Literaturessay von Hanns-Martin Wietek
Kindheit und Jugend sind bekanntlich die prägendsten Zeiten im Leben eines Menschen. Diese und die ersten Jahre seiner Schriftstellerzeit werden im ersten Teil des Essays anhand wichtiger Ereignisse geschildert.
Zur Welt kam Fëdor Michajlovič Dostoevskij vor 200 Jahren, am 30. Oktober jul/11. November greg 1821, in einem Armenhospital am Rande von Moskau, wo sein Vater Michajl Andreevič leitender Arzt war. Er war ein sehr angesehener Arzt, erhielt für seine Verdienste einen Orden und wurde 1830 mitsamt seinen Söhnen in das Buch des Moskauer Erbadels eingetragen – eine zu dieser Zeit nicht unwichtige soziale „Beförderung“. Privat aber war er weniger vollkommen, ein jähzorniger, geiziger, ehrgeiziger und vor allem verschlossener Despot, der die Familie mit militärischem Drill und der strengen Forderung nach Disziplin beherrschte; von Zuwendung, gar von Liebe – keine Spur.
Typisch für Fëdor Michajlovič – und für viele, die eine solche Kindheit mitgemacht haben: Er sprach zeit seines Lebens nicht über den Vater; erst kurz vor seinem Tode bildete er das grausame Familienoberhaupt in der Figur des alten Karamasow in Die Brüder Karamasow (1878 – 1880) ab.
Was er nicht wissen konnte, weil auch wir es erst seit einigen zehn Jahren wissen: Die Kontakt- und Liebesfähigkeit eines Menschen wird schon im Mutterleib und den ersten Monaten des Lebens geprägt; wer keine Zuwendung erfährt, wird es schwer haben, Zuwendung zu geben und Liebe zu erfahren.
Nun, Dostoevskijs Mutter Maria Fedorovna war zwar das genaue Gegenteil ihres Mannes, stand aber unter dessen unerbittlicher Fuchtel; immerhin konnte sie ihre Liebe zur Literatur an Fëdor Michajlovič weitergeben. In der Erzählung Ein kleiner Held (1849) beschreibt er sie als Madame M., die die große erste Liebe des kleinen Helden ist:
Sie war vielleicht ein wenig schweigsam, vielleicht auch verschlossen, obwohl es zugleich schwerlich ein aufmerksameres und liebevolleres Wesen gab als sie, wenn jemand der Teilnahme bedurfte. Es gibt Frauen, die im Leben geradezu wie barmherzige Schwestern sind. Vor ihnen braucht man nichts zu verbergen, nichts zu verschweigen, wenigstens nichts, was in unserer Seele krank und verwundet ist. Wer leidet, der gehe getrost zu ihnen und fürchte nicht, ihnen zur Last zu fallen, denn nur selten weiß jemand von uns, wieviel unendlich geduldige Liebe, wieviel Mitgefühl und welch ein Allverzeihen in manchen Frauenherzen sein kann. Ganze Schätze an Mitempfinden, Trost und Hoffnung ruhen in diesen reinen Herzen, die so oft selbst verwundet sind – Herzen, die viel trauern, mehr als andere lieben, aber die eigenen Wunden behutsam vor jedem neugierigen Blick verbergen, denn tiefes Leid schweigt und verbirgt sich. Diese Frauen schreckt weder die Tiefe der fremden Wunde noch ihre Fäulnis ab: Wer an sie mit seinem Vertrauen herantritt, ist ihrer schon wert; aber sie sind ja auch, nebenbei bemerkt, wie eigens zum Helfen geboren.
