Der Fall der sexuell missbrauchten russischstämmigen Lisa aus Berlin macht weiter Schlagzeilen – zumindest in Russland, während die großen deutschen Medien die Sache einfach unter „Fake“ und „Kreml-Propaganda“ abgelegt haben, nachdem während des kurzzeitigen Verschwindens des Mädchens im Januar keine Entführung stattgefunden hatte.
Aber was war in der Zeit davor? Hier wird die deutsche Berichterstattung dünn, denn massive Indizien deuten auf einen sexuellen Missbrauch durch zwei Deutschtürken hin. Und auch während des Verschwindens sind nach Ansicht des privaten Umfelds des Mädchens noch nicht alle Fragen beantwortet. Die russischen Medien, nicht nur die staatlichen, berichten weiter. Die Russen bewegt das Schicksal ihrer jungen Landsfrau in Berlin. Die Moskauer Zeitung Moskowskij Komsomolez (MK), immerhin die zweitgrößte Tageszeitung Russlands, führte zum Thema in der letzten Woche ein Interview mit dem Anwalt des Mädchens, Alexej Danckwardt, das wir auf deutsch veröffentlichen dürfen und dessen korrekte Übersetzung mit dem Interviewten persönlich abgestimmt wurde. Was an der Geschichte um Lisa ist Wahrheit, was Lüge? Was ist geschehen, was wurde später hinzu gedichtet? Ihr rechtlicher Vertreter in der Öffentlichkeit erzählte die Sicht der Familie den russischen Reportern.
Die Entstehung des öffentlichen Falls
MK: Befindet sich Lisa wirklich einer psychiatrischen Klinik?
Danckwardt: Lisa wurde Opfer eines schweren Verbrechens — des Kindesmissbrauchs. Deshalb braucht sie psychologische Hilfe, um das Trauma zu überwinden, die ihr die Verbrecher zugefügt haben. Und um nichts anderes geht es. Die erste Etappe dieser Therapie besteht darin, dass Lisa fünf Tage in der Klinik bleiben soll. Das ist keine geschlossene Einrichtung. Es ist eine ambulante Klinik, man kann sie zu jeder Zeit verlassen. Das Programm gilt vor allem der Beruhigung des Kindes: Sport, Schwimmen, Handarbeiten. Die weitere Therapie: Einmal in zwei Wochen wird sich ein qualifizierter Psychologe mit Lisa befassen. Einige Massenmedien Deutschlands und jetzt bereits auch Russlands vermitteln einen schrecklichen Eindruck von Lisa. Das heißt, sie übergießen das Mädchen mit Schmutz. In Wirklichkeit handelt es sich um die bestmögliche psychologische Hilfe für das traumatisierte Kind. Gegenwärtig ist Lisa zu Hause.
MK: War denn die Einbeziehung eines Psychologen in diese Sache nicht von Anfang an obligatorisch ? Ich weiß nicht, wie es sich in Deutschland verhält. Aber nach den russischen Gesetzen muss beim Verhör eines Betroffenen, der noch nicht 14 Jahre alt ist, unbedingt ein Pädagoge oder Psychologe anwesend sein. Wobei, wenn es sich um ein sexuelles Verbrechen handelt, der Pädagoge des selben Geschlechts sein sollte, wie auch der Betroffene. Lisa wurde aber von gewöhnlichen Polizisten vernommen?
Danckwardt: Sie wurde von gewöhnlichen Polizisten vernommen. Wobei sich diese Polizisten als sehr schlechte Psychologen erwiesen haben. Denn dieses Durcheinander, dieser Skandal, begann damit , dass einer dieser Polizisten, die das Mädchen drei Stunden lang vernommen haben, zu den Eltern hinausgegangen ist und sagte, dass Lisa „eine Lügnerin“ sei und man die Ermittlung nicht fortsetzen werde. Erst danach gingen die Eltern an die Öffentlichkeit. Lisa wurde nicht qualifiziert vernommen. Wir werden darauf bestehen, dass es in der nächsten Zeit ein qualifiziertes Herangehen an Lisa geben muss, das heißt es muss sich ein Gerichtspsychologe mit ihr befassen.
