„Es ist eine Schande, krank zu sein“ – wie Putin russische Männer beeinflusstFoto: kremlin.ru

„Es ist eine Schande, krank zu sein“ – wie Putin russische Männer beeinflusst

20 Jahre lang haben Putins Image-Macher das Bild eines „starken Führers“ und eines „echten Mannes“ vermittelt, der ein Vorbild für Jungen und Männer sein sollte. Der Präsident ritt auf einem Pferd, fuhr Ski und sprach über seinen gesunden Lebensstil. Während der Präsidentschaft Putins sind die russischen Männer jedoch nicht gesund und finanziell abgesichert geworden, und das Bild des „Beschützers“ wird, wie die Situation in der Ukraine gezeigt hat, leicht mit Plünderungen und Gewalt in Verbindung gebracht. Das neue unabhängige Online-Medium Verstka (übersetzt: Layout), das erforscht, wie die Gesellschaft in Russland funktioniert, untersuchte, warum das Vorbild des Präsidenten nicht wirkt und wie das Bild des „gesunden Mannes“ der Bevölkerung nur schadet. russland.NEWS übernimmt die leicht gekürzte Übersetzung des Artikels.

Putin präsentiert das Bild eines Macho-Führers: stark, sportlich und gesund. Die Gegenüberstellung von „stark und schwach“ in der offiziellen Rhetorik ist mit der körperlichen und geistigen Gesundheit verknüpft – die Propaganda stellte also nicht nur Putins politische Gegner als „schwach“ dar, sondern verspottete sie wegen ihrer – meist erfundenen – Diagnosen. Die Botschaft, die den Russen vermittelt wurde, war eindeutig: Es ist eine Schande, krank zu sein.

So wurde dem US-Präsident Joe Biden eine Demenzdiagnose angedichtet, nachdem er Putin 2021 einen Mörder genannt hatte. Dabei veröffentlichen die Ärzte des amerikanischen Präsidenten Berichte über seinen Gesundheitszustand. Putins Gesundheit hingegen ist ein fast tabuisiertes Thema. Die offizielle Rhetorik besagt, dass ein echter Mann nicht krank sein darf – er soll von Natur aus gesund und stark sein.

In vielen westlichen Ländern versuchen Presse und Politiker hingegen, dem Prinzip der Sichtbarkeit zu folgen. In Russland wird jedoch nicht offiziell über die Krankheiten von Männern gesprochen. Die Männer in Russland gehen schon jetzt nicht gern zum Arzt, und Putins Propaganda ermutigt sie nur noch mehr, bei Krankheiten ein Auge zuzudrücken. Männer gehen in Russland zweieinhalbmal weniger häufig zum Arzt als Frauen. Es ist nicht überraschend, dass sie kürzer leben: Männer werden im Durchschnitt 68 Jahre alt.

Dabei muss man fairerweise feststellen, dass die Lebenserwartung der Männer unter Putin gestiegen ist. Im Jahr 2000 waren es nur 59 Jahre. In den kremlnahen Medien wird angedeutet, dass Putin für diese Fortschritte verantwortlich ist. Aber der Anstieg der Lebenserwartung ist ein globaler Prozess, der kaum von einem bestimmten Politiker abhängt.

Das Problem ist, dass sich die enorme Kluft in der Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen (derzeit zehn Jahre), die auf ein Phänomen der männlichen Übersterblichkeit hindeutet, während Putins Herrschaft kaum verringert hat. Und das hat wenig mit dem Bild eines starken Führers einer Nation zu tun, der sich um sein Volk kümmert.

In den letzten Monaten sind zahlreiche Fälle sexualisierter Gewalt gegen ukrainische Frauen durch russische Soldaten bekannt geworden. Es handelt sich meist um Menschen, die entweder unter Putin geboren wurden oder den größten Teil ihres Lebens unter ihm gelebt haben. Psychologen führen das Verhalten der Russen darauf zurück, dass sie die Ukrainer als „Menschen zweiter Klasse“ sehen. Wladimir Putin war noch nie für sein Mitgefühl für die Opfer sexualisierter Gewalt bekannt. „Begrüßen Sie Ihren Präsidenten! Es stellte sich heraus, dass er ein sehr starker Mann war! Zehn Frauen vergewaltigt! Das hätte ich nie von ihm erwartet! Er hat uns alle überrascht! Wir sind alle neidisch auf ihn!“, so äußerte er sich über den ehemaligen israelischen Präsidenten Moshe Katsav, als dieser der sexualisierten Gewalt beschuldigt wurde.

Der Gesetzentwurf gegen häusliche Gewalt wurde mehrmals in der Duma eingebracht, aber nach einer hitzigen Debatte nie verabschiedet. NGOs, die sich gegen häusliche Gewalt einsetzen, wurden eine nach der anderen für ausländische Agenten erklärt. 2019 äußerte sich Putin persönlich zum Gesetzentwurf: Es stellte sich heraus, dass er den Gesetzentwurf nicht gelesen, sondern nur durch eine ausführliche Erzählung der Föderationsratsvorsitzenden Walentina Matwijenko davon erfahren hatte. Putin bezeichnete seine Haltung zu dem Gesetzentwurf als „gemischt“.

2020 stellte das Zentrum gegen Gewalt an Frauen „Anna“ fest, dass eine von zehn weltweit ermordeten Frauen eine Russin ist. Die Propaganda hat dann die erschreckenden Statistiken einfach beiseitegeschoben. Das Anna-Zentrum wurde der Falschdarstellung beschuldigt.

