Gespräch mit Jürgen Trittin über Perspektiven einer zukünftigen Russlandpolitik

Im Dezember 2010 besuchte Jürgen Trittin, Vorsitzender der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, die russische Hauptstadt Moskau. Während seines insgesamt 4-tägigen Aufenthalts in der Russischen Föderation ist Jürgen Trittin mit Außen-, Sicherheits- und Energiepolitikern der russischen Regierung und des Parlaments sowie mit Vertreterinnen und Vertretern von Wissenschaft, Medien und Nicht-Regierungsorganisationen zusammengetroffen.

Kai Ehlers und Gunnar Jütte von russland.RU trafen Jürgen Trittin in Berlin, um mit ihm über eine mögliche zukünftige Russlandpolitik zu sprechen.

Gunnar Jütte: Herr Trittin, die deutsche Russlandpolitik unterliegt Schwankungen. Zwischen langfristig positiven Visionen und Auseinandersetzungen in den kleinen Fragen der Alltagspolitik. Sind die Beziehungen zu Russland in der Krise? Was glauben Sie, wie sich die deutsch-russischen Beziehungen entwickeln werden? Wie können Sie sich eine zukünftige Russlandpolitik vorstellen?

Jürgen Trittin: Unsere Politik gegenüber Russland verfolgt zwei Stränge: Der erste reicht von der Menschenrechtssituation, einem Pfeiler, den die Grünen traditionell verfolgen, über die Auseinandersetzungen über die Folgen des Tschetschenienkonfliktes, besonders für die Kauakasus-Region, bis hin zu Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Chodorkowski stellen.

Der zweite Strang ist die Frage der strategischen Partnerschaft. Die Bundesregierung hat in der großen Koalition immer so getan, als gäbe es diese Art von Partnerschaft schon. Die Grünen sehen diese Partnerschaft eher als anzustrebendes Ziel und nicht als vollendete Realität.

Die Kohärenz einer Politik gegenüber Russland in Sachen Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt-, und Rüstungspolitik – also in all den Aspekten, die in der Außenpolitik kohärent gebündelt werden müssen – existiert nur auf dem Papier. Diese Politikbereiche entwickeln sich teilweise in völlig unterschiedliche Richtungen.

Es gibt ohne Russland keine Sicherheit in Europa und schon gar nicht mit einer Politik gegen Russland. Umgekehrt heißt es aber auch, es gibt für Russland keine Zukunft ohne Europa und auch keine mit einer gegen Europa gerichteten Politik. Das ist der übergreifende Parameter, der uns von der weit verbreiteten Einstellung, in Russland das ‚Neue Böse‘ zu sehen, absetzt.

Kai Ehlers: Wie stellen Sie sich die neue Rolle Russlands vor? Ich meine, was wäre von so einer Partnerschaft mit Russland zu erwarten?

Jürgen Trittin: Russland generiert den überwiegenden Teil seines Bruttosozialproduktes über den Export von Rohstoffen. Das beschert dem Land einen konstanten Fluss von Einkommen und von Wertschöpfung, erzeugt aber auf Dauer eine sehr einseitige Abhängigkeit.

Es ist im beiderseitigen Interesse, aus dieser einseitigen Form der Lieferbeziehungen herauszukommen. Für Russland, weil eine Diversifizierung der Wertschöpfung langfristig unabdingbar ist. Und selbstverständlich ist es auch für Europa von besonderem Interesse, solche einseitigen Abhängigkeiten nicht zuzulassen. Deutschland kann das relativ gelassen sehen. Im Baltikum und in Polen diskutiert man diese Frage mit gutem Grund anders. Wenn Polen keine eigenen Kohlevorräte hätte, wäre es vollständig von Energielieferungen aus Russland abhängig.

Die gemeinsame Interessenbasis von Deutschland und Russland liegt in der Modernisierung der russischen Volkswirtschaft, sprich der Diversifizierung der Wertschöpfung. Davon profitiert die deutsche Wirtschaft, die gute Maschinen und Anlagen liefern kann, genauso wie Russland, das aus der einseitigen Rolle als Rohstofflieferant herauskommen will. In jeder Rede von Medwedew findet sich dieser Gedanke.

