EU will keinen Bruch mit Russland wegen der Ukraine

In der EU „deutet sich ein Stimmungsumschwung“ gegenüber der Ukraine und Russland an. Dies berichtet das Portal german-foreign-policy.com unter Bezug auf ein Papier der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung.

Wie Christian Forstner, Leiter von deren „Verbindungsstelle Brüssel“, schreibt, sei dafür einerseits die politische Entwicklung in der Ukraine selbst verantwortlich: „Die Wirren in Kiew mit gegenseitigen Korruptionsvorwürfen, Ministerrücktritten, Regierungskrisen und gescheiterten Misstrauensanträgen verschreckt die Freunde der Ukraine“. Hinzu komme, dass man im Streit um die Realisierung des zweiten Minsker Abkommens „in Berlin und Paris jetzt Kiew am Zug sehe, während Moskau seinen Verpflichtungen weitgehend nachgekommen sei“.

„Die Geduld mit Kiew geht in Brüssel spürbar zu Ende“, heißt es in Forstners Bericht, der sich auf informelle Gespräche mit EU-Diplomaten stützt: „Die Zahl derjenigen, die wegen der Ukraine keinen anhaltenden Bruch der Beziehungen mit Moskau riskieren wollen, wächst.“ So sei eine zunehmende Distanz zu Kiew bereits auf Regierungsebene zu verspüren.

Nach dem jüngsten Außenministertreffen im sogenannten Normandie-Format beklagte sich der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin gegenüber der Presse, seine Amtskollegen aus Deutschland, Frank-Walter Steinmeier, und aus Frankreich, Jean-Marc Ayrault, hätten auf seine Forderungen partout „nicht eingehen“ wollen:

Russland als Partner, nicht als Gegner

Neben der desolaten Entwicklung in der Ukraine spiele aber auch Russlands weltpolitisches Erstarken eine Rolle, heißt es in Forstners Bericht. „Querverweise“ zu Syrien oder auch zum Nuklearabkommen mit Iran würden „immer häufiger gezogen“: „Die Tatsache, dass Russland mit neuer Stärke zurück in der Weltpolitik ist, während die EU eine Schwächephase durchläuft“, werde „in Brüssel nicht länger bestritten“. Nicht nur in Ungarn, Italien oder der Slowakei gebe es Bemühungen, sich wieder stärker an Russland anzunähern. Schon im vergangenen Jahr habe die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Federica Mogherini zu einem „Neustart in den Beziehungen zu Russland“ aufgerufen.

Wie Forstner feststellt, wurde im November 2015 in Mogherinis Europäischem Auswärtigem Dienst mit dem Österreicher Thomas Mayr-Harting „ein international versierter Spitzendiplomat“ zum Managing Director für Europa und Zentralasien ernannt, „der Russland als Partner und nicht als Gegner sieht“. „Hinter den Kulissen“ sei es bereits während der Münchner Sicherheitskonferenz „zu konstruktiven Gesprächen mit der russischen Seite gekommen“, hieß es unlängst auch beim Frühjahrsempfang des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.

Einstieg in den Ausstieg

Auch die deutsche Wirtschaft drängt auf die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland. Die deutschen Russland-Exporte sind im vergangenen Jahr erneut drastisch eingebrochen – um rund ein Viertel auf 21,77 Milliarden Euro. Die Größe des russischen Marktes sowie seine Attraktivität, zudem mittelfristig neue „Umsatz- und Gewinnerwartungen und die dringende Notwendigkeit einer Modernisierung und weiteren Industrialisierung Russlands“ seien „weiterhin gute Argumente“ für eine erneute Ausweitung der Geschäfte mit dem Land, wird im Bericht der Präsident der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer, Rainer Seele, zitiert.

