Ekaterina Schulmann: „Wir müssen uns weiter mit Russland befassen“

Ekaterina Schulmann: „Wir müssen uns weiter mit Russland befassen“

Ekaterina Schulmann ist die bekannteste Politologin Russlands. Sie hatte ihre eigene Sendung beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy, bis er geschlossen wurde. Ihr YouTube-Kanal hat mehr als eine Million Abonnenten. Seit April dieses Jahres ist sie Fellow der Robert-Bosch-Stiftung in Berlin. Mit russland.NEWS sprach Ekaterina Schulmann über ihren Status als „ausländische Agentin“ und über die aktuelle Stimmung in Russland.

Frau Schulmann, die erste fast obligatorische Frage: Was fühlen Sie sich in der Rolle eines „ausländischen Agenten“? Sie sagen in all Ihren Interviews, dass Sie nach Russland zurückkehren wollen. Ist das nicht riskant?

Ekaterina Schulmann: Natürlich ist es ein Risiko, das von vielen meiner Kollegen in der Praxis bestätigt wurde. Von welchen Risiken ist die Rede? Erstens, das Risiko der Strafverfolgung. Bisher habe ich eine Verwaltungsgebühr von 10.000 Rubel zahlen müssen, weil ich meine Texte nicht mit einem Hinweis versehen habe, dass ich ausländische Agentin bin (was auch immer das heißen mag). Dies fechte ich vor Gericht an. Nach zwei Verwaltungsstrafen innerhalb eines Jahres folgt beim dritten Mal eine strafrechtliche Verfolgung nach Artikel 330 Absatz 1 des Strafgesetzbuchs.  

Strafsachen können jedoch aus dem Nichts entstehen und nicht mit dem Status eines ausländischen Agenten zu tun haben. Diese Risiken gab es jedoch schon früher. Jetzt haben sie sich noch verstärkt – oder besser gesagt, ihre Wahrscheinlichkeit ist gestiegen. Jeder entscheidet für sich selbst, welches Gleichgewicht zwischen seinen Ressourcen und den Gefahren besteht, die er bereit ist, auf sich zu nehmen. Dennoch möchte ich mir eine dauerhafte Trennung von meiner Heimat nicht vorstellen. Ich kann nicht anders als traurig sein über eine solche Massenflucht von gebildeten Menschen aus Russland, die für das Land offensichtlich von Nutzen waren. Das Wort derer, die außerhalb des Landes sprechen, die nicht in dem Land sind, die nicht mit ihm erleben, was es erlebt, ist weniger wert, weil diejenigen, die sprechen, weniger Risiken eingehen. Andererseits können diejenigen, die zurückbleiben, kaum reden. 

Viele politische Analysten sagen, dass man Meinungsumfragen in Russland nicht trauen kann und dass es keine 80 Prozent gibt, die den Krieg angeblich unterstützen. Aber wie kann man dann die Stimmung in der Gesellschaft überhaupt messen? 

Unter den Bedingungen der militärischen Zensur und der Massenangst (das Ausmaß dieser Angst kann anhand der Angstbewertungen der Russen nachvollzogen werden, die Jahr für Jahr vom Lewada-Zentrum ermittelt werden) ist es schwierig, von den Menschen Offenheit zu erwarten. Vor allem, wenn sie nach dem gefragt werden, was im Strafgesetzbuch steht (die Missbilligung der militärischen Sonderoperation gilt in Russland als Straftat). Hier ist es wichtig, die Verweigerungsquote (die nicht von allen soziologischen Diensten veröffentlicht wird, bei telefonischen Umfragen jedoch 90 Prozent und mehr beträgt), die Formulierung der Fragen, die Aufschlüsselung der Antworten und natürlich die Dynamik der Indikatoren zu berücksichtigen.  

Erinnern wir uns allgemein daran, dass die Umfragesoziologie aus der Marktforschung kommt, das heißt aus dem Wunsch zu verstehen, was Kunden wollen. Und aus der Wahlforschung, also aus dem Wunsch, die Stimmung der Wähler zu verstehen. Beide befassen sich mit den Meinungen von Menschen, die ihre Meinung in ein Verhalten umsetzen können, im Falle des Wählers in eine Stimme, im Falle des Verbrauchers in einen Kauf. Deshalb sind Meinungen wichtig. Und wenn eine Person keine Wahl, keine Mittel, keine Stimme, keine Alternative hat, warum sollten wir dann ihre Meinung kennen? Die Soziologen antworten uns: „In einer entpolitisierten Gesellschaft ist es dennoch nützlich, die Dynamik der öffentlichen Meinung zu kennen, denn die Angst vor möglichen Protesten beeinflusst die Entscheidungen der Regierung.“

In einer Situation, in der die Wahlmöglichkeiten begrenzt oder riskant sind, muss man sich eher mit indirekten Fragen beschäftigen als mit direkten. Wenn Sie gefragt werden, ob Sie die militärische Sonderoperation gutheißen oder 15 Jahre Gefängnis wollen, werden Sie wahrscheinlich antworten: „Ich bin dafür“. Aber aus den Antworten auf die Fragen nach den eigenen Perspektiven, danach, ob Veränderung oder Stabilität wichtiger ist, können wir besser verstehen, was in der Gesellschaft passiert. 

