Eine Schüssel Salat oder “Ironie des Schicksals“ – Russen haben ganz feste Silvesterrituale

Eine Schüssel Salat oder “Ironie des Schicksals“ – Russen haben ganz feste Silvesterrituale

In jedem Land gibt es Rituale und Traditionen, wie man bestimmte Feste feiert. Was wäre zum Beispiel Deutschland ohne Weihnachtsmärkte? Absolut unvorstellbar! Die Russen pflegen ihre Rituale auch. Allerdings, nicht zu Weihnachten, sondern zu Silvester. Denn in 70 Jahren Sozialismus galt die Religion als „Opium des Volkes“, alle religiösen Feste waren verboten. Erst ab 1935 war es wieder erlaubt, Tannenbäume aufzustellen und zu schmücken. Allerdings nicht zu Weihnachten, sondern zum Neujahrfest. Den Weihnachtsstern ersetzte der kommunistische rote Stern. Nach und nach übertrug man viele Weihnachtsrituale auf dieses Fest, so werden beispielsweise russische Kinder vom Väterchen Frost zu Silvester beschert und man feiert im Kreis der Familie.

Im heutigen Russland bekennen sich mehr als 80 Prozent der Bevölkerung zur Orthodoxie. Viele feiern Weihnachten (nach dem Julianischen Kalender am 7. Januar) wieder, doch für die meisten bleibt Silvester das wichtigste Fest des Jahres. Laut einer aktuellen Umfrage vom Allrussischen Meinungsforschungszentrum WZIOM feiern 96 Prozent der Russen das Neujahrfest. Sogar der so bedeutende Tag des Sieges am 9. Mai wird vom Silvester auf den zweiten Platz verdrängt (95 Prozent der Befragten).

Und zu diesem Fest gehören ganz feste Rituale. Genau genommen, gibt es zwei, die buchstäblich jeder Russe kennt. Und sie heißen ein Hähnchensalat und eine Fernsehkomödie.

Im 19. Jahrhundert lebte in Moskau ein französischer Koch namens Lucien Olivier. Ihm gehörte ein schickes Restaurant, wo er von reichen Gästen unter anderem für seinen köstlichen Salat bewundert wurde. Das Rezept blieb geheim, obwohl die meisten Zutaten bekannt waren. Man nehme nur ein wenig Störkaviar, Krebsfleisch, gekochte Kalbszunge, zartes Haselhuhn, Kapern, französische Gewürze, Kartoffeln, junge Erbsen… Der Salat war so beliebt, dass er den Namen seines Erfinders bekam. Auch heute, fast 150 Jahre später, schmückt der Salat Olivier jedes Festmahl in Russland. Allerdings ist vom ursprünglichen Rezept so gut wie nichts mehr übriggeblieben. Haselhuhn wird durch Hähnchen, Kalbszunge durch Fleischwurst ersetzt, und französische Kräuter, geschweige denn schwarzen Kaviar, sucht man im Salat vergeblich. Wahrscheinlich deswegen hieß diese etwas vereinfachte Variante in sowjetischen Restaurants „Salat Stolichnij“, also „der hauptstädtische Salat“.

Die Zeit der Mangelwirtschaft ist vorbei, alle Zutaten für das französische Rezept finden sich in exquisiten Supermärkten. Es ist nur die Frage des Preises. Auch sonst kann man alles kochen, was die Seele begehrt. Doch viele Russen bleiben ihrem Salat treu und schnippeln am 31. Dezember kiloweise gekochte Kartoffeln, Möhren, Eier, Salzgurken, Äpfel und verschiedene Fleischsorten und begießen das Ganze mit viel Mayonnaise.

Als hätte man das ganze Jahr nicht genug davon. Jeder gut geführte Supermarkt führt Salat Olivier in seiner Fleischtheke. Manchmal wird er zusammen mit Salat Stolischnij angeboten, dabei besteht der Unterschied nur darin, dass Olivier Hühnchen statt billiger Fleischwurst aufzuweisen hat.

Warum die Russen diese Speise so abgöttisch lieben, lässt sich nicht erklären. Warum sie aber seit fast 40 Jahren am Silvesterabend unbedingt einen bestimmten Film sehen wollen, ist durchaus verständlich. Die sowjetische Liebeskomödie „Ironie des Schicksals“ ist einfach ein sehr gut gemachter Film mit allen Zutaten, die ein Kultfilm braucht: fantastische Darsteller, schöne Musik, brillante Dialoge, originelles Drehbuch mit einer Verwechslungsgeschichte und natürlich eine herrliche Lovestory mit obligatorischem Happy End. Alles mit ein wenig Gesellschaftssatire verfeinert, eben so viel, wie es 1975 möglich war.

Der Film wurde zum ersten Mal im sowjetischen Fernsehen am 1. Januar 1976 ausgestrahlt. Schon 1978 hatten ihn über 250 Millionen Zuschauer gesehen. Seitdem gehört er fest zum Silvesterfernsehprogramm. Im Unterschied zu dem in Deutschland kultigen „Dinner for One“, dauert der Zweitteiler „Ironie des Schicksals“ einige Stunden. Meist läuft er im Hintergrund, wenn die Familie am Tisch um den Salat Olivier versammelt sitzt, um das alte Jahr zu verabschieden. Schließlich kennt man die Komödie sowieso in- und auswendig. Viele Passagen dienen inzwischen als Redewendungen im Russischen, die jeder kennt. Zum Beispiel: „Das Leben kann man nicht einem vorbereiteten Schema anpassen“. Oder „Was für eine eklige Sache doch Ihre Fischgrütze ist“. Oder „Man sollte weniger trinken. Trinken sollte man weniger“. Das sagt der Protagonist Schenja, der in betrunkenem Zustand aus Versehen statt seines Freundes in den Flieger Moskau-Leningrad gesteckt wurde und so in der Silvesternacht seine große Liebe traf.

2007 drehte der russische Kultregisseur Timur Bekmambetow mit „Ironie des Schicksals“ eine Fortsetzung“. Nur in einem Jahr spielte der Streifen allein in Russland über 40 Millionen Euro ein. Damit wurde er zum erfolgreichsten russischen Spielfilm aller Zeiten. Doch obwohl der Film alle Besucherrekorde brach, kann er sich mit dem Klassiker nicht messen lassen. Zu viel Werbung, zu kommerziell, schimpfen die meisten Russen. Und es ist auch irgendwie traurig, die ergrauten und bebrillten Hauptdarsteller von damals 40 Jahre später auf der Leinwand zu sehen. Jetzt finden ihre Kinder die große Liebe in der Silvesternacht. Sie kommunizieren per Handy und fahren schicke Autos, ganz wie im wirklichen Leben. Doch der Film wirkt irgendwie nicht real. Seine Dialoge sind nur ein billiger Abklatsch vom feinen Humor des Kultstreifens. Und deswegen wird in irgendeinem von gefühlten 150 Fernsehkanälen „Ironie des Schicksals“ auch 2018 laufen. Vielleicht damit jeder Zuschauer seine Kenntnisse der Filmzitate zum Besten geben kann, zum Beispiel das: „Ich habe das Gefühl, als hätten wir in dieser Nacht das ganze Leben durchlebt.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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