Fritz Pleitgen über Russland und den Westen: Ich bin gegen jede Gefühlsduselei

„Hütet euch vor alten Männern, denn sie haben nichts mehr zu verlieren“, hat George Bernard Shaw gesagt. Der langjährige Moskauer ARD-Korrespondent und ehemaliger Intendant des Westdeutschen Rundfunks, Fritz Pleitgen, ist so ein Mann. Wenn er über Russland redet – wie jüngst vor dem Deutsch-Russischen Wirtschaftsclub in Düsseldorfnimmt er kein Blatt vor den Mund. Er habe eben eine andere Sicht auf die Dinge. Auch mit dem russischen Dichter Tjuttschew, von dem der inzwischen abgedroschene Satz stammt, „mit dem Verstand ist Russland nicht zu fassen“, ist er gar nicht einer Meinung.

Ganz im Gegenteil, man müsse seinen Verstand einsetzen, um Russland zu verstehen. Pleitgen habe etwas gegen diese „Gefühlsduselei“. Denn in guten Zeiten spricht man gerne über die russische Seele, und in schlechten schlägt das in Ressentiments über. Man müsse sich Mühe geben, die Welt aus der Perspektive des Anderen zu sehen. Denn die Welt sieht aus Berlin etwas anders aus als aus Moskau. „Ich bin dagegen, wenn wir sagen, wir sind das Maß aller Dinge“. Russland ist eben anders, und damit muss sich der Westen abfinden. Diese Botschaft versucht Pleitgen überall zu verbreiten, wo er auftritt.  Die Geschichte des Landes, seine Religion, Kultur und sogar die Verfassung unterscheiden sich von den westlichen.

Deswegen ist es „müßig, Russland mit unserer Elle zu messen, das ist Amateuraußenpolitik“.

In atemberauenden Tempo skizziert Fritz Pleitgen die Geschichte der Beziehungen zwischen Russland und Westeuropa.  Die beste Epoche war die Zeit der Hanse, davon ist der Journalist überzeugt. Er ist sowieso ein großer Anhänger von intensiven Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Ländern, die oft den politischen Beziehungen vorausgehen. Aber es gab auch viele Kriege, die vom Westen ausgetragen worden sind. „Mongolen, Schweden, Polen, Türken, Engländer, Franzosen und zuletzt Deutschland unter den Nazis haben Russland angegriffen“, ruft Pleitgen in Erinnerung. Deswegen ist die Bedrohung von außen ein wichtiges Thema in der russischen Geschichte. Bis heute sind die großen Feiertage in Russland Gedenktage, die auf Siege gegen die Aggression von außen zurückgehen.

Die einmalige Chance, mit Russland eine ausgewogene Beziehung aufzubauen hat man nach dem Zerfall der Sowjetunion verpasst, stellt Pleitgen fest. Der Journalist wirft dem Westen vor, Russland keine Zeit gegeben zu haben, sich nach der Umbruchzeit des Zerfalls der Sowjetunion zu erholen. Er war damals in Russland und hat diese Zeit hautnah erlebt: „Es herrschte eine galoppierende Rechtslosigkeit, und die ganze Bevölkerung wurde durch den Wolf gedreht“. Der Westen habe ein schlechtes Kurzgedächtnis: es war Moskau, das die Wiedervereinigung Deutschland ermöglichte. Auch an die Friedensrede von Putin, die er im Jahre 2001 im Bundestag auf Deutsch gehalten hat, erinnert sich heute keiner mehr. Die sollte man immer wieder nachlesen, rät Pleitgen. Denn Putin hat damals vom „europäischen Haus“ und von der „gemeinsamen Sicherheit in Europa“ gesprochen. Der russische Präsident erhielt zwar damals Standing Ovations, wirklich überzeugende Angebote kamen von der westlichen Seite aber nicht.

Das Raketenabwehrsystem in Polen, Pläne über den Eintritt von Georgien und der Ukraine in die NATO, deutsche Soldaten im Baltikum, also in der unmittelbaren Näher der russischen Grenze, Sanktionen – das alles bringt das Gleichgewicht ins Wanken. Und nichts ist vom Traum Putins von damals übriggeblieben, stellt Pleitgen resigniert fest: „Die Osterweiterung der NATO ist eine klare Ansage an Russland. Der Westen ist überall vorgerückt und ist sozusagen einige Kilometer von Petersburg entfernt. Und das sind keine Fake News, sondern Realität“.

Man darf nicht vergessen, dass Russlands Wappentier ein Bär ist. Und das ist ein Raubtier, erinnert Pleitgen. „Wenn man den Sicherheitsabstand überschreitet, kann dieses Tier sehr gefährlich werden. Mit dem Assoziierungsabkommen mit der Ukraine haben wir die Bärenhölle betreten“, warnt Pleitgen. Hatte die Ukraine nicht das Recht, in die EU zu wollen? Natürlich, aber die EU hätte auch entsprechend mit der Berücksichtigung der Interessen Russlands reagieren können. Man kann nicht so tun, als wäre das ein rein wirtschaftlicher Vertrag. Das ist ein Bündnisvertrag. Man wirft Russland immer vor, Einflusssphärenpolitik zu betreiben. Aber genau das tat die EU mit der Ukraine, weiß Pleitgen.

Mit den Sanktionen kann Pleitgen nichts anfangen: „Sie haben bis jetzt nur für schlechtes Klima gesorgt. Welches Ziel haben die Sanktionen? Möchte man den Führungswechsel in Moskau erreichen? Libyen, Irak und Syrien haben bewiesen, dass es nur nach hinten losgehen kann. Und man wird nicht erleben, dass Putin in die Knie geht und den Westen um Gnade anfleht.“

Auf die deutschen Medien angesprochen meinte Pleitgen, er fühle sich da wohl, weil er seine Meinung äußern kann. Aber ihn erstaunt schon die „Homogenität der veröffentlichten Meinungen mit der Regierungsmeinung“. Zu seiner Zeit war es deutlich anders.

Kann man Moskau trauen, wollten die Zuhörer wissen. „Ja, allerdings. Kann Moskau dem Westen trauen? Das muss Moskau für sich beantworten. Die Zeit der gegenseitigen Vorwürfe muss endlich vorbei sein. Russland ist mit seinen Rohstoffen und einem riesigen Markt ein fast idealer Handelspartner für den Westen. Es muss nur jemand den Mut besitzen und sagen, wir müssen einen neuen Anlauf in der Europapolitik gegenüber Russland nehmen. Aber es fehlen große Persönlichkeiten.“

Auch über das Engagement Gerhard Schröders beim russischen Energieriesen Rosneft hat Pleitgen eine vom Mainstream unterschiedliche Meinung. „Warum darf er das nicht tun? Ist Russland etwa unser Feind? Wenn ich Schröder wäre, würde ich diese Aufgabe sofort annehmen. Das ist ein Konzern, der weltweit agiert und ganz nah am russischen Präsidenten ist, man kann also Gesprächskanäle aufbauen. Und das ist wirklich dringend notwendig.“

Denn das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland muss verbessert werden.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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