„Es gibt eine Menge Fragen an die Kirche“: Orthodoxer YouTube-Blogger findet großes PublikumSerafim Sasсhliew © Andrej Alexejew

„Es gibt eine Menge Fragen an die Kirche“: Orthodoxer YouTube-Blogger findet großes Publikum

Serafim Sasсhliew gründete den YouTube-Kanal „Serafim“, auf dem ganz unterschiedliche Menschen ganz offen über die Orthodoxie sprechen. Dialoge über Sex vor der Ehe oder Proteste in Belarus, Diskussionen zwischen Muslimen, orthodoxen Christen und Juden, Debatten zwischen Priestern und Wissenschaftlern, Gläubigen und Atheisten oder Fragen über die Rolle der Frau in der Kirche – all das findet sich auf seinem Kanal, der in Russland schnell populär wurde. Vor kurzem hat das Projekt sogar den renommierten russischen medialen Teffi-Preis in der Kategorie „Interviewer“ gewonnen.

Serafim, Sie haben als Journalist für den orthodoxen Fernsehsender Spas gearbeitet und dann Ihren eigenen YouTubeKanal über den Glauben gegründet. In der Beschreibung des Kanals heißt es, es gehe um „Gott, Menschen und den gesunden Menschenverstand“. Wer interessiert sich dafür im modernen Russland?

Es war in erster Linie für mich selbst. Meines Erachtens verfügt die Kirche über keine gute Medienplattform, die von einer Diözese oder einer kirchlichen Stiftung unabhängig ist. Ich wollte eine solche christliche ­­Plattform schaffen, wo jeder kommen und alles sagen kann. Im Fernsehen war das unmöglich. Dort wird sogar der ins Studio eingeladene Gast im Voraus gefragt, was er von Putin hält. Die moderne gesellschaftspolitische Situation in Russland wirkt sich auf das Leben der Kirche und ihre Stimme aus, darauf, wie mutig und frei sie ist. Die Kirchenvertreter können nicht sagen, wie es mir scheint, was sie sagen müssten, oder einfach einer Person, die anders denkt, eine Stimme geben. Ich glaube, dass der christliche Journalismus auf anderen Grundlagen aufgebaut werden muss. Deshalb wollte ich unbedingt ein solches Projekt ins Leben rufen. Von der allerersten Ausgabe an sind wir super angekommen. In der Zeitung Novaya Gazeta wurde sofort über uns berichtet. Das heißt, dass diese Art von Diskurs erwartet wurde. Wir erhalten viele Rückmeldungen, auch von Atheisten, die (und das Interessanteste daran) dank unserem Kanal ihre Einstellung zur Kirche änderten. Wir sind jetzt seit einem Jahr aktiv und haben bereits fast 70.000 Abonnenten, und einige Videos erreichen über eine halbe Million Aufrufe.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem völligen ideologischen Chaos füllte die Orthodoxie allmählich dieses Vakuum. Die Kirche ist zur einzigen Institution geworden, die Menschen zusammenbrachte. Bis vor kurzem bezeichneten sich fast 80 Prozent der Russen als Christen. Wenn man bedenkt, dass in Russland viele Muslime leben, ist diese Zahl enorm. Und wie sieht es jetzt aus?

Ich bin gerade 25 geworden und habe diese Zeit der allgemeinen Begeisterung nicht mitbekommen. In Moskau, in den Kreisen in denen ich verkehre (ich studiere am Russischen Staatlichen Institut für Kinematographie), gab es schon immer eine eher ironische Haltung gegenüber der Kirche. Wenn ich sage, dass ich ein orthodoxer Christ bin, wird das immer mit Spott oder als Verdacht, dass ich ein Fanatiker bin, aufgefasst. Ich glaube, die Menschen sehen jetzt viele Dinge, die sie misstrauisch machen. Wenn zum Beispiel ein Metropolit einen Gouverneur an Orte in einer Kathedrale begleitet, an die ein normales Gemeindemitglied nicht gelangen kann. Es gibt eine Menge Fragen an die Kirche, eine Menge Probleme. Aber niemand in der Kirche ist bereit, darüber zu sprechen. Es stellt sich heraus, dass die Kirche nicht an der Meinung der einfachen Leute interessiert ist. Und diese Fragen stellen wir in unseren Programmen. 

