Für einen Tag hieß Wolgograd wieder Stalingrad

Aus Anlass des 75. Jahrestages des Sieges der roten Armee in der Stalingrader Schlacht sprach der Oberbürgermeister von Wolgograd, Andrej Kossolapow, mit russland.NEWS über die Bedeutung dieses geschichtlichen Ereignisses, über die Fußball-WM und die moderne Millionenstadt im Süden Russlands.

 

 

Der Sieg der Roten Armee in der kriegsentscheidenden Stalingrader Schlacht liegt nun 75 Jahre zurück. Welche Bedeutung hat dieser Jahrestag für Sie persönlich?

Für mich, wie für jeden Wolgograder und wohl für jeden Einwohner unseres Landes, hat der Sieg in der Stalingrader Schlacht über die faschistische Armee eine ganz besondere Bedeutung. Denn in jeder Familie gibt es Angehörige, die an dem Kampf gegen die Hitler-Streitkräfte teilgenommen haben, verwundet wurden oder gefallen sind. Vor ihnen verneigen wir uns besonders an diesem Tag.

Mein Großvater ging gleich zu Beginn des Krieges an die Front. Er wurde schwer verwundet und starb in den 50er Jahren. Sein Bild ist in unserer Familie eine Reliquie und ich trage es mit Stolz beim Zug des Regiments der Unsterblichen. Als Kind habe ich mit Vorliebe Filme gesehen und Bücher gelesen über unsere Helden im Großen Vaterländischen Krieg und mich gefragt: Wie hätte ich gehandelt, hätte ich all diese Strapazen und Entbehrungen ausgehalten? Heute, als Stadtoberhaupt, treffe ich mich gern mit den Kriegsveteranen – lebendigen Zeugen jener Zeit. Das ist wirklich eine einzigartige Generation, die Widerstand geleistet und gesiegt hat. Für uns Jüngere sind diese Helden das größte Vorbild.

Wie bewerten Sie, angesichts von Sanktionen und politischen Spannungen, die Teilnahme der doch recht zahlreichen ausländischen Gäste an den Feierlichkeiten am 2. Februar?

 

Ich habe mich sehr gefreut, dass Delegationen aus 15 Ländern des nahen und fernen Auslands aus diesem Anlass nach Wolgograd gekommen sind, darunter Vertreter von Partnerstädten, wie Coventry, mit dem Stalingrad noch während des Krieges, im Jahre1944, die allererste Städtepartnerschaft weltweit geschlossen und damit diese Bewegung begründet hat. Ganz besonders habe ich mich über die zahlreichen Teilnehmer aus Deutschland gefreut, den deutschen Botschafter Rüdiger von Fritsch, die Vertreter des Volksbundes der Kriegsgräberfürsorge, den langjährigen Freund Wolgograds und Initiator für die Errichtung der Friedenskapelle auf dem Soldatenfriedhof Rossoschka und anderer Projekte. Auch Vertreter der  Partnerstädte Chemnitz, geleitet von der Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig und Köln mit Bürgermeister Dr. Stephan Keller machten mit ihrer Teilnahme die enge Verbundenheit mit Wolgograd deutlich.

Eine herzliche Begrüßung gab es mit der  Delegation der Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag, auf deren Einladung ich im April letzten Jahres im Parlament in Berlin sprechen konnte.

Sie alle haben mir bestätigt, wie wichtig es ihnen ist, an solch einem Tag ihre Verbundenheit mit unserer Stadt und unserem Land zu zeigen.

Im Zusammenhang mit dem Jahrestag des Sieges haben unter anderem der Präsidentschaftskandidat der Liberalen, Wladimir Shirinowski, und der Chef der Kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, eine Rück-Umbenennung Wolgograds in Stalingrad  vorgeschlagen. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Diese Diskussion ist nicht neu und wird insbesondere vor Jahrestagen oder Wahlen immer wieder belebt. Wir haben in den vergangenen Jahren mehrere Umfragen dazu durchgeführt und es zeigte sich, dass jeweils nur etwa 25 Prozent der Bevölkerung für einen solchen Namenswechsel sind. Im Jahre 2012 hat die Stadt-Duma eine Regelung beschlossen, wonach Wolgograd zu bestimmten Gedenktagen, wie dem 2. Februar, dem Tag des Sieges in der Stalingrader Schlacht oder dem 9. Mai, dem Tag des Sieges über Hitler-Deutschland, öffentlich die Bezeichnung Stalingrad führen darf. Eine generelle Umbenennung bedürfte eines Referendums und wäre mit sehr großen finanziellen Aufwendungen verbunden.

