Ende der Ukrainekrise in Sicht? Erfolgsaussichten des anstehenden Gipfeltreffens

Ende der Ukrainekrise in Sicht? Erfolgsaussichten des anstehenden Gipfeltreffens

[von Anastasia Petrowa] Manch einer mag des Themas „Ukrainekrise“ mittlerweile überdrüssig sein – ganze sechs Jahre lang befindet sich das Land nun schon im Chaos, auch wenn die nachlassende mediale Aufmerksamkeit womöglich ein anderes Bild vermittelt. Schon länger lässt sich kaum noch nachvollziehen, was in der Ukraine eigentlich gerade passiert. Dabei sind Frieden und politische Stabilität in der Ukraine für Europäer und Russen von großer Wichtigkeit. Möglicherweise hängt hiervon sogar der europäische Frieden ab, da das Land wie ein Puffer zwischen der EU und Russland fungiert. Am 9. Dezember findet nun das nächste Gipfeltreffen im Normandie-Format in Paris statt; vielleicht lässt sich endlich auf Frieden in der Ukraine hoffen?

Überblick über den bisherigen Verlauf des Konflikts

Rufen wir uns noch einmal die wichtigsten Begriffe, die mit dem Friedensprozess in der Ukraine verbunden sind, in Erinnerung. Das Normandie-Format ist eine Kontaktgruppe auf Regierungs- und Außenministerebene zwischen Russland, Deutschland, Frankreich und der Ukraine zu Fragen der Ukrainekrise. Aus der Arbeit des Formats gingen die Minsker Abkommen hervor, die den Waffenstillstand in der Ostukraine und den Rückzug schweren Kriegsgeräts unter Überwachung der OSZE vorsahen. Anschließend sollten Wahlen in den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk (DVR und LVR) gemäß der ukrainischen Gesetzgebung abgehalten werden. Außerdem sollte das ukrainische gesetzgebende Organ „Werchowna Rada“ ein Gesetz über den Sonderstatus der Territorien DVR und LVR verabschieden. Auf die Frage hin, in welcher Reihenfolge diese Schritte vollzogen werden sollten, hatte der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier einen Vorschlag unterbreitet. Die sogenannte „Steinmeier-Formel“ sieht ein provisorisches Inkrafttreten des Gesetzes über den Sonderstatus noch am selben Tag der Stimmabgabe im Donbass vor, ein dauerhaftes Inkrafttreten, nachdem die OSZE die Wahlen als rechtmäßig und frei anerkannt hat. Die Werchowna Rada sprach sich jedoch gegen diese Vorgehensweise aus, da die Abgeordneten befürchteten, dass dann die Wahlen unter Kontrolle der „Separatisten“ durchgeführt und Oppositionskandidaten gar nicht erst kandidieren würden.

Das Hauptergebnis dieses Prozesses ist, dass keine nennenswerten Fortschritte erreicht wurden: der Waffenstillstand wird immer wieder verletzt, die Wahlen hatten nicht stattgefunden und das geplante Gesetz wurde nicht verabschiedet. Das letzte Treffen im Normandie-Format fand vor drei Jahren statt.

Die Bemühungen des neuen ukrainischen Präsidenten

Im Jahr 2019 fand dieser Stillstand schließlich ein Ende. Am 21. April 2019 wurde Wolodymyr Selenskyi zum neuen Präsidenten der Ukraine gewählt, dessen Hauptwahlkampfversprechen die Beendigung des Krieges in der Ostukraine war. Selenskyi kritisierte die Minsker Abkommen, versprach aber dennoch, sie für die Wiederherstellung des Friedens in der Ukraine umzusetzen.

Hierfür hatte er eigentlich alle Werkzeuge, die er brauchte, insbesondere das Parlament unter seiner Kontrolle. Seine Partei „Diener des Volkes“ gewann die Mehrheit bei den vorgezogenen Wahlen der Werchowna Rada. Auf dem Weg zum Frieden gab es jedoch zwei Hindernisse: erstens, die Bedingungen Russlands für ein bilaterales Treffen der Präsidenten bzw. ein Gipfeltreffen im Normandie-Format (dessen Bedingungen auch von Deutschland und Frankreich unterstützt wurden) und, zweitens, der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung.