Es gibt Langzeitstudien des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften. Von 2010 bis 2021 ist eine Dynamik der Antworten auf die Frage nach dem politischen System in Russland zu beobachten: ein starker Rückgang des Anteils derjenigen, die mit allem zufrieden sind, und ein Anstieg der Zahl derjenigen, die radikale Reformen wünschen, während gleichzeitig der Anteil derjenigen zunimmt, die glauben, dass die Angelegenheit durch schrittweise Reformen gelöst werden kann.

Aber im Allgemeinen tappen wir weitgehend im Dunkeln und wissen nicht, wovon unsere Gesellschaft lebt, was für sie wichtig oder nicht wichtig ist. 

Ihr Fachgebiet ist die Rechtsetzung. Die heutige Duma erlässt ein obskures Gesetz nach dem anderen. Unerwartet wird aber ein Gesetz, das Gefängnisfolter unter Strafe stellt, verabschiedet. Wie hängt das miteinander zusammen?

Die Einführung eines eigenen Straftatbestands für Folter im Strafgesetzbuch ist seit vielen Jahren eine Forderung der Menschenrechtsgemeinschaft. Im Januar 2022 nahm ich an einem runden Tisch in der Staatsduma teil, an dem diese Änderungen diskutiert wurden. Zugegen waren Mitglieder des Komitees gegen Folter sowie der Menschenrechtsaktivist Lew Ponomarjow, Vertreter des Innenministeriums, des Föderalen Strafvollzugsdienstes und der Generalstaatsanwaltschaft. Die Änderungen waren bereits ins Parlament eingebracht worden, aber es gab viele Beschwerden von Menschenrechtsaktivisten. Ich erinnere mich, dass der Abgeordnete Pavel Krascheninnikow uns damals sagte, dass wir die sich bietende Gelegenheit nutzen sollten: Es ist einfacher, ein bestehendes Gesetz später zu korrigieren. Als Beispiel nannte er sein Gesetz „Ein Tag für eineinhalb Tage“: Ein Tag in einer Untersuchungshaftanstalt sollte bei der Berechnung einer Haftstrafe als eineinhalb Tage angerechnet werden. Das Gesetz wurde 2008 eingebracht und erst 2018 verabschiedet. 

Die Trägheit der Gesetzgebungsmaschinerie ist groß, was uns manchmal zum Vorteil gereicht. Nun gibt es eine Änderung des Strafrechts, obwohl seit Januar die politische Agenda und die Ausrichtung der legislativen Arbeit der Duma auf den Kopf gestellt wurden. 

Sie leben und arbeiten seit April in Berlin. Wie beurteilen Sie die Russlandkompetenz der deutschen Wissenschaft? 

Der Zugang zu persönlichen Kontakten mit Kollegen und zu wissenschaftlichen Ressourcen ist ein unschätzbares Privileg, das ich hoffentlich in vollem Umfang nutzen werde, solange ich in Deutschland bin. Es gibt viele Menschen, die sich mit Russland beschäftigen; Berlin ist seit jeher eines der weltweiten Zentren der Russlandforschung. Regelmäßig werden Studien über unsere sozio-politischen Gegebenheiten veröffentlicht, die auf hohem wissenschaftlichem Niveau durchgeführt werden. Schmeicheln wir uns nicht mit der Vorstellung, dass wir so geheimnisvoll sind, dass uns niemand versteht. Politikwissenschaftler, die sich mit Russland befassen, versuchen nun, die Frage zu beantworten: Was haben wir versäumt, wo haben wir uns geirrt? Ich hoffe, dass meine Kollegen und ich nach dieser notwendigen Phase Schlussfolgerungen ziehen werden, aber alle unsere früheren Arbeiten nicht als vergeblich ablehnen werden, nur weil sie einen Tag in der Geschichte nicht vorhersagen konnten. Das ist gefühlsmäßig verständlich, aber wissenschaftlich falsch. 

Wir alle haben eine Menge Arbeit vor uns, und es ist schwierig und beängstigend, damit anzufangen, denn nur wenige von uns sind in guter Verfassung: Traumata wie die, die wir erlebt haben, gehen nicht weg. Aber wir müssen uns weiter mit Russland befassen und es im Zusammenhang mit dem sehen, was jetzt passiert. Ich erwarte, dass der verstärkte Fokus auf die Ukraine dazu führen wird, dass wir Russland nicht mehr als Insel, sondern als Teil eines Kontinents betrachten, der mit anderen Teilen davon verbunden ist. Ich hoffe, dass die reflexartige Reaktion auf das Entsetzen über die Geschehnisse, als man russische Wissenschaftler nicht mehr zu Konferenzen einlud, vorübergehen wird. Sie werden in der Lage sein, die Spreu vom Weizen zu trennen: Nur wenige Menschen wollen Scharlatane und Propagandisten auf ihrer wissenschaftlichen Veranstaltung sehen, aber in der Fachwelt weiß jeder sehr genau, wer wer ist. Ich hoffe, die wissenschaftliche Welt wird ihr Interesse an unserem Land aufrechterhalten und versuchen, zumindest einige Kontakte mit Russland aufrechtzuerhalten, auch wenn dies immer schwieriger wird. 

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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