MK: Habe ich richtig verstanden, dass, wenn es diese Erklärung des Polizisten zur Unterbrechung der Untersuchung nicht gegeben hätte, dann hätte es auch weder einen internationalen Skandal, noch Publikationen in der Presse, noch Demonstrationen, noch Geschrei über «die lange Hand des Kremls» und die Intrigen russischen Geheimdienstes gegeben?
Danckwardt: Ganz richtig. Es wäre überhaupt nichts passiert. Es wäre leider eine ganz alltägliche Sache geblieben. Etwa hunderttausend derartige Verbrechen werden im Jahr in Deutschland registriert. Und von diesem Vorfall hätte niemand erfahren. An allem ist wirklich dieser Polizist schuld. Leider, erkennt er bis jetzt seine Schuld nicht an. Er war vor kurzem bei den Eltern und erklärte, dass er nicht daran schuld sei, dass man ihn «falsch» verstanden habe. Aber ich weiß nicht, was man falsch verstehen kann, wenn ins Gesicht gesagt wird: «Wir werden die Ermittlung nicht fortsetzen».
Missbrauch durch mindestens zwei Täter im Oktober
MK: Aber was ist wirklich mit Lisa geschehen?
Danckwardt: Wir beginnen damit, dass Lisa im Oktober vorigen Jahres in der Tat Opfer eines Verbrechens wurde. Damals begingen zwei (oder vielleicht drei, das wird noch geklärt) erwachsene Männer Akte sexuellen Missbrauch gegen Lisa. Vergessen wir nicht, dass sie ein 13jähriges Kind ist, das heißt, es war in jedem Fall eine Straftat – Kindesmissbrauch. Die Täter sind 20 Jahre und 22 Jahre alt. Einer von ihnen filmte das Verbrechen mit der Kamera, deshalb ist die Tatsache des Verbrechens bewiesen, das Video wurde beschlagnahmt, es ist bei der Polizei. Und jetzt stellen Sie sich vor: das Mädchen lebte mehr als zwei Monate mit dieser Belastung. Es ist auch eine gewöhnliche Geschichte, dass die Kinder, nicht, weil sie ihren Eltern nicht vertrauen, sondern aus Scham und gewissen Schuldgefühlen, was Pädophile oft ausnutzen, sich fürchten, davon zu erzählen. Was am 11. Januar passierte, warum Lisa nicht nach Hause nicht gekommen ist, muss noch aufgeklärt werden. Aber die Tatsache besteht darin, dass sie nach ihrem 30-stündigen Verschwinden das erzählt hat, was mit ihr im Oktober geschehen ist. Und Gott sei Dank, dass sie es erzählt hat. Es kommt vor, dass die Kinder dieses Trauma jahrelang mit sich herumschleppen. Man darf Lisa keinesfalls der Lüge bezichtigen, weil dies das gewöhnliche Verhalten eines traumatisierten Kindes ist.
MK: Wenn die Kamera eingezogen wurde, bedeutet das, man hat die Verbrecher schon gefunden?
Danckwardt: Ja, man hat sie gefunden.
MK: Wurden die Verbrecher verhaftet?
Danckwardt: Sie wurden nicht verhaftet, weil das Gericht der Auffassung war, dass keine Gefahr besteht, dass sie aus Deutschland fliehen. Deshalb stehen sie unter Meldeauflagen. Sie werden vor Gericht erscheinen. Davon bin ich überzeugt. Was den Fall im Januar betrifft, so wissen wir bislang noch nicht, was geschehen ist. Die Polizei hat festgestellt, wo Lisa war. Sie war bei einem 19-jährigen Deutschen. Das ist in der Tat eine seltsame Geschichte. Als dieser 19-jährige Lisa mitgebracht hat, befand sich seine Mutter in der Wohnung . Ihr Verhalten nimmt sich seltsam aus. Sie hat dem Sohn nicht etwa gesagt: „Du musst die Kleine nach Hause bringen“, sie hat auch die Eltern nicht angerufen, um sie zu benachrichtigen, dass mit dem Mädchen alles in Ordnung ist. Insgesamt gibt es hier noch viel Seltsames, mit dem man sich noch lange auseinandersetzen muss. Die zweite Episode so schnell für beendet zu erklären, wie es die Berliner Staatsanwaltschaft getan hat, ist nicht professionell.