Russlands Hauptbedingungen für ein Gipfeltreffen waren eine schriftliche Verpflichtung zur Anwendung der „Steinmeier-Formel“ sowie der Abzug von Streitkräften aus dem Gebiet um Petrovsky und Zolotoy. Selenskyi erfüllte diese Bedingungen: am 1. Oktober wurde ein schriftlicher Wortlaut der Formel verabschiedet und der Abzug der Truppen mit Vertretern des Donbass vereinbart. Infolgedessen bestätigte der Sprecher des russischen Präsidenten Dmitri Peskow am 18. November, dass am 9. Dezember 2019 in Paris ein Treffen im Normandie-Format stattfinden werde.

Die Folgen der „Steinmeier-Formel“

Diese Zugeständnisse waren Selenskyi jedoch kaum von Nutzen. Schon zu Beginn seiner politischen Karriere wurde er scharf von ukrainischen Nationalisten kritisiert, die sich bis heute für eine militärische Lösung der Krise in der Ostukraine einsetzen. Die Annahme der „Steinmeier-Formel“ löste vor allem unter ihnen eine neue Welle der Empörung aus. Einige Stunden nach der Genehmigung der Formel kam es in Kiew und anderen ukrainischen Städten zu Massenprotesten, die hauptsächlich von nationalistischen Gruppen organisiert wurden. Auch der ehemalige Präsident Petro Poroshenko nahm daran teil. Die Demonstranten beschuldigten Selenskyi des Verrats; außerdem versuchten die nationalistischen Kommandeure der Anti-Terror-Operation (ATO), den Truppenabzug in Petrovsky und Zolotoy zu sabotieren, sodass der Abzug erst am 12. November gelang.

Die Annahme der „Steinmeier-Formel“ wurde von allen Parteien, mit Ausnahme der „Diener des Volkes“ und der Oppositionsplattform „Für das Leben“ (die die Wähler aus der Ostukraine vertritt), kritisiert. Selenskyis Gegner bemängelten, dass die OSZE entsprechend der Formel die Wahlen einfach anerkennen könne, damit der Sonderstatus der Gebiete der DVR und LVR dauerhaft anerkannt würde. Ihrer Meinung nach akzeptierte Kiew zu viele Bedingungen, ohne irgendwelche Garantien zu erhalten – besonders von Russland.

Und was denken jene ukrainischen Bürger, die weder politischen noch nationalistischen Gruppen angehören? Umfragen zufolge wissen 60% der Ukrainer nicht, was die „Steinmeier-Formel“ ist und fast ebenso viele sprechen sich für Wahlen im Donbass aus, vorausgesetzt, dass die Region unter die vollständige Kontrolle der Ukraine zurückkehrt[1].

Erwartungen an das kommende Treffen im Normandie-Format

Das nächste Gipfeltreffen im Normandie-Format findet in Paris statt. Damit ist Frankreich als Gastgeberland dafür verantwortlich, dass der Gipfel ordnungsgemäß verläuft und Verhandlungen oder Unterzeichnungen neuer Abkommen nichts im Wege steht. Generell unterstützt die französische Regierung die Minsker Abkommen und hofft, dass der nächste Gipfel zu einer Umsetzung beitragen wird, wie Emmanuel Macron in Telefongesprächen mit Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyi mitteilte. Deutschlands Position unterscheidet sich kaum von der französischen: Laut der deutschen Botschafterin in der Ukraine sind die Maßnahmen der Minsker Abkommen genau die richtigen Mittel zur Beendigung des Konflikts[2]. Darüber hinaus unterstützen sowohl Deutschland als auch Frankreich die Bedingungen Russlands für das Abhalten des Gipfels im Normandie-Format.

