„Es gab keinen Ausweg“: Erinnerungen einer Überlebenden über den Großen Vaterländischen KriegEwgenia Palievskaya mit Mann und Kindern, Foto aus Privatarchiv

„Es gab keinen Ausweg“: Erinnerungen einer Überlebenden über den Großen Vaterländischen Krieg

Am 22. Juni 1941 begann der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Im Zusammenhang mit diesem Datum veröffentlicht russland.NEWS Auszüge aus den Memoiren von Ewgenia Palievskaya, die den Ausbruch des Krieges in Smolensk überlebte.

Die in den 1970er Jahren verfassten Erinnerungen von E.P. Palievskaya (1912-2008) umfassen fast 30 Jahre Familiengeschichte. Aus der Familie der russischen Intelligenz stammend verbrachte sie eine ruhige Kindheit, ihre Jugend fiel mit den ersten Jahren der Sowjetmacht zusammen, dann dem Krieg, dem Leben unter deutschen Besatzern, in faschistischen Lagern und schließlich ihrer Rückkehr in die Heimat. Ihre Memorien waren nur für Familienangehörige geschrieben. Unter den damaligen Bedingungen konnte sie nicht einmal erwähnen, dass sie, ihr Ehemann, ihre Eltern und vier Kinder während des Krieges unter deutscher Besatzung und in Gefangenschaft waren. Wir bieten unseren Lesern einen Auszug aus diesen Erinnerungen über die Erlebnisse einer sowjetischen Familie in den ersten Monaten des Großen Vaterländischen Krieges. Die Auszüge aus den Memoiren wurden von Julia Palievsky vorbereitet und in der Zeitschrift „International Affairs“ veröffentlicht, mit deren freundlicher Erlaubnis wir sie übernehmen.

Das Neujahr 1941 haben wir im Kreis der Familie fröhlich gefeiert. Niemand konnte ahnen, was dieses Jahr mit sich bringen wird. Irgendwo im Inneren brodelte Angst vor dem unvermeidlichen Krieg, aber das Familienglück linderte die Angst vor der Zukunft. Silvester, Weihnachten, die wir immer besonders gefeiert haben, weil es mit dem Namenstag meiner Mutter und meinem eigenen zusammenfiel, die Beförderung von Wassja (Wasilij Palievsky, Ehemann) bei Smolstroj (ein Baukombinat von Smolensk), Kinder – eines ist besser als das andere, verbesserte Versorgung, dazu gute Märkte – alles hat sich zum Besseren gewendet und bereitete Freude. Auch die Feierlichkeiten zum 1. Mai erwiesen sich als fröhlich. Alle waren gesund, der Sommer und damit die Fahrt auf die Datscha standen vor der Tür. Unmittelbar nach den Mai-Feiertagen kam die Kälte und wir konnten nicht aufs Land fahren. Schließlich zogen wir am Freitag, den 20. Juni mit allen Habseligkeiten um. Wie ich mich jetzt erinnere, war das Gras wegen heftiger Regenfälle fast hüfttief. Am 22. Juni ging Wassja mit Petja (Pjotr Palievsky, der älteste Sohn) zu einer Feier mit seinen Arbeitskollegen.

Und plötzlich geschah etwas, wovor wir Angst hatten. „Es ist Krieg!“. Wassja kam angerannt und fuhr sofort in die Stadt. Durch die Bäume konnte ich deutlich die Straße sehen, auf der die Menschen bereits in Richtung Stadt zu Fuß liefen und fuhren. Voller Angst blieb ich allein mit den Kindern im Sommerhäuschen zurück. Spät am Abend kehrte Wassja zurück: „Morgen früh fahren wir in die Stadt, wer weiß, was passieren wird“.

Um acht Uhr morgens waren wir bereits in der Stadt. Smolensk war nicht wiederzuerkennen.  Alle waren beunruhigt, es gab schon niedergeschlagene und schweigende Flüchtlinge, die aus westlicher Richtung kamen. Sie erzählten nichts, aber ihr Aussehen sprach Bände. In der ersten Nacht – Alarm, das Brummen von Flugzeugen. Die Kinder schliefen komplett angezogen. In der zweiten Nacht verließen wir die Stadt mit einer großen Menschenmenge. Die Kinder gehen zu Fuß, jeder trägt ein Bündel in der Hand. Julia (die jüngste Tochter, damals 15 Monate alt) trage ich auf dem Arm. Die Nacht ist hell. Wir beschließen bei Freunden am äußersten Rand der Stadt zu übernachten. Die ganze Nacht können wir kein Auge zudrücken. Am nächsten Tag kündigt man im Radio an, dass es Kämpfe in Richtung Borissow gibt. Die Evakuierung der Kindergärten beginnt. Wassja sagt, ich soll mit den Kindern zur Kolchose am Bahnhof Dukhowskaja fahren, 20 km von Smolensk entfernt. Die Familien von Smolstroj werden dort untergebracht.