Die ersten zehn Jahre verbrachte Fëdor Michajlovič in dem Armenhospital, in dem er geboren wurde; seine und seines Bruder Kammer war ein fensterloser kleiner Raum, der durch eine Bretterwand von der Eingangshalle des Krankenhauses abgetrennt war. Tagtäglich waren sie umgeben von kranken Armen, die teilweise gespenstisch und ziellos umherwanderten. Diese Welt der Armen wird Dostoevskij sein Leben lang beschäftigen; er wird sie wieder und wieder beschreiben. 1831 kaufte sein Vater ein kleines Landgut etwa 200 km südlich von Moskau, wo die Familie zukünftig die Sommermonate verbringen würde. Im selben Jahr hatte Fëdor Michajlovič auch sein erstes großes Theatererlebnis: Als Zehnjähriger besuchte er in Moskau die Aufführung von Schillers Räuber. Das romantische Erleben der Natur auf dem Gut und die aufwühlenden Eindrücke aus dem frühromantischen, idealistischen Theaterstück bestimmen für die nächsten Jahre sein Weltbild. Es sind die Jahre, in denen der vergötterte Puschkin seine Triumphe feiert, und als Puschkin 1837 im Duell getötet wird und auch seine geliebte Mutter stirbt, weiß er nicht, über welchen Verlust er mehr trauern soll.
In Folge des Todes seiner Mutter traf Dostoevskij ein weiteres Unglück: Da sein Vater nicht alle sieben Kinder versorgen konnte, mussten er und sein Bruder aus dem Haus; Fëdor Michajlovič wurde auf die militärische Ingenieurschule nach St. Petersburg geschickt. Als romantischer Träumer und rebellischer Geist sah er sich im kalten Norden erneut mit Drill und Disziplinierungsmaßnahmen konfrontiert und musste sich mit ungeliebten – um nicht zu sagen gehassten – Unterrichtsfächern herumschlagen.
Noch hatte er diese Schläge nicht verarbeitet, da traf ihn schon der nächste: Sein Vater, der sich nach dem Tod seiner Frau ganz auf das kleine Landgut zurückgezogen und dort natürlich ebenfalls despotisch regiert hatte, wurde von seinen eigenen Bauern erschlagen. Dass der Vater aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur seinen Kindern seine Liebe – wenn sie denn in welcher Form auch immer vorhanden war – nicht zeigen konnte, ist sehr wahrscheinlich; dass Fëdor Michajlovič seinen Vater nicht so lieben konnte wie seine Mutter, ist sicher ebenso verständlich. Doch der Vater war immerhin sein Vater und Dostoevskij war ganz sicher noch nicht in der Lage gewesen, seine Beziehung zu ihm aufzuarbeiten. Es ist sicher eine Art Hassliebe gewesen, die ihn mit seinem Vater verband, wie Freud sie 1928 in seinem Essay Dostoevskij und die Vatertötung beschreibt. Für Fëdor Michajlovič wurde der Mord an seinem Vater zu einem Trauma, aus dem heraus er heftige Schuldgefühle entwickelte – bis hin zum Selbstvorwurf, für den Tod des Vaters (mit) verantwortlich zu sein. Sicher, weil er ihm manchmal aus gegebenem Anlass den Tod gewünscht hatte. An anderer Stelle wird beschrieben, er habe geglaubt, dass der Vater seine Bauern immer weiter ausgepresst habe, um seine, Fëdors, Ausbildung zu finanzieren – bis sie ihn letztendlich erschlugen.
Was nun auch immer ihr Grund gewesen sein mag – seine Schuldgefühle hat Dostoevskij sein Leben lang mit sich herumgeschleppt. Sie wurden zum zentralen Thema des letzten großen Werkes, das er kurz vor seinem Tod geschrieben hat: Die Brüder Karamasow (1878 – 1880).
1843 beendete Fëdor Michajlovič mit Erfolg sein Studium und trat in den Staatsdienst ein. Trotz heftiger Geldsorgen und Schulden – er hatte nie gelernt, mit Geld umzugehen, und gab Geld, sobald er welches hatte, genau so schnell aus, wie er es bekommen hatte – entschloss er sich 1844, den Dienst zu quittieren und als freier Schriftsteller zu leben. Und so sollte er – abgesehen von den letzten paar Jahren – zeit seines Lebens von Geldsorgen geplagt sein.