Kai Ehlers: Das wollen eigentlich alle, aber…

Jürgen Trittin: Das Problem, das wir auch aus anderen rohstoffexportierenden Ländern kennen, besteht darin, einen Weg aus dieser Abhängigkeit zu finden. George W. Bush hat mal über die USA gesagt: „We are addicted to oil“ [Wir sind süchtig nach Öl]. Dieses „addicted to oil“ ist für diejenigen, die das Öl besitzen, fast noch bedrohlicher als für diejenigen, die es brauchen.

Es ist sehr schwierig, aus dieser Situation herauszukommen, weil von diesem leicht verdienten Geld bestimmte Machtstrukturen besonders profitieren. Ein Diversifizierungsprozess hätte zur Folge, dass Eliten ein Stück vom Kuchen verlieren, weswegen bestimmte Kräfte immer wieder geneigt sind, diesen Modernisierungsprozess auszubremsen.

Das ist genau das Problem, vor dem Russland steht. Vor dem fast alle arabischen Staaten stehen, obwohl manche Golfstaaten interessante Entwicklungen genommen haben. Trotz Zuständen, die an Kasinokapitalismus erinnern, haben einige Länder die Diversifizierung hinbekommen. Ein anderes rohstoffexportierendes Land, das diesbezüglich relativ weit gekommen ist, ist Botswana. Anders als der Kongo, der an seinem Rohstoffreichtum zu ersticken droht.

Diese auf gemeinsamen Interessen beruhende Entwicklung ist äußerst spannend. Als Grundlage kann eine ‚entwickelte Energiepartnerschaft‘ dienen, die darauf abzielt, die Modernisierung Russlands ebenso voranzutreiben wie die Abhängigkeit von fossilen Energien bei uns abzubauen.

Mit dieser Herangehensweise kann man verhindern, die Beziehungen zu Russland immer auf Abrüstungsverhandlungen zu reduzieren. Obwohl die natürlich sehr wichtig sind und man da einiges machen könnte. Zum Beispiel könnte man sagen, wir verzichten auf unsere taktischen Atomwaffen. Das wäre schon mal ein Schritt.

Kai Ehlers: Das sind Rüstungsspielchen. Für wesentlicher halte ich, was Sie zuvor ausgeführt haben.

Jürgen Trittin: Das sind keine Spielchen, das ist notwendig und richtig. Aber für eine nachhaltige Zukunft nicht hinreichend.

Kai Ehlers: Über die besonderen ökonomischen und geografischen Gegebenheiten in Russland ließe sich noch einiges mehr sagen. Ich möchte allerdings noch eine weitergehende Frage stellen: Wie sehen Sie die strategische Option? Unsere Beziehung ist ja nicht nur ökonomisch bestimmbar, sondern auch von der Frage her, welche Rolle Russland als Partner für die gegenwärtig absehbare und von uns beobachtbare Neugestaltung unserer Welt spielen kann. Frau Merkel hat sich sehr einseitig auf die USA orientiert, Herr Schröder andererseits ebenso einseitig auf Putin. Was wäre Ihre Option? Ich möchte dazu noch ein Stichwort geben: Als Putin antrat, sagte er, Russland müsse im Zuge der Entwicklung einer Weltpolitik wieder zum Integrationsknoten werden. Wie stehen Sie dazu?

Jürgen Trittin: Die rot-grüne Außenpolitik hat sich dadurch ausgezeichnet, dass wir die ‚Neuen Akteure‘ in der multipolar gewordenen Welt auch in einer schwierigen Konfliktsituation ernst genommen haben.

Zu den Schlüsselakteuren in diesem Bereich müssen wir gute Beziehungen unterhalten und dazu gehören traditionell die sogenannten BRIC-Staaten [die Abkürzung BRIC steht für die Anfangsbuchstaben der vier Staaten: Brasilien, Russland, Indien und China]. Russland, neben China eines der führenden Länder in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, liegt wegen der kontinentalen Nähe zu Europa an einer der Schnittstellen. Ich würde nicht soweit wie Putin gehen und sagen, Russland sei ein Knotenpunkt. Für mich liegt Russland an dieser Schnittstelle im Verhältnis zu den ‚Neuen Akteuren‘ auf der Welt. Klar ist, dass die deutsche Außenpolitik bei der Lösung globaler Probleme nur im Rahmen einer europäischen Außenpolitik stattfinden kann.