Am nächsten Tag kam ein Lastwagen an, und ich wurde mit den Kindern, einem Korb und sogar einem Kinderbettchen reinverladen. Der Wagen war schon voll mit Menschen und ihren Habseligkeiten. Ich verabschiedete mich von Wassja und fürchtete im Herzen, dass ich ihn nicht wiedersehen würde. Alle Frauen weinten. Ich hielt aber durch, weil es viel gab, worüber ich mir Sorgen machen musste: Niemand hatte so viele Kinder wie ich. Wir wurden in einem gut erhaltenen Herrenhaus untergebraucht, wo sich die Kolchosenleitung befand. In einer riesigen Halle nahm jede Familie eine „Ecke“ für sich ein. Wir machten Feuer, kochten einfaches Gebräu. Wir bekamen ein wenig Kartoffeln und noch etwas zu essen. Die Frauen mussten zur Feldarbeit gehen. Am ersten Tag war ich müde bis zur Erschöpfung: Man ging in einer Reihe, durfte nicht hinter denen zurückzubleiben, die vorausgingen und das Heu umdrehten. Spät am Abend, kamen Wassja und mein Vater an. Die Lage in der Stadt war wie folgt: Alle gingen zur Arbeit wie gewohnt, nur die Kinder werden evakuiert, nachts musste jeder die Stadt verlassen. Nichts wird erklärt, und niemand kennt die Situation an der Front. Jeder befolgt Befehle und bleibt, wo er ist.

Am nächsten Tag gelang es mir, zum Bahnhof Duchowskaja zu gehen. Als wäre es gestern, sehe ich unendlich lange Militärzüge vor meinen Augen: Güterwaggons voll mit Soldaten der Roten Armee. Vorne ein Funker mit Kopfhörern und seinem Funkgerät. Ich schaute in die Gesichter von Soldaten und wünschte jedem, dass er überleben würde. Ob es so war? Wahrscheinlich nicht. Am Abend des 28. Juni zünden wir kein Licht an, wir saßen alle auf der Veranda und warteten auf etwas. Plötzlich fielen ferne Schüsse und der Himmel war feuerrot. Wir springen auf und rufen: „Mein Gott, das Flugzeug brennt! Es brennt!“ Es ist zwanzig Kilometer weit entfernt, aber so hell wie am Tag. Der ganze Himmel vor uns ist feurig. Die Kinder schlafen. Petja ist wach, aber er hat Angst aufzustehen. Wir versuchen zu erraten, welcher Teil der Stadt brennt. Frühmorgens beschließen einige Frauen, in die Stadt zu gehen, um herauszufinden, was los ist. Mama, besorgt um Papa, geht auch weg. Ich verbringe den ganzen Tag in schrecklicher Angst. Spät in der Nacht kehren die Frauen zurück, Mama bleibt in der Stadt. Smolensk wird an verschiedenen Orten von Bombenexplosionen erleuchtet. Das Feuer geht weiter. Der obere Teil der Stadt und das Zentrum sind komplett verbrannt.

Zwei Tage später kommt Wassja und sagt, wir sollen weitere vierzig Kilometer aus der Stadt in das Zementwerk ziehen. Man hat ihm versprochen, uns dort eine „Ecke“ zu geben. Am 5. Juli machten wir uns auf den Weg. Es war eine Landstraße. Rundum war es absolut ruhig. Ich hatte Angst, als ich daran dachte, was uns erwartet. Mitten am Tag kamen wir am Dnjepr an. Wir nehmen die Fähre. Als wir in der Mitte des Flusses waren, hörten wir plötzlich das Donnern eines Flugzeugs. Wir hatten nicht einmal Zeit, uns zu erschrecken, so schnell war es schon wieder weg. Aber wir haben die schwarz-weißen Kreuze deutlich gesehen. Wahrscheinlich wollte der Pilot seine Kugeln an uns nicht verschwenden. Der Fährmann sagte: „Gott hat uns geholfen, ich dachte, der Tod sei gekommen.“

Gegen Abend erreichten wir das Dorf Subrowka, wo sich das Zementwerk befand. Ich bekam eine „Ecke“, durfte auf einem Herd kochen. Die ganze Nacht hörte ich das Donnern von Flugzeugen und Schüsse aus der Ferne. Am Morgen des 7. Juli – traurige Nachricht: In der Nähe des Dorfes stürzte ein sowjetisches Flugzeug ab. Ein Pilot verbrannte vollständig, der andere überlebte. Die Dorffrauen versuchten ihm zu helfen, aber er war nicht mehr zu retten. Am Nachmittag kam ein Beamter, um alle Frauen, die eine Schaufel halten konnten, zum Graben von Panzerabwehrbefestigungen zu rekrutieren. Sie wollten mich auch mitnehmen, aber ich habe mich geweigert. Julia, die jüngste, war ein Jahr und drei Monate alt, Mischa – zweieinhalb, Ljalja – vier Jahre, und Petja wurde am 1. Mai neun Jahre alt.