Aus dem romantisch-idealistischen kleinen Rebellen, der er als Zehnjähriger war, war ein romantischer, sozialkritischer Geist geworden, der seine geliebten Vorbilder verschlungen und ihre Überzeugungen verarbeitet hatte. Seine ersten Erzählungen, Novellen und kleinen Romane spielen – wie könnte es anders sein – im Milieu der armen Leute und haben die Liebe zum Thema. Sein erster veröffentlichter Roman, mit dem er auch über Nacht berühmt wurde, heißt sogar Arme Leute (1846).
Wenn man Dostoevskijs Frühwerke in drei Gruppen einordnet, kann man seine Entwicklung gut erkennen. Zu Beginn seines Schreibens – zwischen 1844 und 1846 entstandene Texte (Erscheinungsjahr in Klammern) – steht stets irgendein Beamtentyp im Mittelpunkt, eine unglückliche Gestalt, die mit ihrem Umfeld nicht zurecht kommt:
Arme Leute (1846), Der Doppelgänger (1846), Der ehrliche Dieb (1848), Eine Korrespondenz (Roman) in neun Briefen (1845), Herr Prochartschin (1846).
In den darauffolgenden anderthalb Jahren verstärkt sich das sozialkritische Element. Im Mittelpunkt steht jetzt der isolierte jugendliche Held, dessen Glück und Erfüllung an den Umständen seiner Existenz scheitert. Die Erzählungen sind – ausgenommen Ein kleiner Held – in der Zeit von Ende 1846 bis Mitte 1848 geschrieben:
Die Wirtin auch Ein junges Weib (1847), Ein schwaches Herz (1848), Polsunkov auch Polsunkoff (1847), Netotschka Neswanowa (1849), Weiße Nächte (1848) und die während seiner Untersuchungshaft entstandene Erzählung Der kleine Held (1849). Letztere handelt von Missbrauch und Manipulation der Liebe und war für lange Jahre die letzte, die Fëdor Michajlovič schreiben sollte.
Zeitgleich und im Anschluss – von Herbst 1847 bis Herbst 1848 – entstanden auch Ein Weihnachtsfest und eine Hochzeit (1848) und Die fremde Frau und Der eifersüchtige Gatte, die Dostoevskij unter dem Titel Die fremde Frau und der Ehemann unter dem Bett (1848) zusammenfasste. Diese Erzählungen haben die Ehe und im Besonderen die dümmlichen bis habgierigen Ehemänner zum Thema.
Es ist hier nicht der Raum, auf jede Erzählung, Novelle oder jeden kleinen Roman aus dieser Zeit im Einzelnen einzugehen; wichtig ist: Wir begegnen hier einem ganz anderen Dostoevskij als dem, den man aus seinen weltberühmten Romanen kennt. Bezeichnenderweise wird über diesen Teil seines Werkes kaum gesprochen. Zu Unrecht! Hier gibt es noch hervorragende Schilderungen von (Stadt-) Landschaft und Milieu, es finden sich Humor und Satire, die Personen sprechen noch jede in ihrer eigenen Sprache (gemäß dem von Gogol kreierten und von Leskov zur Vollendung gebrachten Stilmittel skaz) – alles Dinge, die Dostoevskij später zugunsten von Psychologie und Seelentiefe vernachlässigt hat. Dazu sind diese weniger umfangreichen Werke ebenso packend und mitreißend wie seine späteren.
Aber worauf trieben die Ereignisse zu?