MK: Dieser 19jährige, hörte ich, soll als Zeuge vernommen werden?
Danckwardt: Im Moment gilt er als Zeuge. Er hat gesagt: „Es war nichts“, und seine Mutter hat bestätigt, dass nichts war. Aufgrund dessen wurde Lisa nicht noch einmal vernommen und die Polizei erklärte unüberlegt, dass nichts war. Wenn wir jedes Mal aufgrund der Aussagen des Verdächtigten und seines nahen Verwandten die Strafverfahren einstellen würden, hätten wir gar keine Prozesse mehr.
MK: Und die Mutter war während dieser 30 Stunden dort anwesend?
Danckwardt: Ich weiß es nicht. Soweit ich verstanden habe, schloss sich dieser Bursche mit dem Mädchen im Zimmer ein, und die Mutter sah von Zeit zu Zeit durch den Türschlitz.
Fall Lisa hat mit Flüchtlingen nichts zu tun
MK: Man sagt, dass er Deutscher ist. Ich verstehe, dass die Frage nach der Nationalität in diesem Fall ist nicht ganz „politisch korrekt“ ist. Aber es ist dennoch wichtig – aufgrund der Wendung , die diese Sache gernommen hat. Gibt es Informationen, ob er deutscher Staatsbürger türkischer Herkunft ist?
Danckwardt: Nein. Türkischer Herkunft sind jene beiden, die das Verbrechen im Oktober begangen haben. Aber dieser 19jährige ist Deutscher, sowohl nach der ethnischen Herkunft, als auch nach der Staatsangehörigkeit. Im ersten Fall sind die Verbrecher ebenfalls deutsche Staatsbürger.
MK: Die seit langem in Deutschland leben?
Danckwardt: Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie in Deutschland geboren. Das heißt, dieser Fall hat keinerlei Bezug zu den Flüchtlingen.
MK: Wie ist die Version über die Flüchtlinge entstanden?
Danckwardt: Lisa hat eine Beschreibung der Verbrecher vom Oktober gegeben, und, wie wir jetzt wissen, hat sie die richtige Beschreibung gegeben.
MK: Das orientalische Aussehen?
Danckwardt: Ja. Aber sogar in der Reportage des Ersten russischen Fernsehens wurde nicht von Flüchtlingen gesprochen. Wer hier das Thema der Flüchtlinge hineingebracht hat, weiß ich bis jetzt nicht. Ich vermute, dass es deutsche Nationalisten waren.
Keine Entführung – aber Verbrechen?
MK: Wurde sie gewaltsam in ein Auto gezerrt?
Danckwardt: Dieses Detail entspricht nicht der Realität. Die Eltern hatten ihr einfach verboten, sich zu fremden Menschen in den Wagen zu setzen, und, um sich vor ihnen zu rechtfertigen, behauptete sie zuerst, dass sie gewaltsam hineingezerrt wurde. Aber in allen übrigen Details ist ihre Geschichte wahr.
MK: Wurden Schläge festgestellt?
Danckwardt: Ja, die Ärzte haben sofort Anzeichen von Misshandlung festgestellt. Aber wir wollen nicht dramatisieren: Es waren keine schweren Schläge. Was ihre Sachen angeht, so wurden sie später in der Wohnung dieses 19-jährigen Burschen gefunden.
MK: Wenn dieser Bursche ihr Freund sein soll, so ist es recht seltsam, dass sie in diesem Zustand auf der Straße gefunden wurde – halbbekleidet, ohne Rucksack, sogar ohne Fahrgeld?
Danckwardt: Dieser Bursche hat nicht das Recht, ihr Sexpartner zu sein, weil Lisa 13 Jahre alt ist, insofern ist der Tatbestand eines Verbrechens erfüllt.
MK: Ja, aber ich möchte fragen, ob es nicht so aussieht, dass sie aus seiner Wohnung fliehen musste?
