Die russischen Staatsmedien und viele linke oder verschwörungstheoretische Homepages auch in Deutschland laufen heute heiß und berichten davon, dass die ukrainische Armee bei den gestrigen Kämpfen in Mariupol auf unbewaffnete Zivilisten geschossen habe. „Beweisvideos“ werden dazu gezeigt. Zwei der häufigsten haben wir im Netz recherchiert und wollen sie einmal kritisch betrachten.
Ukrainisches „Beweis“video
Das längste und aussagekräftigste Video direkt auf einem ukrainischen Kanal, das wir gefunden haben, ist dieses hier. Es ist für unter 18jährige Zuschauer gesperrt und damit auch für nicht angemeldete YouTuber. Wer also gerade nicht dort angemeldet ist, muss das zum anschauen nachholen. Wenn man im Browser angemeldet ist, flutscht das Video auf unserer Seite spätestens nach einem Reload:
Einige Details lohnen der näheren Betrachtung. Die Szene zeigt eine lautstarke Auseinandersetzung von Zivilisten, wahrscheinlich Einheimischen aus Mariupol, mit ukrainischen Soldaten im Hintergrund. Bei 1:50 min. wird der erste Zivilist getroffen, bei 2:01 min. ein weiterer. Die Menge flippt aus und eilt den Soldaten entschlossen entgegen.
Erst ein genaueres Anschauen offenbart, dass die Menge der Zivilisten nicht homogen ist. Die große Mehrheit der Zivilisten ist unbewaffnet (außer ihren Handys) und zeigt das den Soldaten mehrfach deutlich durch Heben der Hände. Offenbar wollen viele der Leute, was passiert, aus Beweisgründen festhalten. Jedoch sieht man beispielsweise bei 2:17 min., dass das nicht für alle zutrifft, zwei Pistolen sind recht deutlich zu sehen, eine davon wird auch abgefeuert. Der Kameramann ist einmal zu hören, als er eine andere Person als „Provokateur“ bezeichnet. Hier kann also entweder ein wirklicher Provokateur (z.B. des Rechten Sektors) anwesend gewesen sein, aber auch ein bewaffneter, radikaler Separatist, den der Filmer für einen Provokateur hält, der aber die Soldaten in seinem Sinne provoziert.
Bei 2:51 min. liegt ein im Kopf getroffener toter Mann am Boden. Das Militär zieht sich zurück. Die Leute sind nun außer sich und wer Russisch kann, wird merken, dass die Aufregung auf jeden Fall echt ist. Das Video ist keinesfalls gestellt, der Schauplatz war gestern auch bei zahlreichen anderen Amateuraufnahmen aus der Stadt zu sehen. Bei 5:40 min. fimt der Kameramann die umstehenden und setzt quasi eine Botschaft nach Kiew ab. „Das sind die Terroristen, gegen die Sie mit Ihrem Anti-Terror-Einsatz kämpfen“. Was er damit sagen will ist klar: Nach seiner Auffassung kämpft das ukrainsiche Militär gegen das eigene Volk. Dass die Menge mit ihm einer Meinung ist, wird auch an den „Faschisten! Faschisten!“-Rufen in Richtung zu den Soldaten sehr deutlich und es ist offensichtlich, dass der Kameramann und die Umstehenden überzeugt sind, dass „Faschisten“ einen der ihren getötet und weitere verwundet haben.
Bewiesen ist das damit jedoch nicht, denn es ist nicht die ganze Szenerie zu sehen, es waren eben nicht alle unbewaffnet, die dabei waren. Homepages, die das Video als Beweis für Schüsse von Militärs auf unbewaffnete Zivilisten anführen, bezeichnen verschiedene Leute, die zu sehen sind, als Faschisten „in Zivil“. Beweiskraft hat das nicht. Die heftigen Augenzeugenreaktionen in Richtung Militär nach den Schüssen und das Schlussplädoyer zeigen aber, auf welcher Seite die Mariupoler die Schuld für die Situation sehen. Sie sympathisieren natürlich offensichtlich auch mehr mit der Gegenseite des Militärs. Das gilt aber übrigens für alle Mariupoler, die auf Videos von gestern zu sehen sind. Wenn es in der Stadt Euromaidan-Sympathisanten gibt, die sich auf das Militär freuen, haben sie sich gut versteckt.