Ich habe neulich auf der Straße soziale Werbung gesehen – der Patriarch gratuliert den Lehrern zu ihrem Berufstag. Ist das überhaupt notwendig?

Ich bezweifle, dass das notwendig ist. Ich denke, es ist eher erforderlich, mit dem Ruf der Institution des Patriarchats zu arbeiten. Das Misstrauen gegenüber dem Patriarchen, warum er teure Autos hat, usw., diese Fragen sollten beantwortet werden. Denn die Einstellung der Menschen gegenüber der Kirche ändert sich durch die Fragen an Patriarch Kirill. Aber in der Kirche geht es um Jesus Christus, nicht um den Patriarchen. Manchmal frage ich mich, warum es nicht möglich ist, diese Fragen ein für alle Mal zu beantworten, sie offen zu diskutieren, anstatt sie zu vertuschen. Ich habe großen Respekt vor dem Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, aber es steht mir nicht frei, ihm Fragen zu stellen. Niemand kann das tun, auch nicht beim Orthodoxen Jugendforum zum Beispiel. Dort gibt es kein offenes Mikrofon. Ich denke, dass der Patriarch und sein Gefolge der Meinung sind, dass es notwendig ist, sozusagen mit dem „Kern“ zu arbeiten, das heißt mit dem konservativen Teil der Kirche, ihrer „treuen Wählerschaft“. Aber es sind genau die Menschen, die keine Erklärungen brauchen. Ich hoffe, dass dahinter keine Gleichgültigkeit steckt.

Doch wenn man in die Kirche geht, sieht man, dass es dort nicht nur Großmütter, sondern auch viele junge Menschen gibt. Warum?

Ich kann nur über mich und mein Umfeld sprechen und nicht über einen abstrakten jungen Russen. Ich habe den Eindruck, dass die Orthodoxie ein Gefühl für die Fülle des Lebens vermitteln kann. Ich bin glücklich, ein reiches spirituelles Leben zu führen, und ich denke, dass ich das nirgendwo anders bekommen werde. Aber diese geistigen Schätze müssen durch alle Vorurteile hindurch „erreicht“ werden. Schließlich schlägt das Evangelium eine Veränderung vor, die für den modernen Menschen nicht einfach ist. Warum zum Beispiel das Fasten beibehalten, es sei doch archaisch! Ich bin überzeugt, dass der denkende Mensch, der sich existenzielle Fragen stellt, in die Kirche kommt. Aber im Prinzip beschäftigen die grundlegenden Fragen nach dem Leben, nach dem Sinn des Daseins, nach der Anwesenheit oder dem Fehlen Gottes viele Menschen nicht. Viele Menschen sind an diesen Fragen einfach nicht interessiert. Ein guter Freund von mir hat es mir so erklärt: „Ich lese das Evangelium nicht, weil mir klar ist, dass ich dann mein Leben nicht mehr so leben kann, sondern es ändern muss“.

Wenn Sie dem Patriarchen eine direkte Frage stellen könnten, was würden Sie ihm sagen? Welche Art von Erneuerung erwarten Sie von der Russisch-orthodoxen Kirche?

Für mich ist das Wichtigste, dass wir in der Kirche offen miteinander über unsere Probleme sprechen können. Ich schlage keine konkreten Reformen vor, ich bin dafür, dass man überhaupt reden kann! Die Angst, etwas Falsches zu sagen, ist so groß. Ich verstehe nicht, warum wir diese Angst haben sollten. Wir sind doch Menschen des Glaubens! In der Kirche sollte es Raum geben, um darüber zu sprechen, inwiefern wir mit dem Evangelium im Einklang sind. Wenn wir nicht mit den Menschen sprechen, verlieren wir sie.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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