Die Soziologin Irina Tartakowskaja sagt, dass in verschiedenen historischen Epochen zwei Arten von Männlichkeit miteinander konkurrierten – „Experten“ und „Militaristen“. Die „Experten“-Männlichkeit geht davon aus, dass die wichtigsten Ressourcen eines „echten“ Mannes Bildung und ein scharfer Verstand sind. Die „militaristische“ Männlichkeit zeichnet sich durch rohe Stärke und die Fähigkeit aus, zu siegen und zu erobern. Und wenn im Westen die Helden und Vorbilder unter den Männern oft Vertreter der „Experten“-Männlichkeit sind – Unternehmer, Künstler, Erfinder -, so wird in Russland die „militaristische“ Männlichkeit gefördert. Dies bedeutet, dass intellektueller Erfolg und Reichtum nicht so wichtig sind wie militärische Stärke und Macht.

Der russische Präsident, der für seine heimliche Vorliebe für Luxus bekannt ist, versucht, in der Öffentlichkeit Askese zu zeigen: Er benutzt kein Smartphone und entspannt sich lieber beim Angeln. Diejenigen, die „nicht auf Foie gras verzichten können“, sind für ihn eine fünfte Kolonne. Aus all diesen verbalen und nonverbalen Symbolen gewinnt man den Eindruck, dass ein echter Russe nicht nach Superreichtum streben sollte. Dies steht auch im Einklang mit der Art und Weise, wie Russland seinen Staatshaushalt verwaltet. Für die Verteidigung wird mehr Geld ausgegeben als für die Wirtschaft. Die Verteidigung gegen „äußere Bedrohungen“ ist wichtiger als das Wohlergehen der Bevölkerung.

Insgesamt weist das moderne Russland viele Merkmale des Militarismus als Staatsideologie auf: Wettrüsten, Wehrpflicht, erhöhte Militärausgaben aus dem Staatshaushalt, militärische Aufrüstung zu politischen Zwecken im Ausland und militärische Intervention in souveränen Staaten mit Gewalt.

Vor zwei Jahren ermittelte das Stockholmer Friedensforschungsinstitut in seinem Bericht, dass Russland bei den öffentlichen Verteidigungsausgaben weltweit an vierter Stelle steht und bei seinem Anteil am BIP vor allen 15 führenden Volkswirtschaften der Welt liegt.

Gleichzeitig sollte wir berücksichtigen, dass die russische Armee „ein ernsthafter sozialer Aufzug für den aktivsten jungen Teil unserer Gesellschaft ist“, sagte der stellvertretende Verteidigungsminister Ruslan Zalikow im Jahr 2015.

Sozialer Aufzug ist jedoch eine eher schmeichelhafte Definition für die russische Armee, die eher wie eine Mausefalle funktioniert. Der russischen Vertragsarmee schließen sich in der Regel diejenigen an, die keine andere Wahl und keine andere Möglichkeit haben, Geld zu verdienen und eine Wohnung zu kaufen. Die Einstiegshürde ist niedrig: Es wird kein Hochschulabschluss verlangt (bis 2017 gab es eine solche Anforderung, dann wurde sie abgeschafft), und einige Stellen können bereits nach neun Schuljahren besetzt werden. Das Fehlen strenger Anforderungen an die Hochschulausbildung bringt die Menschen in eine abhängige Position: Sie haben Angst vor der Entlassung, weil sie vom Dienst abhängig sind und keine Ahnung haben, was sie im zivilen Leben tun könnten.

Infolgedessen werden Männer, die ein doppeltes negatives Auswahlverfahren durchlaufen haben, in die russische Armee aufgenommen: Diejenigen, die keinen Zugang zu einer Hochschulausbildung oder einem Ersatzdienst erhalten haben, werden in die Armee eingezogen. Die Verträge werden von Bewohnern der ärmsten und depressivsten Regionen Russlands unterzeichnet, in denen es schwierig ist, Arbeit zu finden. Eine aktuelle Studie von Mediazona bestätigt dies: Die meisten Russen, die in der Ukraine starben, kamen aus den armen Regionen Dagestan und Burjatien.

Beschützer und Ernährer sind in der zeitgenössischen russischen Propaganda Schlüsselrollen für den „echten Mann“. Die Militarisierung des Landes hätte kaum stattfinden können, wenn es nicht eine Nachfrage nach einem „Verteidiger“ gegeben hätte. Der Platz des wichtigsten „Beschützers“ in dem von den Behörden geschaffenen Bild des Landes wurde bisher von Wladimir Putin eingenommen. Eines der Hauptprobleme der „Verteidiger“ ist, dass sie einen Feind brauchen – jemanden, gegen den sie sich verteidigen können. Wenn keine Angreifer in der Nähe sind, kann man sie erfinden.

Das Bild des „starken Führers“, das im Laufe der Jahre in Russland entstanden ist, erweist sich als unhaltbar. Der Begriff der Macht, wie er von der Politik und der Propaganda interpretiert wird, bedeutet die Missachtung der Frauen, der eigenen Gesundheit und die Investition von Geld in den Krieg statt in die Wirtschaft und in geistige Ressourcen.

Elena Dolzhenko

 

https://verstka.media/putin-i-muzhchini/

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