„Geschlossener Informationsraum“: deutscher Journalist über seine neuesten Erfahrungen in RusslandPskow, Foto: M.Thumann

„Geschlossener Informationsraum“: deutscher Journalist über seine neuesten Erfahrungen in Russland

Michael Thumann ist Russland-Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit.   russland.NEWS sprach mit ihm über seine Erlebnisse in Russland in den letzten drei Monaten.

Herr Thumann, Sie kennen Russland seit vielen Jahren und haben bestimmt auch große Militärparaden zum Tag des Sieges über Nazideutschland am 9. Mai auf dem Roten Platz erlebt. War diesmal die Stimmung anders?

Es war Boris Jelzin, der diese Tradition wiederbelebte. Insofern waren die ganzen Abläufe, wie die Soldaten marschieren und der Verteidigungsminister im offenen Wagen herumfährt, die Einheiten begrüßt und sie dann mit einem „Hurra!“ antworten, wie immer.  Der Unterschied lag darin, dass die Rede, die der Präsident hielt, von großer Bedeutung war. Jeder erhoffte darin die Antworten darauf zu bekommen, wohin die Reise geht. Denn alle wissen, dass diese Reise, die Russland eingeschlagen hat, von einer einzigen Person abhängt. Als er die Rede hielt, war Totenstille auf dem Roten Platz. Die Spannung war mit den Händen zu greifen: Was sagt er jetzt? Erklärt er womöglich die Generalmobilisierung? Das war bemerkenswert.

Meine Moskauer Freunde sagen, dass wenn man weder das Radio, noch TV einschaltet und sich auch keine Telegramkanäle anschaut, merkt man in der Stadt noch gar nichts – es ist alles so wie vor dem 24. Februar.

Das ist auch mein Eindruck. Das Leben läuft in ganz normalen Bahnen, und das ist ein Teil der Inszenierung. In den ersten Tagen nach dem Beginn des ….. entstand Panikstimmung. Der Rubel fiel ins Bodenlose, es gab Hamsterkäufe. Die Regierung hat alles darangesetzt und Millionenbeträge investiert, damit es scheint, als sei alles normal. Dazu gehören Investitionen in den Rubel und in die Lebensmittelindustrie, um zu zeigen: Russland ist wie die Vereinigten Staaten und ist fähig, irgendwo in der Ferne einen Krieg zu führen, und im Lande ist alles in Ordnung. Aber an einer Sache merken die Leute, dass es doch nicht alles in Ordnung ist: Das Leben wird unbezahlbar. Ich stelle von Woche zu Woche fest, dass der Joghurt, oder die Milch, oder das Brot, die ich kaufe, teurer werden. Und zwar nicht so moderat wie in Deutschland, sondern rasant. Wir haben es hier mit einer sehr hohen Inflation zu tun. Fachleute gehen von 20 Prozent aus. Und das ist ein ganz klares Zeichen von einer schweren Erkrankung der Wirtschaft. Denn das ist nicht auf die steigenden Rohstoffpreise zurückzuführen. Russland schwimmt ja regelrecht in Rohstoffen, und die Benzinpreise zum Beispiel bleiben niedrig – ein Liter kostet umgerechnet 70 Cent. Trotz niedrigen Energiepreise steigen alle anderen Preise.

Und wie wirken die Menschen auf Sie?

Ich bin an einem Samstagabend ausgegangen und durch eine der beliebtesten Ausgeh-Meilen von Moskau gegangen. Alles war voll, alle waren in Feierstimmung. Man spürt diese Einstellung: „Wir merken, es stimmt zwar irgendwas nicht, aber wir feiern trotzdem, wir wollen unser Leben weiterleben können.“ Vielleicht sogar allen Sanktionen zum Trotz oder sogar deshalb: Wer weiß, wie lange das noch geht. Was mich persönlich angeht, so fühle ich mich als westlicher Journalist nicht ausgeschlossen. Man spricht mit mir.

Apropos Sanktionen. Wie empfinden die Menschen die westlichen Sanktionen? Einige russische Politologen meinen, sie erreichen genau das Gegenteil davon, worauf sie zielen. Statt die Gesellschaft gegen das Regime einzustimmen, einigen sie die Menschen. Weil Russen die Sanktionen als Beleidigung verstehen.

Es gibt zwei Ansichten dazu. Einige meinen, der Westen – das sind die Bösen, sie attackieren uns. Die russische Regierung behauptet sogar, dass ein regelrechter Krieg gegen Russland geführt wird. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die sich fragen: Warum passiert uns das? Sie sehen schon die Zusammenhänge. Einer der zentralen Aussagen von Putin war, noch vor der „Spezialoperation“ – die Sanktionen kommen sowieso, egal was wir tun. Das war natürlich eine glatte Lüge

Sie waren nicht nur in Moskau, sondern sind in die Regionen gereist. Wie ist die Stimmung dort?

Ich war in der Stadt Pskow und im Pskower Gebiet. Pskow ist eine hübsche aufgeräumte Provinzstadt. Wenn man aber Pskow verlässt und 100 Kilometer weiterfährt, kommt man in eine sehr arme Gegend. Die Städte entvölkern sich buchstäblich, seit 1990 ist hier nicht gebaut worden. Kein Jugendclub, kein Restaurant – da ist gar nichts. Das ist schon ein scharfer Gegensatz zu Moskau. Und ich befürchte, dass sich diese Stagnation und wirtschaftliche Depression durch die Sanktionen noch verschlimmern. Interessant, dass Pskow nur eine knappe Autostunde von der estnischen Grenze entfernt liegt, also ist die EU ganz nah. Und man könnte meinen, die Menschen schauen in die Richtung, es gibt eine gewisse Nähe. Aber das ist überhaupt nicht der Fall: Sie leben im geschlossenen russischen Informationsraum.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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