„Idee eines Europas von Lissabon bis Wladiwostok lebt“© russland.NEWS

„Idee eines Europas von Lissabon bis Wladiwostok lebt“

Der Direktor des Europainstituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, Alexej Gromyko, im Gespräch mit russland.NEWS.

Alexej Anatoljewitch, Ihr Großvater der legendäre Außenminister Andrei Gromyko, war der erste Ständige Vertreter der UdSSR bei den Vereinten Nationen. Es war Gromyko, der bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat auf der Einführung eines Vetos bestand, das bis heute gültig ist. Damals hatte Moskau in dieser Weltorganisation nur wenige Verbündete. Man hat den Eindruck, dass sich seitdem wenig verändert hat.

Gromyko: Wenn das Land keine Verbündeten hat, kann das Außenministerium geschlossen werden. Jedes Land ist an der maximalen Anzahl von Verbündeten interessiert. Und das tun wir sehr erfolgreich. Die Tatsache, dass mein Großvater bei der UNO oft ein Veto einlegte, war darauf zurückzuführen, dass die Organisation etwa 50 Staaten umfasste und es einen Vorteil gegenüber den Staaten gab, die für die Vereinigten Staaten abstimmten. Die Situation bei den Vereinten Nationen hat sich grundlegend geändert, heute sind 193 Länder Mitglieder der UNO. Dies ist eine globale universelle Organisation, die ihresgleichen sucht. Es ist üblich, über die Isolation Russlands zu sprechen, aber dies ist ein Propaganda-Argument, das nichts mit der Meinung von Experten zu tun hat. Die Sowjetunion hatte viel mehr Gegner als das heutige Russland. Überzeugte Gegner Russlands lassen sich an einer Hand abzählten. Stellen wir uns ein imaginäres Bild vor: Die USA und Russland schließen ein Abkommen über Frieden und Zusammenarbeit ab. Wie viele überzeugte Gegner wird Russland danach haben? Vielleicht Polen, Großbritannien, die baltischen Länder… Welche Länder betrachten Russland geopolitisch als Bedrohungsquelle? Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien? Natürlich nicht. Japan, das 2014 rein symbolische Sanktionen verhängt hat, hat sich keiner der 40 Sanktionsrunden angeschlossen. China, Indien, die Türkei, Mexiko und Brasilien sind alle an einer Zusammenarbeit interessiert. Meinungsumfragen zufolge, die auf der Münchner Konferenz 2019 vorgestellt wurden, fühlt sich die Bevölkerung in vielen Ländern eher von den USA bedroht. Übrigens, was die angebliche Isolation betrifft. Unser Land wurde wieder in die PACE aufgenommen. Soweit ich mich erinnere, hatte Präsident Putin bis Mitte 2019 Dutzende Treffen allein mit den Staats- und Regierungschefs der EU. Im Juni dieses Jahres begannen zum ersten Mal in der Geschichte offizielle Verhandlungen zwischen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion. Hier ist Großbritannien eher isoliert, wenn das Land die EU verlässt. Es ist sinnlos, in der heutigen Welt grundsätzlich über Isolation zu sprechen. Sogar Nordkorea und der Iran sind nicht isoliert.

Donald Trump warf die Frage der Rückkehr Russlands zu G7 auf und will im Allgemeinen die Beziehungen zu Russland normalisieren. Warum?

Gromyko: Russland strebt die Wiederaufnahme bei der G7 nicht an. Unsere politische Führung glaubt, dass die Zukunft bei der G20 liegt. D G7 ist eine Gruppe, die einen bestimmten Teil der Welt repräsentiert und sich damit identifiziert. Einfach ausgedrückt, das sind westliche Länder. Russland sieht die Welt globaler. Was die Normalisierung der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland betrifft. Je größer das Land ist, desto mehr ist es daran interessiert, da es mehr Verantwortung trägt. Die US-Außenpolitik führt nicht zu Ergebnissen, die die Situation in der Welt stabilisieren würden. Aber die Politik eines Landes kann nicht nur in Schwarzweiß gezeichnet werden. Die USA und Russland sind die führenden Militärmächte, von denen die Lage in vielen Regionen der Welt abhängt. Können die Vereinigten Staaten das Problem im Nahen Osten oder mit China ohne Russland lösen? Auf keinen Fall. Darüber hinaus versteht Trump genau, dass die antirussische Hysterie in den Vereinigten Staaten China und Russland näherbringt. Und die Vereinigung unseres Landes mit China ist absolut nicht im Interesse der USA, denn nach Angaben des amerikanischen Establishments ist China, das bereits zu einer Supermacht geworden ist, die größte Herausforderung für Amerika im 21. Jahrhundert.