Aber zumindest hat der Gouverneur des Wolgograder Gebietes seine Zustimmung gegeben, dass der Wolgograder Flughafen nach seiner Sanierung den Namen „Stalingrad“ erhält.

Wolgograd ist heute eine Millionenstadt mit umfangreicher Industrie und Landwirtschaft. Wir haben Sie die Krise der letzten Jahre überstanden und welchen Einfluss haben die westlichen Sanktionen?

Um mit dem Letzten zu beginnen: Die Sanktionen haben uns eigentlich nur recht wenig beeinflusst. Betroffen waren vor allem Banken und Unternehmen, die Geschäfte mit Valuta machten.

Im Gegenteil, es gab nach einer Phase der Orientierung eine wirtschaftliche Dynamik, die allerdings durch die hausgemachte Krise gebremst wurde. Heute geht es wieder spürbar aufwärts. So lag im vergangenen Jahr der Zuwachs der Wolgograder Industrieproduktion bei 102,0 Prozent, während es im Landesdurchschnitt 100,2 Prozent waren. Bei der verarbeitenden Industrie legten vor allem die Fahrzeugbauer und die Papierhersteller in den letzten zwei Jahren um immerhin zwei Drittel zu, die Produktion von eigenen Autobussen stieg um mehr als die Hälfte.

Ganz besonders stolz sind wir auf unsere Landwirtschaft, die 2017 nicht nur den eigenen Bedarf und den anderer Regionen an Getreide decken konnte, sondern auch den Export um 15 Prozent steigerte. Damit diese Entwicklung weitergeht, erhalten Wolgograder Bauern vergünstigte Kleinkredite im Gesamtumfang von 2,8 Milliarden Rubel. Das ist rund eine Milliarde mehr als im vergangenen Jahr. Das ist vor allem für unsere vielen kleinen Landwirtschaftsbetriebe sehr wichtig, deren Obst- und Gemüseerzeugnisse im In- und Ausland sehr gefragt sind und von den Händlern oft gleich auf dem Feld gekauft werden.

Aufgestockt wurden auch die finanziellen Unterstützungen für junge Familien und auch das Durchschnittseinkommen ist inzwischen auf rund 30 000 Rubel gestiegen.

Wolgograd ist Austragungsort bei der Fußball-Weltmeisterschaft in diesem Sommer. Wie ist der Stand der Vorbereitungen?

Wir freuen uns schon auf die Fußball-Fans aus aller Welt und die Wolgograder tun alles, um ihnen unvergessliche Tage zu bereiten. Die neuen Flughafen-Terminals stehen kurz vor ihrer Vollendung, es entstanden neue Hotels, Straßen wurden  repariert und natürlich wurde unser Stadion grundlegend umgebaut. Es wird am 9. Mai mit dem Endspiel um den nationalen Pokal eingeweiht. Am Tag zuvor wird es  übrigens, auf Anregung unseres Freundes Christian Holtz und mit der Unterstützung der Regierungen beider Länder im Zenit-Stadion ein Jugend-Länderspiel zwischen Russland und Deutschland geben.

Wie gewährleisten Sie die Sicherheit für Bewohner und Besucher der Stadt in diesen Tagen?