Wir werden die Freundschaft und die gemeinsame Interessenlage mit Amerika deswegen nicht in Frage stellen. Die transatlantischen Beziehungen werden in diesem Zusammenhang weiterhin eine ganz große und überragende Rolle spielen. Das heißt aber nicht, dass wir keine guten europäischen Beziehungen zu diesen Spielern haben dürfen. Und bei diesen Neuen Akteuren ist Russland neben China mit Sicherheit einer der relevantesten. Besonders wegen seiner geografischen Nähe.

Kai Ehlers: Ich würde das Wort Vermittler benutzen: Russland als Vermittler in einer bestimmten strategischen Interessensituation, was den asiatischen Raum betrifft.

Jürgen Trittin: Da wäre ich zurückhaltend, denn das kann sich beispielsweise nicht auf das Verhältnis zwischen Europa/Deutschland und China beziehen. Da bedarf es keines Vermittlers. Im Verhältnis zu den anderen Staaten, die in dieser Liga der sogenannten Kontinentalländer auftreten, da spielt Russland oder ein gutes Verhältnis zu Russland eine wichtige Rolle. Aber nicht als Vermittler, wir werden schon auf Eigenständigkeit achten müssen.

Im zweiten Teil des Gesprächs geht es über Menschenrechte, Demonstrationsfreiheit und Opposition

Gunnar Jütte: Ich will jetzt noch die Menschenrechtsfrage thematisieren, die in jedem Gespräch über Russland angesprochen wird. Ich sehe ein großes Problem darin, was im Westen alles unter der Überschrift Menschenrechtler zusammengefasst wird. Von dem ehemaligen Oligarchen Chodorkowski bis hin zu dem Schachspieler Kasparow läuft alles unter der Rubrik Menschenrechtler, die in ihrem Kampf gegen Putin zu unterstützen sind. Sie waren ja im Dezember in Russland. Kurz danach wurde das Urteil gegen Chodorkowski gesprochen, welches wie erwartet ausfiel. Nun wird gerade Chodorkowski, immerhin ein, gelinde gesagt, Profiteur der Jelzinzeit, ganz besonders als der arme verfolgte Menschenrechtler hingestellt. Ist es nicht gefährlich, gerade ihn so als Menschenrechtler darzustellen?

Jürgen Trittin: Niemand glaubt, dass Chodorkowski ein Heiliger ist. Aber auch jemand, der Straftaten verdächtigt wird, hat Anspruch auf ein Verfahren, welches rechtsstaatlichen Kategorien genügt. Zu rechtsstaatlichen Kategorien gehört es, dass man wegen ein und desselben Vergehens nicht zweimal verurteilt werden kann. Es gibt ein paar internationale Grundsätze, denen sich alle Länder verpflichtet haben. Juristinnen und Juristen sind alle in ihrem Urteil ziemlich eindeutig, nämlich dass dieses Verfahren den eben erwähnten Standards nicht genügt. Ohne Herrn Chodorkowski positiv oder negativ zu bewerten, steht fest: Er ist ein Oligarch gewesen und das wird man gemeinhin nicht mit dem Verhalten einer Mutter Theresa. Aber jeder, auch er, hat einen Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Der Staat hat die Grundrechte aller Bürgerinnen und Bürger zu wahren.

Wenn ich mir anschaue, wie die Demonstrationen an jedem 31sten eines Monats regelmäßig abgeräumt werden, also das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit nicht wahrgenommen werden kann, dann ist was faul im Staate Russland – auch wenn man nicht mit den Teilnehmern, die dort demonstrieren, sympathisieren muss. Deswegen ist die Kritik, dass es hier eine fragwürdige Menschenrechtssituation gibt, nicht von der Hand zu weisen.

