„Eine fröhliche Sisyphusarbeit“M. Platzeck (Mitte) bei der Städtepartnerkonferenz in Düren. Foto:Kreis Düren, Rudi Böhmer

„Eine fröhliche Sisyphusarbeit“

Matthias Platzeck im Interview mit russland.NEWS:

Herr Platzeck, nächstes Jahr finden große Feierlichkeiten zum 30-jährigen Jubiläum der deutschen Einheit statt und Sie sollen sie als Vorsitzender der Einheitskommission organisieren. Dafür ernten Sie hierzulande schon jetzt viel Kritik. Wie kann ausgerechnet ein „Russland Freund“ damit beauftragt werden, heißt es. Finden Sie es nicht traurig, dass Ihr Image als Politiker inzwischen dermaßen unter Ihrer Tätigkeit als Leiter des Deutsch-Russischen Forums leidet?

Matthias Platzeck: Weder Traurigkeit noch Dankbarkeit sind Kategorien der Politik, und in der bewege ich mich ja seit 30 Jahren. Mit dem Thema Osten, ob es um Russland geht oder um Osteuropa oder Ostdeutschland beschäftige ich mich schon lange. Das hat mit meiner Herkunft zu tun, aber auch damit, dass sich nicht so übermäßig viele für diese Themen interessieren.  Ich habe das immer aus Überzeugung gemacht. Es ist deshalb vielleicht kein Zufall, dass ich Vorsitzender dieser Einheitskommission wurde. Den Kritikern dieser Entscheidung der Bundesregierung geht es zum einen um mein Russlandengagement. Außerdem wird mir gern nachgesagt, ich würde eher die Schwierigkeiten des Wiedervereinigungsprozesses betonen und nicht so sehr die Freude darüber.

Ich versuche bei allem, was wir in den letzten 30 Jahren erreicht hat haben – und das ist viel – auch klarzumachen, dass der Umbruch im Osten Deutschlands in Wirklichkeit an vielen Stellen ein Zusammenbruch war. Allein wenn wir an die Arbeitslosigkeit denken, die damals von Null auf 30, ja 40 Prozent gestiegen war. Davon war so gut wie jede Familie betroffen. Wir können diese 30 Jahre nicht an den Empfindungen vieler Menschen vorbei diskutieren.

Sie beklagen oft eine zunehmende Entfremdung zwischen Bevölkerung und Politik in der Frage des Umgangs mit Russland. In einem Interview im Jahre 2018 sagten Sie, dass auf allen Veranstaltungen Menschen immer wieder den Wunsch äußern: „Macht endlich etwas Vernünftiges und versteht euch wieder mit den Russen.“

Matthias Platzeck: Diese Beobachtung mache ich immer noch. Sogar in den Gegenden, wo man es auf den ersten Blick nicht unbedingt vermuten würde. Die Präsidentschaft von Trump hat das eher noch verstärkt. Selbst Menschen, die bisher sehr transatlantisch ausgerichtet waren, sind zweifelnder geworden und fragen sich im Blick auf die Zukunft: Amerika ist mit sich selbst beschäftigt, andere Regionen sind zu weit weg und mit Russland liegen wir im Streit. Also sollten wir uns mit Russland nicht besser vertragen?

Es ist ein schleichender Prozess, aber wir schieben Russland Stück für Stück Richtung China, und die Chinesen nehmen das Angebot gern an: man darf nicht vergessen, dass Russland nicht nur Öl und Gas hat, sondern alle Rohstoffe wie z.B. seltene Erden hat, die moderne Technologien brauchen. Geopolitisch gesehen: wenn wir so weiter machen, dann werden wir eines Tages feststellen, dass das kleine Europa ganz alleine, ohne Rohstoffe und ohne politische Bedeutung bleibt. Und wenn wir eine Chance haben, in diesem Großkonzert zwischen Wirtschaftsriesen Asien und Amerika zu bestehen, müssen wir einen Weg zu Russland suchen.

Es ist inzwischen fast Mode geworden, die jetzige Situation mit dem Zustand des Kalten Krieges zu vergleichen.

Matthias Platzeck: Der Unterschied ist, dass wir im „alten“ Kalten Krieg aus meiner Sicht strategischer gehandelt haben, in längeren Linien gedacht haben. Wenn man heute in einer Rede nicht ganz klar alles aufsagt, was zum Narrativ gehört (Krim, Ostukraine, Syrien etc.), dann wird die Rede gar nicht mehr weiter angehört: die Schulnote ist geschrieben, die Schlagzeile steht: „Russen-Knecht“, „Putin-Freund“ usw. Egon Bahr hat mir einmal gesagt: er fragt sich, ob unter den heutigen Bedingungen die damalige Ostpolitik überhaupt eine Chance gehabt hätte. Willy Brandt wurde damals als „Vaterlandesverräter“ von FAZ und ZDF beschimpft. Aber z.B. „Der Spiegel“ und die ARD haben seine Ansätze verteidigt. Also gab es einen regelrechten Meinungskampf. Heute gibt es aber nur eine Richtung, und zwar Russland zu verurteilen, ohne vielleicht zu fragen, warum sie handeln wie sie handeln.

