, das Behindertenschutzgesetz, sowie durch die UN-Konventionen über die Rechte des Kindes, die Rechte der Menschen mit Behinderungen und das Protokoll Nr. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention geregelt.
Das Recht auf gemeinsame Bildung von Kindern mit üblicher Entwicklung und Kindern mit besonderen Bedürfnissen ist in dem vor drei Jahren in Kraft getretenen Bildungsstandard für die allgemeine Grundschulbildung für Schüler mit Behinderungen verankert. Der Standard wurde bereits 2014 im Auftrag des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft eingeführt und legte den Grundstein für die schrittweise Einführung inklusiver Bildung. Nach Inkrafttreten des Gesetzes, sollte jede Schule entsprechende Bedingungen für die Erziehung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen schaffen. Hierzu gehört beispielsweise die Barrierefreiheit: Schulen installieren spezielle Rampen, breite Türen für Rollstuhlfahrer und taktile Hinweise für Sehbehinderte. Einige Schulen greifen auch zu eher ungewöhnlichen Maßnahmen – beispielsweise zur Installation von Klingeln, die gleichzeitig auch blinken, damit ein hörgeschädigtes Kind sie erkennen kann.

In Russland gibt es laut UNESCO mehr als zwei Millionen Kinder mit Behinderungen. Viele gemeinnützige Organisationen arbeiten bereits aktiv an der Schaffung einer Infrastruktur, mit der sich die Praxis der Inklusion weiterentwickeln kann. Russische Projekte zur Entwicklung integrativer Bildung werden auch von der Europäischen Union unterstützt: Beispielsweise wurde 2015 mit Unterstützung der EU ein vierjähriges Projekt der regionalen öffentlichen Organisation für Menschen mit Behinderungen Perspektiva gestartet, das den Namen „Effektive Verwirklichung des Rechts auf inklusive Bildung auf lokaler Ebene“ trug.
Im September 2019 fand mit Unterstützung der Europäischen Union zudem das dritte „Festival der besten inklusiven Praktiken“ statt, das vor einigen Jahren von Perspektiva begründet und organisiert wurde. Nach Meinung von Perspektiva, spielt die spät gestartete Inklusion in Russland zum Teil eine positive Rolle in der erfolgreichen russischen Inklusionspraxis: „Wir haben den Vorteil, ein barrierefreies Bildungsumfeld zu schaffen ohne die Fehler unserer ausländischen Kollegen zu wiederholen, deren Erfahrung zu nutzen und unser Wissen zu erweitern“, erklärte ein Vertreter der Organisation.
Übrigens wurde im Dezember diesen Jahres eine Pilotreihe der neuen russischen Zeichentrickserie „Umgekehrter Wolf“ («Волк наоборот» auf Russisch, oder „The Other Way Wolf“ auf Englisch) in russischer und englischer Sprache veröffentlicht. Diese zeichnet sich durch die Tatsache aus, dass zum ersten Mal in der russischen Animation ein Held mit Behinderung im Mittelpunkt der Handlung steht. Laut dem Pressedienst des Projekts ist eine Serie von 24 Folgen für die Ausstrahlung im Kinderfernsehen und in Online-Kinos geplant.
Dieses sowie andere Projekte setzen sich auf die eine oder andere Weise nicht nur für Menschen mit Behinderungen ein, sondern tragen auch insgesamt zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Strukturen bei. Inklusion ist ein Weg zur Entwicklung einer modernen Gesellschaft, die auf den Grundsätzen von gegenseitigem Verständnis und auf Unterstützung beruht. Es ist zu begrüßen, dass Russland diesen Weg beschreitet.

[Anastasia Byrka/russland.news]

 

 

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