Das gilt ebenso für andere Bereiche der Rechtssicherheit. Wenn ich mir die Rankinglisten in Sachen Korruption ansehe, da schneidet Russland schlecht ab. Wobei ich gerne konzediere, dass die öffentliche Wahrnehmung dieser Listen nicht unbedingt der Realität entspricht. Der Human Rights Index für Ägypten war schon immer schlechter als der für Russland, obwohl Russland einer kritischeren Bewertung ausgesetzt war. Das entschuldigt aber Russland nicht.

Kai Ehlers: Medwedew hat bei seinem Antritt, und seitdem immer wieder, ganz klar gesagt, das Rechtssystem sei unzureichend und müsse verbessert werden.

Jürgen Trittin: Aber die Entwicklung verläuft nicht zum Positiven.

Kai Ehlers: Dem kann ich, wie Sie es jetzt formuliert haben, zustimmen. An diesem Punkt muss man Russland kritisieren.

Jürgen Trittin: Ich glaube der Schlüssel für die Modernisierung besteht darin, dass man es schafft, rechtsstaatliche Verhältnisse durchzusetzen – das beinhaltet noch nicht die Erfüllung aller Menschenrechte, damit ist nur die Rechtssicherheit gemeint- und dadurch die grassierende Korruption zu beenden. Das ist nicht nur von menschenrechtlicher, sondern auch von ökonomischer Bedeutung. Ich habe am Rande meiner Gespräche zufällig ein paar Firmenvertreter getroffen, die alle gute Geschäfte in Russland machen. Ich kann das durchaus einschätzen, wer mir da was erzählt. Es ist schon alarmierend, welche Transaktionskosten für eine Firmenansiedlung notwendig sind, weil man Schutzpatrone bestechen muss.

Kai Ehlers: Das ist eine Realität, um die keiner herumkommt, der in Russland etwas bewirken will.

Jürgen Trittin: Diese Entwicklung ist nicht mit Moral, sie ist nur schrittweise in einem sehr schwierigen Prozess aufzulösen. Das ist aber eine der Schlüsselfragen, wenn man zur Modernisierung kommen will. Wir sind also wieder an dem Punkt, mit dem ich begonnen habe.

Gunnar Jütte: Leider gehört in Russland Korruption zur Tradition, die schon bis in die Zarenzeit zurückgeht. Auch in Deutschland hat erst die rot-grüne Regierung die Steuerbegünstigung für Schmiergelder abgeschafft.

Jürgen Trittin: Wir haben es abgeschafft und infolgedessen hat sich eine völlig neue Rechtssprechung herausgebildet, dass nämlich Korruption den Tatbestand der Untreue erfüllt, weil dabei Geld veruntreut wird. Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Es ist aber sehr viel komplexer.

Wir wollen nicht, dass man über solche Verletzungen von elementaren Grundfreiheiten schweigt. Sicher wird man diese Dinge nicht einfach mit einem Gewaltakt zur Seite fegen können, sondern sie werden schrittweise beseitigt werden müssen. Was ich aber nicht akzeptieren kann, ist eine Haltung, die besagt, der Russe war schon immer bestechlich. Das ist ungefähr so als würde man sagen, Demonstrationsfreiheit sei dem Chinesen fremd, weil Konfuzius schon vor 3000 Jahren gefordert hat: Gehorcht der Obrigkeit!

Kai Ehlers: Stimmt ja auch nicht. ‚Der Russe‘, wenn man überhaupt so reden darf, war keineswegs immer bestechlich. Was vom Westen her als Korruption wahrgenommen wird, ist nicht immer Korruption. Es ist zum Teil Ausdruck von kommunalen, kommunitären Strukturen, die ganz anders wie bei uns funktionieren. Da muss man differenzieren zwischen tatsächlicher Korruption, die kriminellen Charakter hat, wenn die Leute mit dicken Geldbündeln herumlaufen, und den kommunitären Strukturen, bei denen ganz andere Kriterien angelegt werden müssen. Man muss genau hinschauen, ob etwas im Interesse einer gemeinschaftlichen Verbundenheit gemacht wird, was aber, wenn auch problematisch, ganz andere Wurzeln hat, oder ob es sich um Fälle einfacher persönliche Bereicherung auf Kosten der Gemeinschaft handelt.

