„Ich denke darüber nach, was ich als Nächstes tun soll“. Russischer Oppositionsjournalist auf der Suche nach sich selbst in EuropaMaxim Kurnikow

„Ich denke darüber nach, was ich als Nächstes tun soll“. Russischer Oppositionsjournalist auf der Suche nach sich selbst in Europa

Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine suchen Sicherheit in Polen, Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern. Doch Geflüchtete gibt es auch aus Russland. Seit Anfang der …… findet ein regelrechter Exodus aus Russland statt, ein Brain Drain, der seinesgleichen sucht.

Zehntausende IT-Spezialisten, Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, Musiker, Schauspieler, Rapper, Komiker und TV-Moderatoren verlassen ihr Land. Maxim Kurnikow ist einer von ihnen. Viele Jahre lang arbeitete er beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy, der als fast einzige unabhängige Medienquelle in Russland galt. Ich erwische Maxim im Zug Wien-Berlin. Seine Stimme hört sich ruhig, aber ziemlich unsicher an. Seit Wochen reist der Journalist durch Europa, spricht mit „klugen Menschen, erfahrenen Politikern“ und überlegt, „wie es weitergehen soll“. In den drei Wochen seiner Reise hat er sieben Länder und ein Dutzend Städte besucht.

Am ersten März moderierte Maxim Kurnikow, wie jeden Dienstag um 21.00 Uhr Moskauer Zeit, die beliebte Sendung „Status“ der bekannten russischen Politologin Ekaterina Schulmann. Direkt während der Live-Übertragung wurde Echo Moskwy vom Netz genommen: Die Behörden blockierten den Zugang zum Sender. Nach fast dreißig Jahren hörte das Radio auf zu existieren.  „Wir haben versucht, den Mut nicht zu verlieren und uns gegenseitig mit Witzen aufzuheitern“, erinnert sich Maxim. „Ich wusste, dass während wir in Moskau abgeschaltet wurden, im ganzen Land die Abschaltung noch einige Zeit dauern würde. Also haben wir einfach im Studio weitergearbeitet. Obwohl wir während der Sendung Nachrichten im Chatraum erhielten: „Die Radioübertragung in Kasan ist weg! Die Radioübertragung in Samara ist verschwunden!“. Ich sah, wie eine Stadt nach der anderen abgeschaltet wurde. Aber ich wusste, dass unser YouTube-Kanal noch funktionierte und dass die Leute „Status“ sehen konnten“. Tatsächlich wurde die letzte Folge der Sendung von mehreren Millionen Zuschauern gesehen. Bis auch der YouTube Kanal von Echo Moskwy verboten wurde. “Erst als wir das Studio verließen, wurde uns klar, was geschehen war“. Obwohl der Journalist zugibt, dass er noch nicht endgültig realisiert hat, was passiert ist. „Ich versuche, mich mit der Arbeit abzulenken und nicht zu reflektieren. Denn wenn ich anfange darüber nachzudenken, kommen mir viele unangenehme Gedanken in den Kopf. Also laufe ich erst einmal weiter“

Seit Jahren gab es Gerüchte, dass Echo Moskwy abgeschaltet werden kann. „Einerseits waren wir schon seit zehn Jahren darauf vorbereitet“, sagt Maxim. „Aber das gab uns auch einen gewissen Ansporn, weil wir wussten, dass jeder Tag der letzte sein könnte“. Und trotzdem kam die Schließung total überraschend.

Echo Moskwy galt als Vorbild des unabhängigen Journalismus. Ob Maxim Kurnikow daran glaubt, dass es in Zeiten der Informationskriege einen unabhängigen Journalismus gibt? Auch deutschen Medien wird oft vorgeworfen, parteiisch zu sein. „Ich glaube, es ist normal, dass man sich den Vorwurf der Befangenheit gefallen lassen muss. Ich denke, das ist eben die Meinungsfreiheit. Deshalb versteht der Journalismus seinen Auftrag überall auf unterschiedliche Weise. In einigen Ländern nehmen Journalisten eine eindeutige Position ein und kritisieren ihre Gegner von dieser Position aus. Es gibt ein weiteres Modell des klassischen investigativen Journalismus, nach dem wir gearbeitet haben oder zu arbeiten versucht haben. Ich denke, wir haben das ziemlich gut hinbekommen“.