Abends beginnt unerträgliche Angst meine Seele zu füllen. Ich bin ganz allein mit vier Kindern und lausche jedem Geräusch. Die ganze Nacht fliegen Flugzeuge. Wo fliegen sie hin und sind das deutsche oder sowjetische? Am 8. Juli, spät in der Nacht, kam Wassja. Die Situation in der Stadt hat sich nicht verändert. Alle arbeiten am gewohnten Arbeitsplatz. Im Radio sagen sie immer dasselbe: „Kämpfe in Richtung Borissow …“ Viele Bewohner versuchen zu fliehen, womit sie können. Jeder Tag bringt Angst und völlige Ungewissheit. So geht es bis zum 16. Juli weiter. Am frühen Morgen des 16. Juli kommen die ersten Flüchtlinge an Subrowka vorbei. Auf Fahrrädern, in Kinderwagen, mit einem Bündel in der Hand, der eine treibt eine Kuh vor sich hin, der andere trägt einen Sack auf dem Rücken. Es waren sehr viele. Sie eilten vorbei, beantworteten nicht unsere Fragen. Wir haben nur eines verstanden: Smolensk ist entweder bereits besetzt oder die Deutschen sind kurz davor, die Stadt zu besetzen. Meine innere Stimme sagt mir, ich soll nicht wie die anderen in Panik geraten, sondern noch etwas abwarten. Vielleicht bekomme ich Neuigkeiten über Wassja oder er kommt selber. Ich packe meine Kinder, ziehe ihnen Wintersachen an und binde Geld und Dokumente auf der Brust. Die Kinder scheinen den Ernst der Lage zu verstehen und sitzen ruhig da.

So vergeht der Tag, der Flüchtlingsstrom hört nicht auf. Und plötzlich höre ich das Auto rumpeln. Oh, mein Gott! Wassja kam, mit ihm seine Mutter und seine Schwester. Verstaubt und aufgeregt, erzählen sie: Um fünf Uhr morgens wurden sie auf dem Weg in die Stadt von unseren sich zurückziehenden Militäreinheiten gestoppt. Es wurde angewiesen, sich in Richtung Jelninskiy zu bewegen, um nach Koslow zu gelangen, wo sich das Wehrkommando befindet. Wassja muss sich zum Militärdienst melden. Wir haben uns entschieden, sofort hinzugehen.

Schmaler Waldweg, ausgetrockneter Lehm, Schlaglöcher, das Auto kommt kaum durch. Viele Flüchtlinge sind zu Fuß unterwegs. Es wird dunkel, als wir bei irgendeinem Dorf ankommen. Dorfbewohner sagen uns, man könne nicht mehr weitergehen. Wir seien umzingelt, acht Kilometer vom Bahnhof Glinka entfernt. Wir hören eine Schießerei, die Nacht bricht herein. Am nächsten Morgen nahmen wir den Weg hinter dem Dorf. Zwei Rotarmisten rannten auf uns zu: „Wo wollt ihr hin? Seht ihr nicht, die Deutschen kommen!“ Wir sind sofort zu Boden gegangen. Hinter dem Roggen sieht man grüne Autos in Kolonnen vorbeifahren. Wir eilten zurück ins Dorf, wo die Kinder schliefen. Unsere Männer rollten den Wagen in die Scheune, wir versteckten uns im Haus. Der Tag blieb ruhig.

Was sollen wir tun? Einige, die mit uns gekommen sind, beschließen, nach Smolensk zurückzukehren: zu Hause helfen sogar die Wände, wie man so schön in Russland sagt. Aber wir müssen nach Koslow, wir haben Männer im Wehrdienstalter. Zwei Rotarmisten schlichen am Zaun. „Habt keine Angst, Genossen, hier gibt es keine Deutschen“. Wir gaben ihnen so viel zu essen, wie wir konnten. Die Soldaten erzählen uns, sie seien von der 20. Armee und wir sind eingekreist. Es wird aber einen Durchbruch geben, und dann können wir weitergehen. Mitten in der Nacht kam eine weitere Gruppe von Soldaten. Unter ihnen ein politischer Aktivist, namens Safronow. Er bittet mich, etwas für die Soldaten zu kochen, die sich im Wald verstecken. Frühmorgens kochte ich für die Versteckten zwei Eimer Suppe. Aber unsere Vorräte neigten sich dem Ende zu. Ich ging ins Dorf, um etwas zu holen. Dreimal kamen Soldaten zu uns, und dann nicht mehr. Hoffentlich sind sie durchgebrochen und nicht von deutschen Kugeln getroffen.

Plötzlich gab es eine Ankündigung von der deutschen Besatzungsmacht: „Diejenigen, die sich in den Dörfern verstecken, müssen sich umgehend an ihrem Vorkriegswohnsitz melden, andernfalls werden sie verhaftet“. Die Dorfbewohner wurden unruhig und wollten die Flüchtlinge loswerden: „Geht weg, verschwindet! Sie werden uns hier wegen euch umbringen. Hier könnt ihr nicht mehr bleiben“. Was sollten wir tun? Es gab keinen Ausweg. Im nächsten Dorf holte ich Milch und wusch die Kinder im Fluss. Wir übernachteten dort. Die Hausbesitzerin sagte, dass die Deutschen die Juden in ein Sonderlager schicken, jeder mit einem gelben Fleck auf dem Ärmel. Am nächsten Tag wurden alle Flüchtlinge in die Stadt zurückgetrieben.

Aus dem Russischen übersetzt von Daria Boll

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