Jürgen Trittin: Ich maße mir nicht an, das alles von hier aus beurteilen zu können. Ich glaube, dass darin eine riesige Aufgabe für jede russische Regierung liegt. Wer es mit der Modernisierung ernst meint, wird sich diesem Schlüsselproblem mit großem Nachdruck widmen müssen – nicht nur in der obligatorischen Präsidentenansprache zur Lage der Nation.

In Russland ist derzeit keine ernsthafte Entwicklung hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit zu erkennen. Das ist der Befund, den ich teile und der uns Sorgen macht. Man wird die Beziehungen zwischen Europa und Russland nur dann auf Dauer stabilisieren können, wenn dieses Problem aktiv angegangen wird.

Kai Ehlers: Ich will Ihnen in dieser Frage nicht unbedingt widersprechen. Was ich aber problematisch finde ist, wenn Chodorkowski und Kasparow in einem Atemzug genannt und zur alleinigen Opposition hochstilisiert werden.

Sie sind nicht d i e Opposition. Hier möchte ich eine kritische Kerbe einschlagen: Das sind Leute, die unzufrieden sind mit den Verhältnissen, aber das ist nicht d i e Opposition. Auch was da an jedem 31. eines Monats stattfindet, diese regelmäßigen Demonstrationen, das ist nicht die Opposition. Die Opposition liegt in den Bezirken, den Gouvernements usw.; direkt regional, lokal vor Ort, da gibt es eine Opposition oder besser: viel Opposition, die man genau betrachten muss.

Auch in den Parteien, selbst in der Partei der Macht gibt es Opposition. Es gibt auch eine linke Opposition (links gemeint nach deutschem Politikverständnis), also im Sinne, was bei uns zum Beispiel ATTAC ist.

Da gibt es eine Opposition, die immerhin 1000 bis 1500 Menschen zu einem Kongress zusammenbekommt. Das sind nicht viele, für ein nachsowjetisches Russland jedoch eine ganze Menge. In dieser Szene finden sich solche Menschen wie Boris Kagarlitzki und andere Alt-Aktivisten der Perestroika, Neumarxisten, Neurealisten, Neudemokraten oder Radikaldemokraten, wie immer man sie nennen will. Man kann nicht genau definieren, was es da alles gibt. Aber die, von denen vorher die Rede war, die mit den Nationaldemokraten zusammen alle zwei Monate demonstrieren, das ist nicht die russische Opposition.

Gunnar Jütte: Mit einem Neobolschewisten wie Limonow darf man nicht auf die Straße gehen. Da gilt es sich entschieden zu distanzieren. Der Zweck „Putin muss weg“ kann nicht die Mittel heiligen.

Jürgen Trittin: Trotzdem muss man beide Ebenen auseinanderhalten. Ob man mit so jemand auf die Straße geht, ist die eine Frage. Die andere Frage ist, ob der Staat diese Äußerung einer Auffassung, die man nicht teilen kann, gewaltsam unterdrücken darf. Da denke ich wie Voltaire oder Luxemburg, je nachdem auf welche Quelle man sich bezieht: „Freiheit ist immer Freiheit der anders Denkenden.“

Kai Ehlers: Aber auch da muss man genau hinschauen; man muss sehen, wie es bei den Demonstrationen zugeht.

Gunnar Jütte: Das läuft genauso ab wie bei unseren Demonstrationen in den 70ern. Wenn wir auf der Straße zu wenige waren, hat man Randale gemacht, massiv Ärger mit der Polizei gesucht. Und schon stand man in der Zeitung und hatte die entsprechende Aufmerksamkeit.
Die Demonstrationen in Moskau sind ja größtenteils erlaubt, sie finden auch statt. Dann kommt aber die Limonow-Truppe, die den vorgeschriebenen Weg verlässt, und schon greift die Polizei ein.

Jürgen Trittin: Ich wäre nach dem, was ich weiß, sehr zurückhaltend. Es hat auch Demonstrationen gegeben, die friedlich verliefen und trotzdem aufgelöst worden sind. Die Demonstrationsfreiheit wird in Russland vom Staat nicht gewährleistet und das ist etwas, was man als Demokrat und Bürgerrechtler nicht akzeptieren kann. Dass solch eine Freiheit immer auch von Leuten genutzt wird, die man selber nicht unterstützt, das ist klar. Aber es kann keine Zweifel geben: Die Freiheit zur Versammlung und Meinungsäußerung muss gesichert sein. Da hat Russland erheblichen Nachholbedarf.