Doch wozu die jahrzehntelange Arbeit, wenn laut verschiedenen Umfragen mehr als 80 Prozent der Russen ihren Präsidenten und die „Sonderoperation“ in der Ukraine unterstützen? Die staatliche Propaganda scheint eindeutig gesiegt zu haben. „Ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, wie diese Umfragen erstellt werden“, meint Kurnikow. „Ich will damit nicht andeuten, dass sie manipuliert sind. In jedem Land ist der Prozentsatz der Menschen, die bereit sind, an Umfragen teilzunehmen, ziemlich gering. Manche haben keine Zeit, manche sind einfach nicht interessiert usw. In Russland sollte man auf eine andere Zahl achten – nämlich den Prozentsatz derjenigen, die sich weigern, die Fragen der Soziologen zu beantworten, und das sind mehr als 90 Prozent. Diese berüchtigten 80 Prozent ist also nicht die Mehrheit der Russen, sondern die Mehrheit von denjenigen, die zugestimmt haben überhaupt an einer Umfrage teilzunehmen. Und diejenigen, die nicht zugestimmt haben, haben wahrscheinlich eine gegenteilige Meinung. Die Menschen haben einfach Angst. Es gibt also in der Tat viele, die nicht bereit sind, ihren Standpunkt darzulegen“. Doch ist das bloß nicht ein Versuch, sich selbst zu beschwichtigen, ohne das Offensichtliche zu sehen – die Mehrheit der Russen ist dafür, was Putin in der Ukraine tut. Dafür braucht man nur Kommentare auf YouTube zu lesen. „Und was macht Sie so sicher, dass diese Kommentare von echten Menschen und nicht von Bots geschrieben wurden?“, fragt Maxim. „Sie wissen, dass in Russland eine ganze Industrie geschaffen wurde, um solche Kommentare zu schreiben. Und wenn man sich anschaut, wie viele davon mit Schulfehlern auf Deutsch oder Englisch verfasst sind, kann man sehen, dass diese Bot-Fabriken auch für den westlichen Zuschauer arbeiten. Ich will damit aber nicht sagen, dass die Mehrheit der Russen gegen Putin und seine Politik ist. Vielmehr hat sich die Mehrheit noch nicht entschieden, hat sich noch keine Position eingenommen. Schließlich ist es so viel bequemer. Und wir werden sehen, wem sie sich anschließen werden, wenn das Leben sie dazu zwingen wird“.

Ob er als Russe während seiner Europareise eine gewisse Russophobie gespürt hatte? Maxim Kurnikow hält das ganze Gerede über „Russophobie“ für stark übertrieben. „Das einzige Mal, dass ich einen hasserfüllten Gesichtsausdruck mir gegenüber gesehen habe, war ebenfalls in einem Zug in Deutschland. In diesem Zug fuhren zufälligerweise viele ukrainische Flüchtlinge. Als meine deutsche Nachbarin hörte, wie ich mich mit den Flüchtlingen auf Russisch unterhielt, fragte sie mich auf Englisch, woher ich käme. Ich sagte, dass ich aus Russland bin. Und ein fünfzehnjähriges Flüchtlingsmädchen schaute mich auf eine Art und Weise an, dass ich mich unwohl fühlte“.

Während es den IT-Fachkräften mehr oder weniger egal ist, wo sie arbeiten, ist es für einen russischen Journalisten außerhalb seines Heimatlandes schwierig, seinen Platz im Leben zu finden. Was kann er tun, wenn sein Arbeitstool die Sprache ist, die russische Sprache? „Außerhalb der Muttersprache und außerhalb des Heimatlandes zu sein – das sind zwei verschiedene Dinge“, lächelt Maxim. „Und ich fühle mich auch nicht außerhalb meines Heimatlandes. Diese Auswanderungswelle unterscheidet sich stark von der, die beispielsweise im 20. Jahrhundert nach der Revolution stattfand. Denn wir haben viel mehr Mittel und Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu bleiben. Das ist eine ganz andere Ebene der Beteiligung der Emigration am Leben in Russland“, ist er überzeugt. Das stimmt. Doch einige von russischen Migranten finden die Politik von Wladimir Putin großartig. Maxims Stimme nimmt einen sarkastischen Ton an. „Ja, natürlich. Ich lade sie alle ein, nach Russland zu kommen und ihren geliebten Präsidenten zu unterstützen“.

Maxim Kurnikow hat sich bereits als Moderator des YouTube-Kanals Bild live auf Russisch versucht. Aber er ist sich nicht sicher, ob das jetzt seine Aufgabe sein wird. Die Hauptsache für ihn ist, seinem Beruf treu zu bleiben. Und an den Grundsätzen von Echo Moskwy festzuhalten. „Das heißt, alles zu tun, damit die Menschen in Russland unterschiedliche Informationen erhalten und ihre eigenen Schlüsse ziehen können“. Und so wird er weiterhin jeden Dienstag um 21 Uhr Moskauer Zeit das Programm „Status“ moderieren. Solange es YouTube, oder Telegram oder andere Informationskanäle geben wird. Egal, wo Maxim Kurnikow auch sein mag.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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