Funktionieren die Sanktionen nicht? – ­ein Blick in die Geschichte  

Funktionieren die Sanktionen nicht? – ­ein Blick in die Geschichte  

Schon zu Beginn der in einen Krieg ausgebrochen „speziellen Militäroperation“ im Februar 2022 war Russland weltweit führend, was die Zahl der gegen das Land verhängten Sanktionen angeht. Nach Schätzungen des Atlantic Council haben westliche Staaten bis April 2023 mehr als 12.000 Restriktionen gegen Russland und seine Bürger verhängt. 

Die Sanktionen betreffen sowohl Einzelpersonen wie Beamte und Geschäftsleute, die für den Invasionsversuch mitverantwortlich gemacht werden, als auch ganze Unternehmen und Wirtschaftszweige. Zu den bemerkenswertesten Restriktionen gehören das Embargo und die Preisobergrenze für russische Öllieferungen, das Einfrieren der internationalen Guthaben der Zentralbank als „Garantie für die Entschädigung der Ukraine“ nach Kriegsende, der Trennung russischer Banken vom SWIFT-System und die Sperrung des EU-Luftraums für Flüge aus Russland. 

Nach der Einführung der allerersten Restriktionen sagten russische Experten einen Zusammenbruch der Wirtschaft voraus, vergleichbar mit der Krise der 1990er Jahre. Dies ist jedoch nicht eingetreten. So haben die Einnahmen aus dem Verkauf von Getreide und Bodenschätzen nach Angaben russischer Beamter alle Rekorde gebrochen. Premierminister Michail Mischustin zufolge erholt sich die Wirtschaft „zuversichtlich“. Westliche Staaten mussten sogar einige Sanktionen aufheben.

Haben die Wirtschaftsblockade, der Boykott russischer Produzenten, die Sanktionen gegen Personen und Unternehmen nicht funktioniert? Ohne im Detail auf die Auswirkungen der Sanktionen auf die russische Wirtschaft einzugehen, geht es unten um wirtschaftliche Restriktionen als politischen Mechanismus.  

Die Sanktionen erfunden haben die „alten Griechen“, als die Volksversammlung von Athen

den Bürgern der Stadt Megara im 5. Jahrhundert v. Chr. verbot, auf ihren Märkten zu handeln und Schiffe in ihre Häfen zu bringen. Damit zwangen die Athener die Megarer, ihr heiliges Land nicht mehr zu pflügen und keine entlaufenen Sklaven mehr aufzunehmen. Die Seeblockade von Megara führte zu den Peloponnesischen Kriegen, die 27 Jahre dauerten.

Natürlich gab es damals den Begriff „Sanktionen“ noch nicht. Aber diese Beschränkungen ähneln sehr den Maßnahmen, die Staaten heutzutage verhängen, um die politischen Entscheidungen anderer zu beeinflussen.  

Im Mittelalter waren in Westeuropa Repressalien das Gegenstück zu Sanktionen. Sie wurden den Kaufleuten der Länder auferlegt, mit denen man sich im Krieg befand, und zwar nach dem Prinzip der „kollektiven Verantwortung“. Man ging davon aus, dass sich die Kaufleute schuldig gemacht hatten, weil sie im kriegführenden Land ansässig waren, und dass sie deshalb finanziell bestraft werden konnten. 

Im Zuge der industriellen Revolution und der Industrialisierung wurden die internationalen Handelsbeziehungen immer enger. Die Isolation schränkte die Entwicklung der Volkswirtschaften ein – und machte die Länder ärmer. Embargos als Konzept und Druckmittel entstanden genau zu dieser Zeit und wurden aktiv eingesetzt, um politische und wirtschaftliche Veränderungen zu erreichen. 

Während des amerikanischen Bürgerkriegs beschlossen beispielsweise die Nordstaaten, die für die Abschaffung der Sklaverei eintraten, keine Baumwolle von den Südstaaten zu kaufen, die auf ihren Plantagen Sklavenarbeit einsetzten. Der Boykott bestimmter Waren und Produzenten ist eine seit langem bekannte Methode des gewaltlosen Widerstands innerhalb von Staaten. Von Sanktionen spricht man, wenn Staaten selbst solche Praktiken übernehmen und den Boykott zu einem Instrument der internationalen Politik machen.

Sanktionen, wie wir sie kennen, kamen erst im Ersten Weltkrieg zum Einsatz.  

