„Einige Zeitbomben“ – russische Expertin über VerfassungsänderungenElena Lukjanowa

„Einige Zeitbomben“ – russische Expertin über Verfassungsänderungen

Am 1. Juli findet in Russland eine Volksabstimmung über die Verfassungsänderungen statt. Doktor der Rechtswissenschaften, Professorin an der juristischen Fakultät der National Research University Higher School of Economics und Spezialistin für Verfassungsrecht Elena Lukjanowa sprach mit russland.NEWS über die neue Verfassung

Elena Anatoljewna, als Putin im Januar Änderungen der Verfassung vorschlug, waren alle sehr überrascht. Dabei sind ganze 27 Jahre seit der Annahme der russischen Verfassung vergangen …

Elena Lukjanowa:  Und all die Jahre hat Putin gesagt, dass die Verfassung in keiner Weise geändert werden sollte, und wir als Experten haben dies bestätigt.

Aber ist es wirklich unmöglich, die Verfassung mit dem Leben in Einklang zu bringen? Zum Beispiel gilt das deutsche Grundgesetz als die am häufigsten geänderte Verfassung der Welt. Die letzten Änderungen wurden 2006 vorgenommen.

Elena Lukjanowa: Natürlich können sich Verfassungen ändern. Aber die Änderungen betrafen zwar formal nicht die unantastbaren Hauptkapitel – das erste, zweite und neunte Kapitel, d.h. die Kapitel über die Grundlagen der Verfassungsordnung, die Menschen- und Bürgerrechte und -freiheiten sowie über Verfassungsänderungen und Überarbeitung der Verfassung -, brachen aber dennoch die Struktur der Verfassung selbst. Die Änderungen haben die Prinzipien des Föderalismus, der Gewaltenteilung und der lokalen Selbstverwaltung zerstört und die verfassungsrechtlichen Bedeutungen verzerrt. In vielerlei Hinsicht sind auch die Menschenrechte untergraben worden.

Was genau meinen Sie damit?

Elena Lukjanowa: Es gibt einen Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und das Prinzip des politischen Pluralismus. Die Änderung, dass Personen mit einer zweiten Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltserlaubnis in einem anderen Land nicht zum öffentlichen Dienst zugelassen werden können, verstößt dagegen. Darüber hinaus verhindern die angenommenen Änderungen, dass oppositionelle Denker die politische Arena betreten.

Hatten Sie als Anwältin und Juristin denn keine Beanstandungen an die Verfassung von 1993? Schließlich wurde sie genau für Boris Jelzin geschrieben, und wir dürfen nicht vergessen, unter welchen Umständen sie angenommen wurde.

Elena Lukjanowa: Ja, hatte ich. Aber insgesamt ist dies eine großartige Verfassung, und die Kapitel 1, 2 und 9 sind gut. Aber in Kapiteln 3 bis 8 wurden einige Zeitbomben gelegt, die korrigiert werden könnten. In Kapitel 4 heißt es beispielsweise: „Ein und dieselbe Person darf das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation nicht länger als zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten innehaben.“ Das Wort „aufeinanderfolgend“ hätte man besser entfernen können. Wie wir jetzt sehen, ist es gefährlich im Hinblick auf die Errichtung autoritärer Herrschaft und die Verletzung des Prinzips der Machtfolge.

Als ich die Änderungsanträge studierte, war ich überrascht, dass einige Dinge in der russischen Verfassung früher gar nicht vorhanden waren. Nun, zum Beispiel, dass der Rubel die Währungseinheit in der Russischen Föderation ist oder dass die Russische Föderation die Rechte der indigenen Völker garantiert.

Elena Lukjanowa: Solche Bestimmungen müssen nicht in der Verfassung enthalten sein. Die Verfassung ist zum einen ein Weltanschauungsdokument. Und zweitens ist dies eine Art Zelle für den Staat, die die Grenzen der staatlichen Aktivität und ihrer Einmischung in das öffentliche Leben festlegt. Die Hauptprinzipien werden im ersten und zweiten Kapitel formuliert, und alle anderen Kapitel sollten an ihrer Umsetzung arbeiten.