Russisches „Beweis“video
Dieses Video ist vom regierungsnahen russischen Sender Russia Today, der in Mariupol vor Ort ist:
Es ist wesentlich kürzer und leider an der entscheiden Stelle geschnitten. Wir wollen die Kollegen nicht der Lüge bezichtigen und halten es durchaus für denkbar, dass sie hier Schüsse des Militärs auf Zivilisten gefilmt haben. Einen Beweis hierfür liefert dieses Videos auf ihrem YouTube-Channel nicht. Auch scheint es eher, dass wie an vielen anderen Stellen Warnschüsse abgegeben wurden, die dann Zivilisten verletzten, denn bei der geringen Entfernung zwischen den Truppen und den Passanten wären bei gezielten Schüssen wesentlich mehr Opfer zu beklagen gewesen. Die Panzer und Szenerie stammt jedoch eindeutig vom gestrigen Tag und aus Mariupol. Somit ist es auch kein „Propaganda-Fake“ des „Kreml“. Auch auf anderen RT-Videos auf YouTube fanden wir keine echte Beweisszene.
Fazit
Wir schließen diese Rubrik am liebsten mit dem Resultar „Fakt“ oder „Fake“ ab, aber dieses Mal geht beides nicht. Die Beweisvideos enthalten Hinweise, aber keine Beweise, sind aber authentisch aufgenommen gestern in Mariupol. Also weder Fakt noch absichtlicher Fake.
Sie beweisen aber, wie viele andere, wo wohl die Sympathien der Mariupoler liegen, nämlich nicht auf Seiten des Euromaidan im fernen Kiew. Das macht es wahrscheinlich auch für ukrainische Soldaten sehr schwer, paramilitärische Milizionäre, die gegen sie kämpfen von zivilen Mariupolern zu unterscheiden, die ebenso auf sie schimpfen. Der äußerliche Unterschied ist wohl manchmal nur die Kalaschnikow statt dem Handy in der Hand und so lange das Militär seinen offensiven Einsatz dort fortsetzt, werden versehentliche zivile Opfer nie auszuschließen sein. Normale Soldaten werden jedoch wahrscheinlich nicht auf Menschen schießen, die sie für unbewaffnet halten, egal ob sie sie als Okkupanten betrachten oder nicht. Denn im Gegensatz zu machem Euromaidan-Hasser auf chronischer Beweissuche halten wir ukrainische Soldaten nicht per se für Unmenschen. Aber örtliche Einheimische, die sie lieber weg haben wollen, eben auch nicht.
Wer ein Beweisvideo findet, kann uns gern mailen an redaktion(ad)russland.ru und wir schauen uns die Sache an. Wir wissen, dass es noch viel mehr Videos gibt, die man auch im russischen TV sieht, wollen sie aber lieber an der (möglichst ukrainischen) Quelle und in Ruhe checken. Nach einem Tag der Beschäftigung mit den gestrigen Ereignissen in Mariupol erscheint es einem jedoch wirklich surreal, wenn man dann in den deutschen Nachrichten hört, westliche Führungskräfte möchten das hier durch Sanktionen gegen Russland beenden.
Update 11.05.2014 – neue Videos
Die Szene des ukrainischen Videos (s.o.) wurde noch von zahlreichen anderen Personen mit dem Handy gefilmt. Eines davon hat uns eine Leserin aus Berlin (dank dafür) geschickt und wir wollen es zur vergleichenden Beurteilung hier gleich posten
Ein weiteres Video mit über acht Minuten und recht schlechter Bildqualität wollen wir ebenfalls nicht verschweigen, auch wenn wir es aus Zeitmangel selbst noch nicht auswerten konnten:
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