 Die Entente-Staaten beschränkten die Eisenlieferungen an ihre Feinde, blockierten gegnerische Schifffahrtswege und verhängten Embargos für Lebensmittel und Haushaltswaren, um die militärische Aufrüstung Deutschlands und Österreich-Ungarns zu verhindern.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gründeten die siegreichen Länder den Völkerbund. Man ging davon aus, dass es den Ländern mit Hilfe dieser internationalen Institution leichter fallen würde, sich auf eine Strategie der Wirtschaftsblockade gegen den Aggressor und die gleichzeitige Verhängung von Sanktionen gegen ihn zu einigen und die Folgen der Sanktionspolitik für die eigene Wirtschaft zu bekämpfen.

Diese Mechanismen erwiesen sich jedoch nur gegenüber Ländern mit schwacher Wirtschaft als wirksam. So konnte der Völkerbund beispielsweise die jugoslawische Invasion in Albanien verhindern und den griechischen Diktator Theodoros Pangalos von der Invasion in Bulgarien abhalten. Als der Völkerbund jedoch Sanktionen gegen stärkere Volkswirtschaften (Italien, Portugal und Spanien) verhängte, wurden die Ziele nicht erreicht. Die autoritären Führer wollten ihre Politik nicht ändern und waren stattdessen dabei, die Wirtschaft wieder aufzubauen. Sie wurde unabhängiger von anderen Staaten. All dies hat das Regime nur gestärkt.

Vor einem Jahrhundert waren die Gründer des Völkerbundes davon überzeugt, dass entweder wirtschaftliche Beschränkungen oder eine militärische Invasion eines Landes dazu beitragen würden, einen Aggressor zu einer Änderung seiner Politik zu zwingen. Sanktionen wurden als Alternative zu Letzterem geschaffen. Und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. 

Die EU und die USA können aus verschiedenen Gründen nicht offen in den Krieg gegen Russland ziehen. Daher greifen die westlichen Länder zu anderen Maßnahmen: Sie beliefern die Ukraine mit militärischer Ausrüstung, versuchen aber auch, Russlands wirtschaftliche Ressourcen zu schmälern und der Elite Beschränkungen aufzuerlegen, in der Hoffnung, das Regime zu schwächen.

Wenn eine militärische Konfrontation vermieden werden soll und eine Bestrafung des Aggressors notwendig ist, müssen die Länder, die Sanktionen einführen, ihre internationale Zusammenarbeit und in einigen Fällen auch ihre Innenpolitik ändern. 

Experten zufolge ist eine Wirtschaftsblockade wirksamer, wenn sie sich auf die Partner der Länder auswirkt, durch die die Regierungen die Sanktionen umgehen können. Dies führt zwar zu einer Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Staaten, aber ansonsten bekommt der Aggressor nicht alle Folgen der Beschränkungen zu spüren. 

Ein weiterer schmerzhafter Schritt für den Verursacher von Sanktionen ist die Änderung seiner eigenen Gesetze. Einige Personen, die persönlichen Beschränkungen unterliegen, können die Schlupflöcher und die Undurchsichtigkeit der Gesetzgebung der Länder, die diese Sanktionen verhängen, ausnutzen und ihr (oft illegal erworbenes) Vermögen weiterhin im Ausland verstecken. Infolgedessen fühlen sich die Eliten nicht in ihrem Kapital bedroht, während die Opposition den Ländern, die Sanktionen verhängen, „Doppelmoral“ und „Heuchelei“ vorwirft. 

Richard Nephew, ein Sanktionsforscher an der Columbia University, schreibt, dass Sanktionen als erfolgreich angesehen werden können, wenn das Zielland ernsthafte Verluste erleidet (sowohl wirtschaftlich als auch politisch) und wenn die Ziele erreicht werden.

Staaten verhängen Sanktionen aus verschiedenen Gründen. Sie versuchen, die Stabilität des politischen Regimes und die wirtschaftliche Stabilität des Landes zu beeinflussen und Konflikte zwischen den Eliten zu schüren. Nach Woodrow Wilson, einem der Initiatoren des Völkerbundes, üben Sanktionen auch psychologischen Druck auf die Bürger des Staates aus, gegen den diese Beschränkungen verhängt werden. Es ist moralisch schwierig, sich von der Außenwelt isoliert zu fühlen. 

Vor allem aber sind Sanktionen eine Alternative zur militärischen Aggression in einer Situation, in der es nicht möglich ist, einen Konflikt offen auszutragen, sondern es notwendig ist, auf die Handlungen eines Landes zu reagieren, das sich „unfreundlich“ verhält. 