Im dritten und letzten Teil des Gesprächs geht es über Demonstrationen, Gaspipelines und Terrorismus

Kai Ehlers: Ein Nachholbedarf besteht zweifellos; aufgrund meiner Erfahrung aus mehr als zwanzig Jahren eigener Recherche im Lande möchte ich aber darauf bestehen, dass man differenziert. Der Westen, die westliche Publizistik neigt dazu, die Ursachen für bestimmte Vorgänge zu verschweigen und nur über das Phänomen zu berichten. Das Phänomen, dass eine Demonstration nicht stattfinden kann, ist aber noch nicht die ganze Realität.

Sie wissen selber aus unserer eigenen Geschichte, das muss ich hier nicht alles aufzählen, wie es war, wenn wir demonstriert haben, wenn wir eigentlich die Genehmigung hatten, aber die Dinge trotzdem anders gelaufen sind und was dann berichtet wurde.

Wenn man das vom Ausland her beobachtet hat, dann konnte man auch sagen, die Bundesrepublik hat die Demonstrationsfreiheit nicht garantiert. Ganz eindeutig. Wenn man mit solchen Maßstäben rangeht, dann ist man schlecht beraten. Da muss man genauer reinschauen.

Jürgen Trittin: Trotzdem würde ich die These wagen, dass die NGOs, die ja weltweit größtenteils die gleichen Maßstäbe anlegen, den Satz, den ich eben gesagt habe, allesamt unterschreiben würden. Ich finde, dass man in so einer Frage Klartext reden muss und sage, hier gibt es einen Handlungsbedarf
Es bleibt die Tatsache bestehen, eine Rechtssprechung – die ja auch in Deutschland erkämpft und durchgesetzt wurde -, dass der Staat das Demonstrationsrecht zu schützen hat, ist in Russland noch nicht implementiert. Das gilt ja auch für andere Zwischenfälle. Ich denke da an die brutale Behandlung unseres menschenrechtspolitischen Sprechers Volker Beck aus Anlass des Christopher Street Days.

Gunnar Jütte: Sicherlich hat Russland auch in der Homosexuellenfrage großen Nachholbedarf. Man muss aber berücksichtigen, Homosexualität ist in Russland erst seit den 90er Jahren nicht mehr verboten. Bis die Toleranz in der Bevölkerung ankommt, wird noch eine Weile dauern.

Kai Ehlers: Ich denke, wir müssen darüber gar nicht streiten. Was die Bewertung angeht, stimme ich voll damit überein, dass Demonstrationsfreiheit garantiert sein sollte. Andererseits erwarte ich aber von der deutschen Politik, auch von den Grünen, dass trotzdem differenziert wird und auf die, die da demonstrieren, auch genau geschaut wird. Warum demonstrieren die eigentlich und wie machen die das?

Ich sage nochmals, worum es mir geht. Das Stichwort Opposition sollte man nicht leichtfertig an diesen Auftritten zum 31sten festmachen. Das wäre verkehrt.

Jürgen Trittin: Marie [Marieluise Beck], die den Chodorkowski-Prozess intensiv begleitet hat, hat immer gesagt, dass Herr Chodorkowski möglicherweise Schuld auf sich geladen hat. Das stellt sie überhaupt nicht in Abrede. Aber auch ein Schuldiger hat Anspruch auf ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren. Und das ist der Kern dessen, um den es an dieser Stelle geht.

Aber ich möchte noch einmal auf die wirtschaftlichen Fragen zurückkommen und fragen, ob denn das Kalkül, drei oder vier Pipelineprojekte zu verfolgen, ökonomisch aufgeht.