In einer Umfrage des Ost-Ausschusses plädierten 60 Prozent aller Unternehmen für eine sofortige Aufhebung der Sanktionen, 28 Prozent verlangten zumindest einen schrittweisen Abbau. Lediglich zwölf Prozent befanden die Sanktionen immer noch für gerechtfertigt; im vergangenen Jahr waren es noch 24 Prozent. Man hoffe, „dass wir spätestens im Sommer 2016 einen Einstieg in den Ausstieg aus den Wirtschaftssanktionen sehen werden“, ließ sich im Februar der neue Vorsitzende des Ost-Ausschusses, Wolfgang Büchele, zitieren.

Millionen-Gewinne winken

Büchele, der zu Jahresbeginn Eckhard Cordes an der Spitze des Ost-Ausschusses ablöste, konnte kürzlich als Vorstandsvorsitzender der Linde Group ein überaus attraktives Geschäft mit Russland in der Erdgasbranche abschließen, die durch den Einfluss von Kanzlerin von den Boykottmaßnehmen ausgenommen wurde. Die Münchener werden gemeinsam mit Gazprom unweit der russisch-chinesischen Grenze eine Erdgasverarbeitungsanlage bauen, die Teil des Pipelineprojekts „Power of Siberia“ ist. Letzteres soll Erdgasfelder in Ostsibirien mit Nordostchina verbinden.

Die geplante Anlage Amur Gas Processing Plant soll bis zu 49 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr verarbeiten, sie wäre damit eine der größten weltweit. Allein in der ersten Projektphase liege das Auftragsvolumen „im hohen dreistelligen Millionen-Euro-Bereich“, wird berichtet; Konzernchef Büchele könne damit „nach zwei Prognosesenkungen innerhalb von einem guten Jahr erstmals wieder einen größeren Erfolg im Anlagenbau vorweisen“. Deutsch-russische Folgeprojekte im Anschluss an Amur GPP werden nicht ausgeschlossen.

Mit Erleichterung registrieren an Russland interessierte deutsche Unternehmer, dass sich eine ihrer Befürchtungen nicht zu verwirklichen scheint – nämlich dass sich die russische Wirtschaft von der EU ab- und bevorzugt China zuwenden könnte. Laut aktuellen russischen Untersuchungen liegen die chinesischen Investitionen in Russland allerdings mit einem Umfang von 3,3 Milliarden US-Dollar weit hinter denjenigen aus Japan (14,4 Milliarden US-Dollar) und sogar hinter indischen Investitionen (3,5 Milliarden US-Dollar). Im ersten Halbjahr 2015 gingen sie zudem um ein Drittel zurück.

Chinas Ausfuhren nach Russland brachen 2015 um 34,4 Prozent ein, also noch stärker als die deutschen Exporte. Gingen im vergangenen Jahr laut einer Umfrage noch die Hälfte der deutschen Unternehmer davon aus, dass chinesische Firmen der Konkurrenz aus der Bundesrepublik in Russland den Rang ablaufen würden, so rechnen heute nur noch 15 Prozent damit. Rund 50 Prozent gehen hingegen davon aus, dass die EU – und mit ihr Deutschland – sich als Partner der russischen Wirtschaft neben China behaupten kann.

Westliche Doppelstrategie

Das Streben nach ökonomischer Kooperation und einer gewissen politischen Zusammenarbeit  wird allerdings begleitet von Tendenzen der Rückkehr zum kalten Krieg und der gestern beschlossenen Verlängerung der Sanktionen gegen natürliche und juristische Personen. Bei der Hanns-Seidel-Stiftung heißt es dazu: „Die westliche Doppelstrategie besteht aus der Stärkung der eigenen Verteidigungskapazitäten bei gleichzeitiger Revitalisierung des Dialogs mit Russland.“

Unter Berufung auf interne Gespräche bestätigt der Stiftungsvertreter, die Stimmen würden „lauter“, die „wieder in ein konstruktives Fahrwasser“ mit Moskau kommen wollten – „nicht nur wirtschaftlich“, sondern auch politisch.
(Hartmut Hübner/russland.ru)

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