„Geschichten über einen Alleinherrscher in Russland sind ein Mythos“Foto © Archiv E. Schulmann

„Geschichten über einen Alleinherrscher in Russland sind ein Mythos“

Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann im Gespräch mit russland.NEWS

Ekaterina Schulmann ist die bekannteste Politologin Russlands. Sie ist Mitglied des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten, schreibt regelmäßig für unabhängige Medien und hat ihre eigene Sendung beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy. Ihr YouTube-Kanal hat mehr als 100.000 Abonnenten. Im Interview mit russland.NEWS sprach Ekaterina Schulmann über das heutige politische System Russlands, über die Protestbewegung und über Wladimir Putin.

Frau Schulmann, eins von Ihren Fachgebieten als Politologin ist die Transformation der politischen Systeme. Sie nennen das heutige Herrschaftssystem in Russland „Hybridregime” oder “illiberale Demokratie”…

Ekaterina Schulmann: Den Begriff “illiberale Demokratie” von Fareed Zakaria verwende ich eher ungern. Die Definition Hybridregime ist insofern genauer, weil sie nicht bewertet. Der Nachteil dieses Konzeptes besteht allerdings darin, dass es irrtümlicherweise oft als eine Kombination von Autoritarismus und Demokratie verstanden wird.

Tatsächlich sind alle Hybridregime Autokratien. Gleichzeitig nutzen oder imitieren sie eine Reihe demokratischer Prozesse und Institutionen. Ihr Vorteil ist, dass diese Nachahmung sie flexibler macht. Das Abhalten von Wahlen, auch wenn sie formell sind, und das Mehrparteiensystem helfen diesen Systemen zu überleben. Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass Diktaturen und totalitäre Modelle auseinanderfallen.

Die neuen Autokratien sind dagegen sehr überlebensfähig. Die Ausbreitung hybrider Regime nannten einige politische Analysten sogar „autoritäre Renaissance“. Tatsächlich ist es ein Ergebnis der globalen Reduzierung von Gewalt und der Anhebung des Lebensstandards. Was man sich aus Sicht der repressiven Praktiken im 20. Jahrhundert noch erlauben konnte, ist in den letzten Jahrzehnten unmöglich geworden. Alle Regime sind jetzt sozusagen „vegetarischer“. Das rechtfertigt allerdings nicht diejenigen, die Menschen für ihre Meinungsäußerung ins Gefängnis stecken oder verfolgen. Diese Flexibilität macht die Hybridregime jedoch auch anfälliger für die Transformation.

Genau, denn die demokratischen Institute wie das Parlament oder das Wahlrecht sind ja schon vorhanden …

Ekaterina Schulmann: Wenn die Gesellschaft zu einem gewissen Grad politischer Reife heranwächst, wenn sich der wirtschaftliche Lebensstandard verbessert oder wenn die Fehler der politischen Führung zu einer Abnahme ihrer Popularität führen, sind solche hybriden Regime leichter zu demokratisieren. Und wenn der Prozess der Demokratisierung beginnt, braucht man die Strukturen nicht neu zu erschaffen. Es gibt also “schlafende” Institutionen, die aufwachen können. Und eine Gesellschaft, die die Gewohnheit der Bürgerbeteiligung verloren hat. Aber diese Teilnahme kann erlernt werden. Daher gibt es eine gewisse offene Möglichkeit zur Transformation.

Dann stelle ich Ihnen eine ganz simple Frage: im Vergleich zur Sowjetunion, ist das heutige politische System Russlands besser oder schlechter? Ist das „Hybridregime“ ein Schritt nach vorne?

Ekaterina Schulmann: Das sowjetische System war ungeheuerlich und der menschlichen Natur zuwider. Eine für Alle obligatorische Ideologie, das Fehlen des Privateigentums und geschlossene Grenzen – je mehr Zeit vergeht, desto mehr scheint es unwahrscheinlich, dass dieses System überhaupt existieren konnte.

Sie stellen eine simple Frage, ich gebe Ihnen eine simple Antwort: „Ja, alles, was uns von dem sowjetischen Regime trennt, ist ein Schritt in Richtung der Verbesserung.“ Die Gesellschaft ist seitdem unglaublich gewachsen. Unsere grundlegenden sozialen Indikatoren sind gesund und haben einen positiven Trend: eine höhere Lebenserwartung, eine geringere Anzahl von Gewaltverbrechen, Reduktion von Verkehrsunfällen und Suiziden sowie ein geringerer Alkoholkonsum. Im Vergleich zu 2002 hat sich die Gefängnisbevölkerung in Russland um die Hälfte verringert.

