Freiheit statt Demokratie. Russlands Weg und die Illusion des Westens

Der Titel des Buches von  Thomas Fasbender lässt vermuten, dass es sich schon wieder um ein polemisches Werk eines Russlandvestehers handelt, in dem solche Themen wie Ukraine-Krise oder NATO-Erweiterung diskutiert werden. Doch was der Autor uns vorlegt, ist viel mehr, als eine Stellungnahme zu aktuellen politischen Ereignissen. Fasbenders Buch ist eher ein philosophisches Essay, das die These vertritt: „Russland will den Weg des Westens nicht gehen. Und es wird ihn nicht gehen“. Auch Bücher, die die Frage aufwerfen, „Wann wird man endlich dieses Russland verstehen?“ gibt es genug auf dem deutschen Büchermarkt. Aber der Text von Thomas Fasbender ist anders. Obwohl der Ratschlag des Autors lautet: „In Russland keine Fragen stellen, die mit „warum“ beginnen“, schafft er es auf mehr als 300 Seiten die Frage zu beantworten, warum Russland so anders ist und „die fixe Idee einer Sonderstellung, das Bewusstsein des Andersseins“ hat. Dabei stellt er nicht nur seine fundierten Geschichts- und perfekte Russischkenntnisse unter Beweis, sondern sticht durch eine besondere Eleganz seines Erzählstils.  Thomas Fasbenders Sprache ist beinahe eines Dichters, und  er kümmert sich wenig darum, ob seine Überlegungen und Erklärungen in den Mainstream  passen oder nicht. Es ist ein persönliches Buch, geschrieben mit Herz und Verstand.

In diesem Sinne ist sein Buch sehr russisch: es hat scheinbar keine klare Struktur. Der Autor lässt sich von seinen Gedanken treiben. Aber eben dieses Collagenhafte macht „Freiheit statt Demokratie“ zu einer spannenden Lektüre: man weiß nie, wohin der Autor uns mit seiner Erzählung bringt. Mal entwirft er eine kurze Skizze der russischen Geschichte, um festzustellen: „In Rückschau auf die Jahrhunderte begreifen wir vieles von dem, was uns heute fremd erscheint, viel von den Entscheidungen der Zaren, der Sowjetführer  und der Präsidenten des neuen Russlands“. Mal nimmt er uns mit in eine Moskauer Sauna (pardon, natürlich heißt es im Russischen Banja!) mit, wo wir ganz verschiedene Russen kennenlernen, sehr viel über die russische Badekultur  erfahren („Zu einer deutschen Kurortsauna verhält die russische Banja sich wie Sibirien zum Schwabenland. Darin liegt ihr großer Reiz“) und wie zufällig  einiges über russisches Leben entdecken („Das Denken ist archaischer als in Westeuropa: Ein Mann verdient sich Respekt in den Auseinandersetzungen, ob mit einem Gegner oder einer Versuchung“). Das Kapitel heißt dabei „Die russische Seele“.

Die Begegnung mit einem Verkehrspolizisten auf einer einsamen Straße wird für Fasbender zu einem Auslöser, um den ganzen Ausmaß des ewigen russischen Übels – der Korruption – fast plastisch darzustellen: „Die Korruption ist ein Kontinium der russischen Geschichte und Gesellschaft. Wie ein Brandwurm im Darm des Patienten senkt sie den Wirkungsgrad, aber sie ist kein Krebsgeschwür, das zum Tode führt.“ Der bestechliche Polizist entpuppt sich dabei  als ein sentimentaler junger Mann, der das Schwarzweißfoto seines Großvaters  in seiner Brieftasche trägt: sein Opa war Offizier der Roten Armee und ist im Zweiten Weltkrieg  bis nach Berlin marschiert. Sein Enkel dagegen ist kein Held: „Vielleicht hat sein Großvater sich niemals kaufen lassen. Dann treffen sich unsere Augen, und wir lesen in denen des anderen, dass wir beide keine Helden sind“.  Fasbender urteilt nicht, sondern zeigt das Leben so, wie es in Russland ist: „Es ist schon kein leichtes Leben“.

Wenn er über die russische Küche schreibt („Pelmini, Plow und Chatschpuri“), läuft einem das Wasser im Mund zusammen. Man hat das Gefühl, dabei gewesen zu sein, wenn sein Freund Wolodja die „Königin der Suppen“ – Ucha aus frisch gefangenen Fischen auf einem Lagefeuer auf einer  einsamen Insel zubereitet. Wenn Thomas Fasbender sich auf einen Spazierganz durch Moskauer Gassen begibt, möchte man sich sofort zu ihm gesellen, so faszinierend ist sein Moskau: „Moskau ist kein Weib, das jedem zu gefallen ist. Wen die Stadt kaltlässt, der darf sich auf den Heimflug freuen. Andere, Einheimische und Zugereisten, Inländer und Ausländer gleichermaßen, kommen nicht los von der riesigen, lauten, unordentlichen und grandios hässlichen Metropole“. Aber auch dieser Spaziergang ist nur ein Vorwand, um sich auf die Spuren der russischen Geschichte, des russischen Geistes zu begeben.

Wir erfahren viel über die Verbundenheit der Deutschen und der Russen, aber auch über fast unüberwindbare Unterschiede in den Mentalität der beiden Völker: „Während Luther den Menschen zerknirscht, aber selbstbewusst vor Gottes Angesichts stellt, betet das russische Mütterchen demütig vor der Ikone eines heiligen Vermittlers“.  Wir lesen über Russland der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts, über die Bedeutung von Moskau für die Russen und über Alexander Solzenizin. Jedes einzelne Kapitel ist im Grunde genommen ein literarisches Essay, das man für sich lesen kann. Doch zusammen entfalten sie vor dem Leser ein vielseitiges und widersprüchliches Bild von einer fremden Welt – von Russland und den Russen, um dann auf die Frage einzugehen: „Ist Russland also nicht Europa?“ Thomas Fasbender, Russlands Kenner und Liebhaber, hat eine Antwort: „Russland verkörpert (…) das konservative, traditionelle, ständische Europa, das einstmals so genannte christliche Abendland. Wer das als „rückständig“ abtut,  macht es sich gefährlich leicht. (…) Welches der beiden Europas in hundert Jahren noch übrig ist, das werden unsere Urenkel erleben. Totgesagte können erstaunlich lebensfähig sein“.

Daria Boll-Palievskaya

COMMENTS