„Ich will nur nach Hause!“ – die Odyssee von zwei ukrainischen Flüchtlingen© russland.news

„Ich will nur nach Hause!“ – die Odyssee von zwei ukrainischen Flüchtlingen

„Ich verstehe das nicht, wie konnte das passieren? Warum? Warum?“ Ich sitze mit Julia (59) in einem Wiener Café. Zusammen mit ihrer 84-jährigen Mutter Ekaterina Semjonowna floh sie am 10. April aus ihrer Heimatstadt Dnipro, einer Stadt in der Ostukraine, in der achtzig Prozent der Bevölkerung russischsprachig sind. Ihre Odyssee dauerte mehr als zwei Wochen und führte sie durch die Westukraine, Polen, Rumänien und Slowenien. Jetz können beide Frauen sich im Haus ihrer Freundin, die ebenfalls aus Dnipro stammt und seit mehr als zwanzig Jahren in Österreich lebt, etwas ausruhen und Kraft für ihren weiteren Weg tanken.

Julia streichelt mit der müden Hand ihren Kater Lord. „Lord ist ein echter Flüchtling, er hat auch seinen Pass dabei. Er hatte den ganzen Weg über große Angst und lag auf meinem Schoß“, zum ersten Mal während unseres langen und schwierigen Gesprächs lächelt Julia. Bis zum letzten Moment wollte sie die Stadt, in der sie, ihre Eltern und ihre Kinder geboren wurden, nicht verlassen. Gemeinsam mit ihrem Mann Andrej gründete die diplomierte Ökonomin vor vielen Jahren ein kleines Möbelgeschäft. „Uns ging es gut“, sagt die zierliche dunkelhaarige Frau mit einer Pagenfrisur. Doch am 24. Februar war alles zu Ende. Dann wurde die Situation so gefährlich, dass ihr Leben in Gefahr war. Obwohl der Bürgermeister von Dnipro den Einwohnern versicherte, dass es vier Schutzwälle um die Stadt herumgebe, beschlossen sie und ihre Mutter, sich auf den Weg in ein sichereres Europa zu machen. Der Ehemann Andrej musste zurückzubleiben. „Wir in der Ostukraine sind mit der russischen Kultur aufgewachsen. Unsere ganze Familie, alle meine Freunde – wir alle haben Russland geliebt. Ich bin ukrainische Staatsbürgerin, aber meine Muttersprache ist Russisch. Für uns war allein der Name Stepan Bandera erschreckend. Wir haben nicht einmal Urlaub in der Westukraine gemacht, weil wir dachten, dass wir ihnen fremd sind, dass sie sehr nationalistisch sind“. Nun lag ihr Weg durch die ganze Westukraine. Sie machten Halt in Ternopil und in anderen Städten. „Wir haben dort jeden Tag weinen müssen. Denn diese Menschen haben uns, Russischsprachige mit offenen Armen empfangen. An allen Cafés und Restaurants hingen Plakate: „Wenn Sie zahlen können, bezahlen Sie bitte Ihr Essen. Wenn nicht, bekommen Sie das Essen bei uns kostenlos“. Alle haben Flüchtlinge in ihren Häuser aufgenommen, ob sie die Voraussetzungen dafür hatten oder nicht. „Wir haben in orthodoxen und katholischen Kirchen übernachtet, bei vollkommen unbekannten Menschen. Dabei sprachen wir Russisch und sie sprachen mit uns Ukrainisch. Wir waren durch ein gemeinsames Unglück verbunden, dessen Gründe weder wir noch sie verstehen“, erzählt Julia.

Wladimir Putin begründete seinen Einmarsch in die Ukraine unter anderem damit, dass die russische Bevölkerung dort allen möglichen Diskriminierungen ausgesetzt ist. Julia schüttelt den Kopf. „Niemand hat uns jemals unterdrückt. Unsere Kinder gingen zwar in die Schule, wo die ukrainische Sprache gelehrt wurde. Aber unsere Generation, die in der Sowjetunion aufgewachsen ist, spricht immer noch Russisch“. Werden sie eines Tages in der Lage sein, den Russen und Russland diese Tragödie zu verzeihen? Julia seufzt schwer. „Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich bin jetzt außerhalb der Ukraine, der Schmerz ist hier gedämpft, und ich versuche, die ganze Situation objektiver zu beurteilen. Aber ich kann eine Menge Geschichten erzählen, die den Russen nicht gefallen werden. Und diese Geschichten stammen nicht aus den ukrainischen Medien. Das ist Menschen widerfahren, die ich persönlich kenne. Wo gekämpft wird, sterben Menschen, Kinder sterben unter Bomben. Ich glaube nicht, dass sie in absehbarer Zeit verzeihen können. Und eins kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen: Sie werden es nie vergessen!“. Als wir das Interview vereinbarten, wollte Julia mir genau über diese persönlichen Geschichten, über konkrete Fälle erzählen, die sie aus erster Hand kennt. Mein Aufnahmegerät ist eingeschaltet, doch Julia bleibt still. „Es tut mir leid, ich glaube, ich kann es nicht“, flüstert sie.

Ich stelle eine andere Frage: Werden die Ukrainer irgendwann zwischen russischer Staatsführung und russischer Kultur unterscheiden können, sie nicht in einen Topf werfen? „Es kann und muss geschehen! Schließlich ist das unsere Kultur! Auf jeden Fall hoffe ich, dass die Menschen sich nicht dermaßen hassen, dass dieser Hass sie auffrisst und mehrere Generationen lang begleitet“.

Am nächsten Tag werden sie nach Litauen weiterreisen. Sie haben dort Verwandte, die ihnen versprochen haben, sie aufzunehmen. Werden sie in Litauen eine neue Heimat finden? Niemand kann diese Frage jetzt beantworten. Die meisten von Julias Freunden und Bekannten sind ebenfalls geflohen und haben sich in Polen oder Deutschland niedergelassen. Die Bedingungen sind überall unterschiedlich, und es heißt, die Deutschen seien besonders großzügig. Aber Julia kann sich ein Leben außerhalb der Ukraine nicht vorstellen. „Am ersten Tag, sobald es möglich sein wird, werden wir nach Hause zurückkehren“, sagt sie mit zitternder Stimme. „Es ist egal, in welches Dnipro wir zurückkehren, auch wenn die ganze Stad in Trümmern liegt, das ist mir egal. Wir werden unsere Stadt mit bloßen Händen wiederaufbauen. Wir wollen nach Hause!“ Bleibt Dnipro russischsprachig oder wird Ukrainisch jetzt die Hauptsprache sein? Daran will Julia nicht einmal denken. Deswegen darf ich ihren vollen Namen nicht nennen, denn sie weiß nicht, in welche Heimat sie zurückkehren wird. Aber eins weiß sie mit Sicherheit: Ihre Odyssee wird erst in ihrer Heimatstadt Dnipro enden.

Daria Boll-Palievskaya

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