„Es ehrt mich, wenn eine Frau mir vertraut“ – Igor Chapurin, russischer Modedesigner mit Weltruf, über die Herausforderungen in Mode und im Leben

„Es ehrt mich, wenn eine Frau mir vertraut“ – Igor Chapurin, russischer Modedesigner mit Weltruf, über die Herausforderungen in Mode und im Leben

Igor, ich habe irgendwo gelesen, dass man Sie den russischen Armani nennt? Was halten Sie von diesem Vergleich?

Journalisten lieben Vergleiche. Slawa Saizew, der der erste russische Modemacher war, der im Westen geliebt wurde, hat den Spitznamen „Russischer Dior“ bekommen. Ich liebe die Reinheit der Proportionen und den Komfort, den Armani hat. Sein Grundprinzip ist es, darüber nachzudenken, wie sich Menschen in seiner Kleidung fühlen, was mir auch sehr nahe geht. Für mich ist dieser Vergleich also eine große Ehre, weil es ein großer, bereits historischer Name ist.

Sie sind überall als der Mann bekannt, der die ersten Damen des Landes einkleidet. Was bedeutet das für Sie? Ist es hinderlich oder hilfreich?

Ich wurde in eine Familie von Menschen aus der Leichtindustrie hineingeboren. Meine Mutter begann als einfache Schneiderin und wurde später Direktorin einer Nähfabrik, während mein Großvater ein Spezialist für die Leinenverarbeitung war. Es war nie mein Ziel, irgendetwas für die Karriere zu tun. Meine erste Kundin in Moskau war die große russische Schauspielerin Alla Demidowa, und später kam Ljudmila Putina. Aber es machte mir keine Angst, denn meine Eltern hatten mich gelehrt, alle Menschen zu respektieren. Ich habe Kleider für Whitney Houston und Beyoncé entworfen. Es ehrt mich, wenn eine Frau mir vertraut. Jede Frau. Ob die Präsidentengattin oder ein Weltstar, Frauen kommen zu einem Designer wie ein Patient zum Arzt. Sie sind offen und entblößt, daher trage ich eine große Verantwortung.

Russland betont immer wieder gern seine besondere Identität. Ist die russische Mode also auch ein besonderes Phänomen?

Zu Sowjetzeiten lebte die Mode bei uns ein Eigenleben, weil wir keinen Zugang zu globalen Trends hatten. Man konnte damals nicht einmal die Vogue kaufen. Als sich die Grenzen öffneten, wurde Slawa Saizew mit seinen Goldstickereien für Europa interessant. Ich habe zwölf Modeshows auf der Pariser Modewoche gemacht, aber ich hatte nie den Anspruch, etwas typisch Russisches zu zeigen. Ich habe über Russland durch die Kultur gesprochen. So habe ich zum Beispiel Shows gemacht, die „Anna Karenina“ oder „Lolita“ hießen. Aber meine Sprache war modern, nicht folkloristisch. Es ist wahr, dass die ältere Generation von Lehrern in Russland immer noch glaubt, dass es notwendig ist, den Weg der Folklore zu gehen, um eine Art von russischer Sprache zu suchen. Aber das ist falsch. Die japanischen Modedesigner konnten sich erst in die Weltmode integrieren, als sie aufhörten, Kimonos herzustellen. Und trotzdem hat zum Beispiel Yamamoto seine Authentizität behalten. Ich, zum Beispiel, habe immer Luxus gemacht, aber mit einem großen Element der Sinnlichkeit und gleichzeitig einer Liebe zur Konstruktion. Diese Verbindungen sind etwas, wenn man so will, typisch Russisches. Aber eigentlich ist es egal, wer die Schönheit geschaffen hat – Russe, Jakute oder Franzose.

Sollte ein Modeschöpfer nicht wiedererkennbar sein?

Es scheint mir, dass Journalisten uns diese Idee aufzwingen. Claude Montana ist wiedererkennbar, aber Miuccia Prada macht jede Saison eine komplett andere Kollektion, die sich endlos verändert und ihre Fans überrascht. Und ich habe keine Angst, jedes Mal anders zu sein, mal monochrom, und dann auch mal mit Lederrüschen und brutaler Weiblichkeit.

Was hat die Pandemie an der Einstellung zur Mode verändert? Es besteht keine Notwendigkeit für Businessanzüge oder Abendkleider mehr. Wird also Casual siegen?

In der Geschichte hat es bereits Pandemien gegeben. Heute, in unserem High-Tech-Zeitalter, werden wir mit der Krankheit fertig. Ich erinnere mich, dass sich Ende des 20. Jahrhunderts jeder fragte, was die Menschen im 21. Jahrhundert wohl tragen würden. Man stellte sich vor, dass es nur Metallstrukturen, Raumanzüge und synthetische Stoffe geben wird. Und was erleben wir heute? Wir lieben Naturseide und Leinen. Ich bin also zuversichtlich, dass sich die Welt erholen wird. Ich bin von Natur aus ein Kämpfer. Also kämpfe ich, ich will Schönheit schaffen. Vielleicht bin ich ein Idealist, aber ich blicke in die Zukunft. Ich kann nicht etwas Kleines und Praktisches machen. Denn das würde uns vergessen lassen, wie man Schönheit erschafft. Ja, wir haben weniger Kunden. Aber es gibt sie. Wir haben eine zweite Budgetlinie geschaffen und gehen neue Projekte an, die in Bezug auf den Luxus riskant sein können. Ich glaube, dass eine Frau immer individuell sein will, sich selbst erneuern will. Das ist meine Antwort auf diese Herausforderung der Zeit.

Der nächste Trend ist die Ökologie. Wie verändert dies Ihre Kollektionen?

Sehr sogar. Ich mag es allerdings nicht, wenn es nur für das Image, nur für Werbezwecke gemacht wird. Echte Luxusmode ist Öko-Mode. Wenn meine Kundinnen mir sagen, dass sie meine Kleider schon seit vielen Jahren tragen, macht mich das sehr glücklich. Deshalb bin ich froh, dass ich mich nicht im Bereich des Massenmarktes bewege und kein endlos unnötiges Produkt erzeuge. Denn Qualität ist ein moderner Luxus. Es ist sehr teuer, Luxus zu schaffen.

Und dieser Trend zur Body Positivity?

Der Trend zu unförmigen Silhouetten, die Mode auf Oversize verändert sogar die Körperhaltung eines Menschen völlig. Die Menschen hören auf, einen gesunden Lebensstil zu führen, sie denken nicht an ihre Figur. Deshalb denke ich, dass es eine gefährliche Zeit ist. Wenn ich selbst einen Hoodie und eine Jeans anziehe, merke ich, dass ich sogar anders sitze. Aber ich respektiere Menschen, die ihren Körper so lieben, wie er ist. Sie neigen dazu, positiv zu sein und ich weiß, wie man sie schön aussehen lässt. Menschen zu lieben ist im Designberuf sehr wichtig, denn dann offenbart man sich selbst.

Mögen Sie deutsche Modemacher?

Deutsche Mode ist für mich nicht einmal Karl Lagerfeld, sondern Jil Sander. Ich mag ihre Sinnlichkeit, die überraschenderweise mit Minimalismus und einem großen Sinn für Farben kombiniert wird, sehr. Sie ist eindeutig eine einzigartige Meisterin.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

Fotos: © Chapurin

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