Viele nennen die russisch-chinesische Union eine „Vernunftehe“.

Gromyko: Strategie ist keine Berechnung. Unter der Berechnung versteht man Marktinteressen: Etwas ist heute rentabel, morgen aber nicht. Die Strategie berücksichtigt, was in 50 Jahren für das Land wichtig sein wird. Schließlich haben wir eine gemeinsame Grenze, wir treten für die Demokratisierung globaler Regulierungsinstrumente ein. Deshalb ist unsere Annäherung nicht mit der Außenpolitik der USA oder der EU verbunden, sie drängt uns aber zu einer engeren Zusammenarbeit im militärischen Bereich.

Zurück zur EU. In Russland hört man zunehmend, die EU stehe kurz vor dem Zusammenbruch.

Gromyko: Kein Experte wird Ihnen garantieren, dass sich die EU nicht auflöst. Wer hätte zum Beispiel den Brexit vorhersagen können? Dies ist jedoch kein Zufall, sondern ein Ausdruck von Systemfehlern der EU. An dieser Scheidung trägt sowohl Brüssel als auch London Schuld. Aber ich persönlich sehe keine Voraussetzungen für den Dominoeffekt. Meiner Ansicht nach hat die EU den tiefsten Punkt der Krise überwunden. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die EU in der Form, an die wir gewöhnt sind, nicht mehr existieren, sondern sich zu einem Staatsbund verwandeln wird. Einige Autoren sind der Meinung, die europäische Idee sei gestorben, weil es nicht gelungen sei, ein europaweites Sicherheitssystem zu schaffen.

Man hat immer geglaubt, dass die russisch-deutschen Beziehungen etwas Besonderes sind. Einige nannten Deutschland sogar den Anwalt Russlands. Jetzt bemüht sich der französische Präsident um eine Annäherung an Russland. Wie kann man das verstehen?

Gromyko: Deutschland war nie ein Anwalt, aber es hat immer besser als die Anderen verstanden, dass eine strategische Partnerschaft mit Russland nicht nur für Deutschland, sondern auch für die EU von Vorteil ist. Diese Partnerschaft ist der richtige Weg, und was jetzt passiert, ist eine Anomalie. Bundeskanzlerin Merkel scheidet spätestens in drei Jahren aus, zudem befindet sich Deutschland geopolitisch in einer schwierigen Situation. Viele glauben, dass es nicht zu einer autonomen Außenpolitik fähig ist, weil hier mehr als 40.000 amerikanische Truppen stationiert sind. Für Macron ist es schwierig, mit innenpolitischen Erfolgen zu punkten. Da die Wirtschaft in Frankreich stagniert, setzt er auf Außenpolitik. Das Treffen zwischen Putin und Macron hat gezeigt, dass die Länder viele Gemeinsamkeiten haben.

Sie sind als Befürworter des Konzepts „Größeres Europa“ von Lissabon bis Wladiwostok bekannt. Hat diese Idee Anhänger in Europa selbst?

Gromyko: Das von mir geleitete Institut gehört zu denjenigen, die dieses Konzept aktiv entwickeln. Wir sind der Ansicht, dass die Idee eines Europas von Lissabon bis Wladiwostok nicht ad acta gelegt werden soll, sondern alles getan werden muss, damit wir darauf als Leitbild für das Leben in Europa im 21. Jahrhundert zurückkommen. Viele Menschen denken, dass diese Idee vergessen werden sollte. Die gleichen Menschen glauben auch, dass der Kalte Krieg normal sei. Aber wenn man während des Kalten Krieges genauso gedacht hätte, hätte es keinen Helsinki-Prozess gegeben. Schauen Sie sich die Zitate von Putin und Macron an und Sie werden sehen, dass beide dafür sind, die Idee von Europa von Lissabon bis Wladiwostok umzusetzen. Diesmal sagte Putin, Russland wolle sich in diese Richtung bewegen. In der Tat nannten sich die EU und Russland viele Jahre lang strategische Partner. Und dieser Sicherheitsspielraum ist noch nicht zerstört, sondern wartet nur darauf, wann seine Stunde schlägt.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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