Was das Änderungsverfahren betrifft, womit sind Sie nicht einverstanden?

Elena Lukjanowa: Fast alles war von Anfang an fragwürdig legal. Zunächst einmal sollte es keine Verfassungskommission geben, geschweige denn eine, die vom Präsidenten gebildet wird. Zweitens können 206 Änderungen nicht als eine Änderung verabschiedet werden, das widerspricht dem neunten Kapitel. Alle Änderungen sollten intern miteinander verknüpft sein. Auch im Parlament wurden die Verfahren nicht eingehalten. Zum Beispiel hatte Frau Tereschkowa kein Recht, alleine einen Änderungsantrag über die Nullsetzung der Präsidentschaften von Putin zu stellen. Es gab auch einen Verstoß gegen das Verfahren zur Genehmigung der Änderungen in den Subjekten der Föderation – es sollte für jede der 206 Änderungen stattfinden, was jedoch nicht geschah. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts war gesetzlich nicht vorgesehen. Aber selbst in der Annahme, dass eine solche Entscheidung notwendig sei, hätte das Verfassungsgericht jede Änderung auf ihre Übereinstimmung mit den unveränderlichen Kapiteln der Verfassung prüfen müssen. Das hat es jedoch nicht getan. Keine Volksabstimmungen über die Änderungsanträge sind vorgesehen. Im Allgemeinen gibt es weder in der Verfassung noch im Gesetz eine solche Form der Willensäußerung des Volkes wie eine Volksabstimmung. Es gibt nur ein Referendum und Wahlen. Mit anderen Worten: Alles, was nur verletzt werden konnte, wurde verletzt.

Die neue Verfassung wird bereits in Buchhandlungen verkauft. Ist sie also bereits verabschiedet oder nicht?

Elena Lukjanowa: Jedes Gesetz in unserem Land wird von der Staatsduma verabschiedet, vom Föderationsrat gebilligt, vom Präsidenten unterzeichnet und tritt erst dann nach bestimmten Regeln in Kraft. Nach den speziell für diese Änderungsanträge geschaffenen Regeln treten sie erst nach einer Volksabstimmung in Kraft. Das heißt, die Änderungen wurden angenommen, können jedoch nicht in Kraft treten.

Es wird allgemein angenommen, dass alle 206 Änderungsanträge nur angenommen wurden, damit Wladimir Putin 2024 erneut als Präsident kandidieren kann.

Elena Lukjanowa: Nicht ganz. Schon aus den Änderungsanträgen vom 20. Januar können wir erkennen, dass sich die eigentliche Machtstruktur, das föderale System der Gewaltenteilung zugunsten des Zentrums, völlig ändern. Auch die Befugnisse des Parlaments werden zu Gunsten des Subjekts, das über beiden Machtzweigen steht, beschnitten. Es geht also nicht so sehr um die „Nullsetzung“ von Fristen für Präsidentschaft, sondern darum, ein System autoritärer und unabänderlicher Macht zu schaffen. Obwohl die Nullsetzung wesentlich zur Lösung dieses Problems beiträgt.

Nun gut, jetzt wird Russland einen noch stärkeren Präsidenten haben. Aber es gibt sowohl parlamentarische als auch präsidiale Republiken. Vielleicht ist gerade diese Form der Staatlichkeit für Russland als größtes Land der Welt besser geeignet?

Elena Lukjanowa: De facto haben wir keine republikanische Regierungsform. Die etablierte Regierungsform in Russland, die jetzt auf konstitutioneller Ebene verankert ist, ist eine gewählte dualistische Monarchie mit der Institution der Nachfolge.

[hrsg/russland.NEWS]

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