Die Befürworter von Sanktionen sind der Meinung, dass persönliche Einschränkungen (Beschlagnahmung von Eigentum, Konten, Verlust von Geschäftspartnern) den Autokraten und die Eliten, die ihn unterstützen, am härtesten treffen. Wenn die Eliten Kapital oder Einfluss verlieren, hören sie theoretisch auf, den Machthaber zu unterstützen. Und die Bevölkerung, die aufgrund der Sanktionen verarmt ist, protestiert und weigert sich, dem Staatsoberhaupt zu vertrauen, das ihr kein anständiges Leben bieten kann. In  den meisten Fällen Fällen die Unzufriedenheit der Eliten und die Massenproteste zu einem Regimewechsel oder zumindest zu einer Änderung der Außen- und Innenpolitik. Das ist genau das, was die Befürworter von Sanktionen anstreben.

 Sanktionsforscher gehen davon aus, dass nicht nur die Restriktionen selbst wirksam sein können, sondern auch die bloße Androhung von Sanktionen. Viele Autokratien kalkulieren eine solche Drohung im Voraus ein und ändern ihre Politik entsprechend. Nach Angaben von Wissenschaftlern geschieht dies jedoch nur in 30 Prozent der Fälle. Ein Beispiel dafür ist die Weigerung der USA, Spanien 1940 Öl zu verkaufen, als Diktator Franco sich entschied, neutral zu bleiben, anstatt im Bündnis mit Hitler und Mussolini in den Zweiten Weltkrieg einzutreten.  

In den meisten Fällen werden sich autoritäre Regime an Sanktionen und internationale Isolation anpassen. Die Wahrscheinlichkeit einer Demokratisierung in Autokratien, die Sanktionen ausgesetzt sind, sinkt deutlich (um 7 bis 16 Prozent pro Jahr), und je länger ein Land unter Sanktionen steht, desto mehr wird das Regime gestrafft.

Entgegen den Erwartungen werden sich die Eliten, die keinen Zugang zu den globalen Finanzmärkten haben, eher um den Autokraten scharen, als sich gegen ihn zu stellen. Zudem werden die Eliten selbst weniger unter den Sanktionen leiden als normale Bürger, da sie mehr Möglichkeiten haben, ihr Kapital in Sicherheit zu bringen. 

Die Verarmung der Bevölkerung infolge der verhängten Sanktionen wiederum wird den Propagandisten einen Vorwand liefern, den „kollektiven Westen“ für das Geschehene verantwortlich zu machen, Ressentiments und revanchistische Stimmungen zu verstärken und im Gegenteil die Unterstützung für die „starke Hand“ zu erhöhen. Dabei geht es nicht einmal darum, dass die Menschen von patriotischen Gefühlen erfasst werden, sondern dass die Rolle des Staates in der sanktionierten Wirtschaft wächst, was bedeutet, dass mehr Menschen von den Maßnahmen der Behörden abhängig sind.

Die finanziellen Schwierigkeiten der Länder, die Sanktionen verhängen, können in einigen Fällen von Populisten ausgenutzt werden, um ihre Machtposition zu stärken.

Wissenschaftler stellen fest, dass aufstrebende Volkswirtschaften am stärksten von Sanktionen betroffen sind, da sie in hohem Maße von ausländischen Investitionen, Technologie und Ausrüstung abhängig sind. 

Einige Wissenschaftler schreiben schreiben, dass der Schaden für die Wirtschaft eines sanktionierten Landes und die hohe Zahl ziviler Opfer langfristig mit den Auswirkungen eines echten Zermürbungskrieges vergleichbar sind. Die ärmsten Bevölkerungsschichten leiden am meisten – ihnen wird der Zugang zu guter Medizin und Bildung verwehrt. Und Sanktionen verstärken die Ungleichheit. 

Bevor also die Frage beantwortet werden kann, ob Sanktionen funktionieren, muss geklärt werden, was „funktionieren“ bedeutet. Wenn das Ziel ist, den Aggressor zu stoppen und zu bestrafen, dann wahrscheinlich nicht, vor allem wenn der Aggressor groß und reich ist. Wenn es das Ziel ist, einem Land mehr Entbehrung zuzufügen, dann können Sanktionen sehr effektiv sein.

Und wer sich fragt, ob die Sanktionen gegen Russland funktionieren, erinnert vielleicht die Worte des russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu kurz vor Kriegsausbruch, als ihm der britische Außenminister Ben Wallace Sanktionen androhte: „Die Russen wissen wie kein anderer zu leiden.“

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