Obwohl Russland jene Seite zu sein scheint, die mit „Nachsicht“ an den Verhandlungen teilnimmt, weil sie deren Bedingungen festgelegt hat, darf nicht vergessen werden, dass der Erfolg dieses Gipfels auch für Russland von großer Wichtigkeit ist: Die EU verknüpft die Umsetzung der Minsker Abkommen mit der Aufhebung der antirussischen Sanktionen. Deshalb hofft der russische Außenminister, dass die europäischen Kollegen die Ukraine bei dem geplanten Treffen dahingehend beeinflussen, dass sie weiterführende Maßnahmen zur Umsetzung der Minsker Abkommen ergreift.

Die Position der Ukraine kurz vor dem Gipfel, für dessen Stattfinden sie so hart gekämpft hat, ist uneindeutig. Einerseits setzt sie die Minsker Abkommen um, andererseits erklärte das ukrainische Außenministerium nun die Möglichkeit, aus dem Abkommen auszutreten und eine Art „Friedensdurchsetzungsmission“ im Donbass durchzuführen. Am 4. Dezember forderten die ukrainischen Parteien „Europäische Solidarität“, „Golos“ und „Batkivshchyna“ die Bürger auf, an Demonstrationen zum „Vorabend des Gipfels“ teilzunehmen. Diese Demonstrationen sollen die Behörden an die sogenannten „roten Linien“ während der Verhandlungen erinnern. Hierzu gehören insgesamt fünf Punkte:

1) Keine Kompromisse in Bezug auf einen Einheitsstaat und keine Föderalisierung
2) Keine Kompromisse hinsichtlich des europäischen und euro-atlantischen politischen Kurses
3) Keine politischen Aktionen im Donbass (einschließlich Wahlen) bis zur Erfüllung der Sicherheitsbedingungen
4) Keine Kompromisse in Bezug auf den Abzug der Truppen und die Rückkehr der Krim in die Ukraine
5) Keine Einstellung der internationalen Gerichtsverfahren gegen Russland

Wird Paris nun die Stadt sein, wo das Ende des Kriegs in der Ukraine besiegelt wird? Wenn die ukrainische Seite ihren neuen Kurs fortsetzen und strengere Forderungen bis hin zur Aufkündigung der Minsker Abkommen stellen wird, werden vermutlich keine Fortschritte erzielt. Im Gegenteil könnte dies zu einer Eskalation des Konflikts führen. Werden die Verhandlungen jedoch in dem von Russland, Deutschland und Frankreich festgelegten Rahmen fortgeführt, dann werden die Schritte zur Umsetzung der Minsker Abkommen sicherlich den genannten „fünf Punkten“ widersprechen. Ein weiteres Hindernis wird zudem das Thema Krim sein. Die ukrainische Seite wird dieses Thema sicherlich erneut ansprechen, was wiederum für Russland inakzeptabel ist.

Außerdem darf die Stimmung der ukrainischen Gesellschaft nicht vergessen werden. Trotz des kontrollierten Parlaments und der nach wie vor anhaltenden Popularität von Selenskyi, ist eine friedliche Konfliktbeilegung fraglich. Jeder Schritt in Richtung Donbass und Russland könnte für Selenskyi zu einer ernsthaften innenpolitischen Krise führen. In diesem Fall wäre die Umsetzung neuer Verpflichtungen viel komplizierter, als die aktuellen Verhandlungen fortzuführen.

Höchstwahrscheinlich werden alle Teilnehmer der Verhandlungen ihre Standpunkte zur Umsetzung der Minsker Abkommen äußern. Vielleicht wird ein neues Dokument unterschrieben, doch die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es am Ende niemand umsetzen wird. Daher ist es fraglich, ob von dem geplanten Treffen am 9. Dezember viel erwartet werden darf. Es scheint, dass der Friedensprozess in der Ukraine in dieser Phase nicht mehr von dem politischen Willen der Teilnehmer des Normandie-Formats abhängt. Zu viele Interessenskonflikte erschweren mittlerweile eine Lösung, die für alle Seiten annehmbar ist.

[Anastasia Petrowa/russland.news]

Quellen:

[1] https://www.pravda.com.ua/rus/news/2019/10/2/7227900/

[2] https://regnum.ru/news/polit/2782695.html

Foto: en.kremlin.ru, Creative Commons 4.0

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