Das ist eine ganz wichtige Frage und auch hier tun wir eine Menge. Da die meisten Fußballfreunde wohl mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen und deshalb zu Fuß in der Stadt unterwegs sind, werden im Zentrum viele Straßen für den Autoverkehr gesperrt und zu Fußgängerzonen erklärt. Bei der Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit in der Stadt unterstützen uns viele Wolgograder als freiwillige Lotsen und auch Polizisten aus anderen Regionen. Das wird für unsere Einwohner ein ungewohntes Bild, denn normalerweise ist die Präsenz von Sicherheitskräften auf den Straßen auf ein Minimum begrenzt. Wolgograd ist eine der sichersten Städte Russlands und vielleicht Europas. Bei uns wohnen Angehörigen von 140 Nationalitäten friedlich miteinander. In der Schule lernen die Kinder die Kultur der verschiedenen Volksgruppen kennen und entwickeln so Verständnis für einander. Als ein Ergebnis dieses Miteinanders können sich Bewohner wie Gäste können zu jeder Tages- und Nachtzeit ohne jede Furcht durch die Stadt bewegen.

Ein solcher Überfall, wie ich ihn Paris erlebt habe, sind bei uns ausgeschlossen. Dort wurde ich eines Abends von einer Gruppe juger Männer angegriffen, die es auf mein Mobiltelefon abgesehen hatten. Am nächsten Tag stand in der Zeitung: Der Wolgograder Oberbürgermeister wurde gestern im Zentrum von Paris überfallen.  Zwei der Angreifer konnten festgenommen werden, es gab zwei Verletzte. Der Oberbürgermeiste konnte seinen Arbeitsbesuch unverletzt fortsetzen.

Das ist bei einer Körpergröße von fast zwei Metern und einer sportlichen Statur nicht verwunderlich. Ist Ihre im wörtlichen Sinn herausragende Persönlichkeit ein Grund für Ihre Popularität in der Stadt?

Eher nicht. Im Gegenteil, Ich bemühe mich, den Menschen das Gefühl zu geben, dass ich einer von ihnen bin, dass ich mich um ihr Wohl und auch um ihre Probleme kümmere. Sie bekommen von mir ehrliche Antworten auf ihre Fragen. In diesem Sinne wurde ich von meinen Eltern erzogen. Ich hasse zwei Dinge: Überheblichkeit und Verrat. Als Lehrer, Basketball-Leistungssportler, Manager in der Wirtschaft und nun seit über vier Jahren als Oberbürgermeister waren und sind für mich solche Eigenschaften, wie Bescheidenheit, Zielstrebigkeit, Kompetenz und Willenskraft wichtige Eigenschaften, die ich auch meinen vier Kindern zu vermitteln versuche. Bei meiner Tochter Walentina, die Jugend-Europameisterin im Dreisprung geworden ist, scheint das schon funktioniert zu haben.

Ende Oktober findet in Wolgograd das nun schon traditionelle Forum „Dialog an der Wolga“statt, an dem Experten aus allen gesellschaftlichen Bereichen darüber sprechen, wie das gegenseitige Verstehen entwickelt werden kann. Um welche Themen geht es diesmal?

Der „Dialog an der Wolga“ ist inzwischen zu einer guten Tradition geworden. Die erste Veranstaltung fand vor vier Jahren statt, als wir Vertreter unserer Partnerstädte zu einem Meinungsaustausch über aktuelle Themen einluden. Dabei ging es auch darum, wie nach den vom Westen gegen Russland verhängten Sanktionen unsere Zusammenarbeit weitergeführt werden kann. Inzwischen ist aus dem Treffen im kleinen Kreis ein großes Forum geworden. In diesem Herbst werden wir gemeinsam mit der Internationalen Vereinigung der Städte und Gemeinden eine Konferenz veranstalten, die sich vor allem mit Projekten und Perspektiven für die Zusammenarbeit in Kultur, Wissenschaft, Sport, Tourismus beschäftigen wird.

Es ist mein Ziel, Wolgograd zu einem Zentrum dieser so genannten Volksdemokratie unterhalb der Regierungsebene zu machen, wo wir mit unseren Möglichkeiten für Frieden und Völkerverständigung eintreten. Dafür ist unsere Stadt mit den Erfahrungen aus ihrer jüngeren Geschichte wie kaum ein zweiter Ort geeignet.

hh/russland.news

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