Oben schrieb ich, dass Der kleine Held – übrigens eine wunderschöne und ergreifende Erzählung: Mit viel Einfühlung schildert Dostoevskij die erwachende Liebe eines Jungen! – aus dem Jahr 1849 für lange Jahre das letzte war, das er verfasste. Schon im Jahr 1846, zunehmend vereinsamend in dieser ungeliebten Stadt, in der es nur Männer zu geben schien (die meisten waren Regierungsbeamte, der weibliche Einwohneranteil lag bei nur 25 %), lernte er die drei Brüder Beketov kennen; sie waren überzeugte Anhänger der Utopischen Sozialisten und begeisterten ihn für das Konzept eines humanistischen Sozialismus, der Gerechtigkeit und Ausgleich unter den Menschen auf friedliche Weise hervorbringen sollte. Nach dem Konzept Charles Fouriers, Vater der Sozialutopisten, gründeten sie eine – heute würde man sagen – Kommune und führten euphorische Diskussionen über die Möglichkeiten zur Weltverbesserung. Leider rief die Pflicht lauter als die Ideale und die Brüder Beketov mussten zum Studium nach Kasan. Als „Ersatz“ bot sich der Kreis um Petraševskij an, ebenfalls ein utopischer Sozialist, allerdings von weit schwererem Kaliber. Petraševskij war ein hoher Regierungsbeamter und hatte Zugang zu dem Archiv, in dem die verbotenen und beschlagnahmten ausländischen Schriften lagerten; und er verteilte sie großzügig an seine Freunde. Zu seinem Kreis gehörte auch Nikolai Spežnev, der sich als Radikaler profilierte. Bei ihm war nicht mehr von humanistischem Sozialismus die Rede, bei ihm hieß die Parole immer mehr „Sozialismus, Atheismus, Terrorismus“. Von Spežnev war Dostoevskij fasziniert – außerdem hatte er 500 Rubel Schulden bei ihm, von denen er nicht wusste, wie er sie zurückzahlen soll. Und ihn hat er später in seinem Roman Die Dämonen (auch: Die Besessenen – und neuerdings: Böse Geister) in der Person Nikolai Stavrogins verewigt.)
Der Petraševskij-Kreis war aber längst von der Geheimpolizei mit Spitzeln durchsetzt worden und am 23. April 1849 wurden alle 34 Mitglieder verhaftet und in das Verlies der Peter-Paul-Festung geworfen. In monatelangen Verhören wurden sie ausgequetscht und am 16. November wurden 15 von ihnen, darunter Dostoevskij, zum Tode durch Erschießen verurteilt. Hinrichtungstermin in fünf Wochen, am 22. Dezember. Die offizielle Begründung für Dostoevskijs Todesurteil war, dass er den von Nikolaus I. verbotenen Brief Belinskis an Gogol verlesen hatte, in dem Belinski Gogol als „Prediger der Knute“ und „Lobsinger tatarischer Sitten“ verflucht, die Religion scharf angreift und Gesellschaftsreformen verlangt.
Heute … wurden wir alle nach dem Semjonower Platz gebracht. Dort verlas man uns das Todesurteil, ließ uns das Kreuz küssen, zerbrach über unseren Köpfen den Degen und machte uns die Todestoilette (weiße Hemden). Dann stellte man drei von uns vor dem Pfahl auf, um das Todesurteil zu vollstrecken. Ich war der Sechste in der Reihe; wir wurden in Gruppen von je drei Mann aufgerufen, und so war ich in der zweiten Gruppe und hatte nicht mehr als eine Minute noch zu leben … Ich hatte noch Zeit, Pleschtschejew und Durow, die neben mir standen, zu umarmen und von ihnen Abschied zu nehmen. Schließlich wurde Retraite getrommelt, die an den Pfahl Gebundenen wurden zurückgeführt, und man las uns vor, dass seine Kaiserliche Majestät uns das Leben schenkte.
Diese Scheinhinrichtung, bei der einer der Todeskandidaten verrückt wurde, sollte aber nicht das letzte grausame Ereignis in Dostoevskijs Leben sein. Am 24 Dezember 1849 trat er mit Ketten an den Beinen auf einem offenen Pferdeschlitten seine „Reise“ in die vierjährige Verbannung nach Sibirien an, in das Zuchthaus und Straflager bei Omsk, und was ihn hier erwartete, konnte sich damals niemand vorstellen; und auch heute, wo wir es wissen, kann unser Gefühl es nicht erfassen.
Literatur
Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur – Von 1700 bis zur Gegenwart (2000)
Rudolf Neuhäuser: Das Frühwerk Dostoevskijs (1979)
Christine Hamel: Fjodor M. Dostojewski (2003)
Wolfgang Kasack: Hauptwerke der russischen Literatur (1997)
Propyläen Geschichte der Literatur in 6 Bänden
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