Impfung frei Haus – in Moskau kommt die Vakzinierung direkt ins Büro© russland.NEWS

Impfung frei Haus – in Moskau kommt die Vakzinierung direkt ins Büro

In Moskau wütet die Corona-Epidemie. Das sagte der Bürgermeister der Hauptstadt Sergej Sobjanin Interview. Obwohl mehr als 60 Prozent der Moskauer entweder Corona oder Antikörper hatten oder geimpft sind, gelingt es nicht, die Epidemie zu stoppen. „Wenn es keine neue Mutation gäbe, hätten wir die Pandemie schon längst hinter uns, es gäbe keine Probleme. Ich denke, die Inzidenz wäre fast auf null gesunken“, so Sobjanin. Ist also der neue sogenannte Delta-Stamm an allem schuld?

Wie dem auch sei, aber das Wort „wüten“ ist wahrscheinlich genau die richtige Beschreibung der aktuellen Situation. Am 26. Juni wurden in Russland zum ersten Mal seit Januar mehr als 21.000 neue Fälle von Covid-19 identifiziert. Insgesamt erkrankten im Land an einem Tag 21.665 Menschen, 619 Menschen starben. Insgesamt sind mehr als 5,4 Millionen Russen infiziert worden. Allein in Moskau liegen 12 000 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern.

In zehn Regionen Russlands wurde bereits eine Impfpflicht für Risiko- und bestimmte Berufsgruppen eingeführt. Am Montag wird diese Liste höchstwahrscheinlich erweitert. Die Maßnahme scheint überfällig. Bis zum 26. Juni waren nur 14,7 Prozent der Bevölkerung mit mindestens einer Komponente des Impfstoffs geimpft worden. Viele Experten meinen, dass nur eine schnelle und groß angelegte Vakzinierung die Ausbreitung von Covid-19 stoppen kann. Die einzige Alternative wäre eine volle Abriegelung der besonders betroffenen Regionen wie Moskau. Moskaus oberster Sanitätsarzt hat ein Dekret über die Pflichtimpfung erlassen. Laut diesem Dokument sollen bis zum 15. Juli mindestens 60 Prozent der Mitarbeiter in den unter das Dekret fallenden Wirtschaftszweigen wie Handel oder Dienstleistungsbereich mit der ersten Komponente des Impfstoffs geimpft sein. Innerhalb eines Monats sollte der gleiche Prozentsatz der Mitarbeiter die zweite Komponente des Impfstoffs erhalten. Die vollständige Liste der betroffenen Berufszweige ist auf der Website der Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadzor veröffentlicht.

In Moskau müssen also etwa zwei Millionen Menschen bis zum 15. Juni geimpft worden sein, um der Anordnung nachzukommen. Die Zeit rennt den Verantwortlichen davon. Deswegen begannen Leiter von Firmen, Unternehmen und Organisationen medizinische Teams für die Impfung direkt in ihre Büros zu bestellen, damit sich die Menschen an ihrem Arbeitsplatz impfen lassen können. Die Impfung bleibt weiterhin kostenlos, wenn ein mobiles Impfungsteam aus einer städtischen Poliklinik gebucht werden kann. Noch Anfang des Monats riefen die Ärzte selbst an und boten diese Möglichkeit an. Jetzt muss allerdings wegen der hohen Nachfrage erst einmal ein Antrag beim Gesundheitsamt gestellt werden. Um die Arbeitsbelastung der Ärzte zu reduzieren, rufen einige Unternehmer nicht nur für ihre eigenen Mitarbeiter, sondern auch für Mitarbeiter von Organisationen in der Nähe Ärzte an. Und manchmal muss man notgedrungen auf eine Privatklinik ausweichen, weil die Stadt nicht jeden mit mobilen Impfungen versorgen kann.

Aber warum haben die Russen die Impfung so lange hinausgezögert, was am Ende zu solch traurigen Folgen geführt hat?

„Wie bei jedem gesellschaftlichen Phänomen gibt es viele Gründe für die Impfverweigerung. Denn dies ist eine außergewöhnliche Situation. Selbst Menschen, die ihre Kinder mit seit Jahrzehnten bekannten Impfstoffen impfen und sich selbst impfen lassen, sind sowohl der neuen Krankheit als auch den neuen Medikamenten gegen diese neue obskure Krankheit gegenüber misstrauisch. Ein weiterer Grund ist die umstrittene Propaganda-Kampagne mit ihren verschiedenen sich widersprechenden Botschaften und Paradigmenwechseln, die beim Zuschauer nur ein Gefühl hinterlässt: „Da ist etwas nicht ganz koscher, besser, ich lasse lieber die Finger davon“. Wenn Sie den Menschen zuerst über Chips in den Impfstoffen erzählen, können Sie nicht erwarten, dass sie eine rationale Entscheidung dann treffen, wann sie es auf einmal brauchen. Das ist Konservatismus multipliziert mit der bürgerlichen Passivität, die den Menschen sozusagen seit Jahren eingeimpft wird. Und jetzt stellt sich heraus, dass die Menschen zum Handeln und zwar zum rationalen Handeln veranlasst werden, wenn die Behörden es brauchen. Das kann nicht klappen“, erklärt die Politologin Ekaterina Schulmann.

Inzwischen hat Deutschland Russland zur Gefahrenzone erklärt, was strenge Einschränkungen der Einreisebedingungen und eine erhöhte Quarantänezeit bedeutet. Die Maßnahme wird am 29. Juni wirksam.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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