Der Gasbedarf in Europa wird aufgrund besserer Gebäudedämmung nicht relevant steigen, und es geht lediglich um höhere Anforderungen an die Flexibilität der Stromversorgung. Wie man die Investitionen, die von North-Stream über South-Stream bis Nabucco getätigt werden müssen, um diese Mengen an Gas dann auch durchzuleiten, erfolgreich refinanzieren kann. Derlei Fragen kommen häufig ein ganzes Stück zu kurz und man darf sie auch nicht losgelöst von der Menschenrechtsfrage diskutieren. Sonst bleibt man in einer Politik befangen, die man eigentlich schon kennt. Da gibt es die einen, die produzieren die Röhren und die anderen haben das Gas. Dann kommt man zu stabilen Austauschbeziehungen und bei der Überreichung der Urkunde sagt der jeweilige Kanzler oder Kanzlerin, aber ihr müsst auch ein bisschen auf die Menschenrechte achten.

Kai Ehlers: Dem kann ich nur zustimmen. Es wird ein umfassender Ansatz gebraucht. Ohne die Rechts- und Menschenrechtsfragen verharmlosen zu wollen, muss die Politik sich doch auf die grundsätzlichen Entwicklungsfragen konzentrieren.

Jürgen Trittin: Ich möchte hier noch ein weiteres Problem benennen. Russland wird das Problem, der anhaltenden Aufstände in seinen südlichen Kaukasus-Provinzen lösen müssen. Denn das gefährdet die Stabilität des ganzen Staates. Und der Weg, gerade den größten Kriegsherrn, den größten Warlord einfach zum Chef zu machen das ist ja in Tschetschenien passiert, wird auf Dauer nicht funktionieren.

Kai Ehlers: Das sehe ich genauso. Die Russen haben da einen Riesenfehler gemacht. Sie haben die Gesprächspartner, die sie hätten haben können, reihenweise weggeschossen, so dass sie nur noch ein oder zwei übrig hatten, die sie installieren konnten, um überhaupt noch einen Ansprechpartner für eine vollkommen instabile Situation zu haben, die auch noch weiter in die Instabilität zu rutschen droht.

Sie werden vermutlich wissen, dass global gesehen Russland das Land mit dem schnellsten Schrumpfungsprozess in der Bevölkerung ist. Zurzeit werden 1,2 Kinder pro Frau geboren. Vom Süden her, das ist das Problem, drängt Bevölkerung nach. Dieses Grundproblem ist im Kaukasus der Boden für diese ganzen Auseinandersetzungen. Dieses Problem nimmt stetig zu. Das Tschetschenische Problem als tschetschenisches ist eigentlich schon erledigt.

Jürgen Trittin: Es gibt aber mehrere Probleme in dieser Hinsicht. Ich sehe Tschetschenien nur als Metapher für diese Region.

Kai Ehlers: Genau, da gibt es ganz viel und da muss man hineingehen und eine gemeinsame Politik entwickeln. Denn wir Europäer haben im Prinzip dasselbe Problem.

Jürgen Trittin: Aber die gemeinsame Politik darf sich nicht darin erschöpfen zu sagen, wir sind alle Opfer oder Ziel muslimischer Terroristen und es ist erlaubt gegen die vorzugehen. Diese Form von Sicherheitspartnerschaft hat die Situation in Russland nicht stabilisiert.
Notwendig sind mehr Partizipation, mehr öffentliche Entwicklung und alles was man braucht, um den Prozess einer politischen Lösung, ich betone einer politischen Lösung, zuzuführen Von all dem ist man sehr weit entfernt. Mir scheint, wenn ich das aus der Entfernung sagen darf, dass die russische Politik in diesem Punkt völlig unflexibel ist, völlig hilflos. Meist entsteht diese Unflexibilität aus Hilflosigkeit. Anfangs heißt es, man will das Land demokratisieren, da man Zivilgesellschaften brauche, aber sobald man an diesen Punkt gekommen ist, sagt man, das sind alles Terroristen und gegen die muss man mit aller Schärfe vorgehen. Meine Aussage ist nur, dieses Modell der Härte wird das Problem nicht dauerhaft lösen.

Gunnar Jütte: Herr Trittin, wir danken für das Gespräch.



Jürgen Trittin Vorsitzender der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kai Ehlers: Transformationsforscher, Buchautor, Presse- und Rundfunkpublizist und Analytiker bei russland.RU

Gunnar Jütte: Herausgeber und Gründer von russland.RU und russland.TV

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