Wenn die Indikatoren für die soziale Gesundheit positiv sind und sich sogar verbessern, warum gibt es in der russischen Gesellschaft eine Unzufriedenheit mit der Situation im Land?

Ekaterina Schulmann: Genau deshalb. Wir verzeichneten 15 Jahre lang ein Wachstum der Realeinkommen. Aber in den letzten fünf Jahren beobachten wir einen Rückgang. Diese Situation spiegelt sich direkt in allen öffentlichen Stimmungen wider.

Der zweite Faktor, der diese Unzufriedenheit nährt, ist die bürgerliche Reife. Wenn die Menschen einen bestimmten Lebensstandard erreichen, wollen sie an Entscheidungsprozessen beteiligt werden. Dieser Prozess sollte nicht so primitiv verstanden werden, in dem Sinne, dass die Menschen sich erst sattessen und dann wählen wollen. Während alles in Ordnung war, sahen Viele nicht die Notwendigkeit der Teilnahme. Und 2018 stellten sie fest, dass sich Russlands Außen- und Innenpolitik im Lebensstandard widerspiegelt. Dieses Bewusstsein nimmt vorerst die Form von Besorgnis über lokale Probleme an. Und das ist auch gut so, denn die kommunale Ebene ist die Basisebene. So äußert sich ein grundlegender Anspruch auf Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Diejenigen, die sagen, dass dies kein politischer Protest sei, verstehen die Bedeutung des Wortes „politisch“ nicht.

Sie meinen die letzten Ereignisse in Jekaterinburg, wo Menschen gegen den geplanten Wiederaufbau einer Kirche protestierten, weil die Stadtregierung sie nicht um ihre Meinung gefragt hat?

Ekaterina Schulmann: Ähnliche Proteste gibt es fast in allen Großstädten Russlands. Übrigens, die Erfolgsquote ist viel höher, als man vermutet. Die lokalen Behörden geben oft nach, wenn sie mit Widerstand konfrontiert werden. In 75 Prozent der Fälle werden die Forderungen der Protestierenden (wenn es zum Beispiel um eine Erhöhung des Arbeitslohnes geht) erfüllt.

Sie vergleichen oft das russische politische System mit der Türkei. Ist es nicht eher mit der Ukraine zu vergleichen?

Ekaterina Schulmann: Schauen Sie sich den postsowjetischen Raum an. Er ist sehr vielfältig. Die baltischen Länder sind parlamentarische Demokratien, Kasachstan ist ein modernisierendes autoritäres Projekt und die Ukraine ist eine Anokratie, das heißt ein System mit einem schwachen Staat. Unsere Wege haben sich in den frühen 90er Jahren getrennt, und ich sehe keine Gemeinsamkeiten. Die Ukraine hat eine andere Wirtschaftsstruktur, eine andere Öffentlichkeit, eine andere Gesetzgebung (die Ukraine ist keine Präsidialrepublik), einen anderen Medienraum. Ja, wir verwenden das kyrillische Alphabet und haben Verwandte, natürlich beeinflussen wir uns irgendwie gegenseitig, aber unsere politischen Systeme sind in keiner Weise ähnlich.

Journalisten stellen Ihnen ständig Fragen zu Persönlichkeiten in der russischen Politik. Dies ist jedoch kein rein russisches Phänomen. Deutsche Medien diskutieren auch ständig nur über eine Personalie in Russland – über Putin. Was denkt er, was will er, muss man Angst vor ihm haben oder muss man keine Angst vor ihm haben …

Ekaterina Schulmann: Sie werden bald sehen, wie dieser Diskurs der Vergangenheit angehört, das Interesse nachlässt und das gesamte Thema nicht mehr relevant ist. Experten haben das schon lange verstanden. Geschichten über einen Alleinherrscher in Russland sind ein Mythos. Russland wird von einer kollektiven Bürokratie und Interessengruppen regiert.

Und der Präsident?                                                                              

Ekaterina Schulmann: Für die politische „Maschine“ hat der Präsident drei Funktionen. Er repräsentiert die externe Legitimität, also Russland außerhalb. Die politische Klasse glaubt, dass nur er mit dem Westen sprechen kann. Er tut dies ja seit zwanzig Jahren und hat Autorität. Er repräsentiert die interne Legitimität. Die Menschen kennen uns nicht oder hassen uns, aber ihn lieben sie, so ist die Logik der politischen Eliten. Und drittens, er hält das Gleichgewicht zwischen rivalisierenden Gruppen. Er ist der oberste Schiedsrichter und regelt Konflikte, um dieses große Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und damit keine Gruppe eine andere besiegen kann. Jede dieser Funktionen führt er bis jetzt aus. Es gibt jedoch auch Probleme mit jeder einzelnen.

Frau Schulmann, danke für das Interview.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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