Danckwardt: Das ist eine der Versionen dessen, was in diesen 30 Stunden geschah, die ich persönlich für wahrscheinlicher halte, als das, was uns die Polizei sagt. Die Untersuchung dauert an und wird ziemlich professionell geführt. Allerdings schaffen die öffentlichen Erklärungen der Polizei und des Staatsanwalts einen falschen Eindruck und werfen Schatten auf die Ehre der Familie und von Lisa.
Zur deutschen Pressekampagne
MK: Kann man sagen, dass in den deutschen Medien und Blogs eine Hetzkampagne gegen Lisa geführt wird?
Danckwardt: Zweifellos.
MK: Aber man kann doch Klage einreichen…
Danckwardt: Wir werden gegen einige Journalisten klagen. Zum Beispiel hat ein Radiosender erklärt, dass angeblich eine Tante von Lisa „bezahlt“ wurde, ich weiß nicht, von wem —vom Kreml oder vom Geheimdienst … Gegen diese Gesellschaft wird die Klage zum Schutz der Ehre und der Würde eingereicht werden.
MK: Ich muss diese Frage stellen, weil viele dennoch darüber sprechen. Könnte das Verhalten von Lisa selbst ein Grund dafür sein, was es mit ihr geschehen ist?
Danckwardt: Absolut nicht! Und es wundert mich, dass sich erwachsene Kerle erdreisten, so etwas über ein 13jähriges Kind zu sagen. Haben diese Menschen überhaupt keine Ehre und kein Gewissen? Es war Lisas erstes Verschwinden über mehr als 2 Stunden überhaupt. Ihre Eltern sind anständige Menschen, passen auf ihre Kinder auf.
Keine Verbindung von Lisa´s Verwandtschaft zu Nationalisten
MK: Sind Verwandte von Lisa mit Neonazi-Organisationen verbunden, wie einige behaupten?
Danckwardt: Absoluter Unsinn. Die Eltern von Lisa interessierten sich bis jetzt überhaupt nicht für Politik, gehörten keinerlei Organisationen an und gingen auch nicht auf Kundgebungen. Mit Lisas Geschichte gingen ihr Onkel und ihre Tante an die Öffentlichkeit. Lisa hatte in Facebook geschrieben: «Ich mag Russland!» — und das gilt zur Zeit in Deutschland als höchste Stufe des Nationalismus. Deshalb gibt es jetzt eine solche Hysterie um diese Geschichte.
MK: Und haben der Onkel und die Tante Tante Verbindungen zu Neonazi-Organisationen?
Danckwardt: Nein.
MK: Welche Staatsangehörigkeit haben Lisa und ihre Eltern?
Danckwardt: Lisa hat wegen ihres Alters die doppelte Staatsangehörigkeit. Wenn sie18 Jahre alt sein wird, muss sie sich nach den Gesetzen Deutschlands für eine Staatsangehörigkeit entscheiden. Ein Elternteil hat die russische Staatsangehörigkeit, das zweite ist deutscher Staatsbürger.
MK: Bedeutet dies, sich mit diesem Fall zu beschäftigen, ist nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht unseres Außenministeriums?
Danckwardt: Unbedingt. Und ich will betonen, dass die Erklärungen Lawrows vom juristischen Standpunkt absolut korrekt waren. Ich sage das als Jurist und ausgebildeter Völkerrechtler.
MK: Haben sich die Verwandten von Lisa an das Konsulat der Russischen Föderation mit der Bitte um Schutz gewandt?
Danckwardt: Seit 2005 haben die russischen Konsulate eine Anweisung, und arbeiten seither sehr aktiv für den Schutz der Landsleute. Auch in diesem Fall konnte man nicht gleichgültig bleiben. Ich wurde angerufen und gefragt, ob die Eltern konsularischen Schutz in Anspruch nehmen wollen. Ich habe die Eltern gefragt, sie haben zugestimmt. Der Konsul ging zu ihnen und klärte alle Formalitäten. Seit Freitag vorletzter Woche beschäftigt sich das Konsulat absolut legitim mit dem Schutz von Lisa.
(Interview: Zeitung Moskowskij Komsomolez / Übersetzung Hartmut Hübner / Überarbeitung Roland Bathon)
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