Die Debatte ist weniger differenzierter geworden. Schauen Sie, die Bundestagsabgeordneten, die kürzlich in Russland waren, die sind ja von der Bild-Zeitung politisch regelrecht an die Wand genagelt worden, ohne Wenn und Aber. Diejenigen, die versuchen Russland zu verstehen, werden medial auf die Guillotine gelegt. Damals gab es die Politik des „Wandels durch Annäherung“, weil für Willy Brandt wie später auch für Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher ganz klar war: nie wieder Krieg, sie gehörten selbst noch zur Generation, die den Krieg bzw. seine Folgen erlebt hatten. Und sie haben deshalb auch mit Breschnew Wege der Zusammenarbeit gesucht, obwohl der mit Menschenrechten z.B. nun wirklich nichts im Sinn hatte.

Heute heißt es: erst wandelt ihr euch mal, dann reden wir mit euch. Wir kehren also die Prämisse komplett um, obwohl es schon längst wieder um den Erhalt des Friedens geht.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer forderte ein Ende der Russland-Sanktionen. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow unterstützte seine Forderung. Die Bundesregierung lehnt es kategorisch ab, Sanktionen abzubauen. Was denken Sie? 

Matthias Platzeck: Kretschmers Sicht wird im Wesentlichen von allen Ost-MP’s geteilt. Es wird immer deutlicher, die Sanktionen sind Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit. Man spürt zwar langsam, dass sich nichts tut, aber es gibt keinen neuen Ansatz.

Aber nach fünf Jahren wäre es an der Zeit Bilanz zu ziehen. Die Sanktionen sind verhängt worden, um ein Ziel zu verfolgen. Jetzt muss man ganz nüchtern zusammenfassen: durch die Sanktionen ist nichts wirklich besser geworden. Sie haben nichts in Sachen Krim oder Ostukraine bewirkt. Die wirtschaftlichen Beziehungen und das dazu nötige Vertrauen haben erheblich gelitten. Die Stimmung in Russland ist nicht prowestlicher, sondern eher nationalistischer geworden. Die Gefahr einer militärischen Eskalation ist gewachsen.

Also wenn man realistisch bleibt, müsste man sagen, dass das vielleicht doch nicht das beste Mittel war. Bei der Suche nach einem Weg aus dieser Situation möchte ich noch einmal Egon Bahr zitieren. Er hat sinngemäß gesagt: „Wenn Probleme, die wir derzeit nicht lösen können uns dabei stören, Probleme, die wir dringend lösen müssen zu besprechen, dann sollten wir sie temporär zur Seite tun in der Hoffnung, dass die weggelegten Probleme im neuen Klima andere Lösungsmöglichkeiten erfahren“.

Der alte Lehrsatz, dass es in Europa kein Frieden ohne oder gegen Russland geben kann, sollte uns dabei leiten.

Es gibt zwei Ebenen in der deutsch-russischen Beziehungen: die kommunale Ebene entwickelt sich sehr gut, die Kontakte werden intensiv gepflegt. Seitens der deutschen Politik wird immer betont, dass die Beziehungen zwischen den Menschen aus Deutschland und Russland weiter ausgebaut werden müssen. Aber auf der hohen politischen Ebene sind die Beziehungen alles andere als positiv. Sehen sie hier nicht einen gewissen Wiederspruch?

Matthias Platzeck: Wenn wir seit 2014 diese zivilgesellschaftlichen Kontakte nicht gehabt hätten, sehe es heute noch viel schlimmer aus. Ich habe hohen Respekt vor den Kommunalpolitikern und den vielen ehrenamtlichen Aktivisten, die diese Partnerschaften mit Leben erfüllen.

Aber wenn wir auf der hohen politischen Ebene die Annäherung zwischen Deutschland und Russland nicht irgendwann schaffen, werden auch diese Kontakte früher oder später einschlafen. Wir haben heute schon Bürgermeister, die sich fragen, ist die Partnerschaft mit einer russischen Stadt etwas, was mir politisch eher schadet? Jetzt haben wir 112 Städtepartnerschaften mit Russland, aber mit Frankreich haben wir 2000!

Unser Bundespräsident Frank Steinmeier hat gesagt, vor dem Hintergrund unserer Geschichte dürfen wir eine Entfremdung zwischen unseren Völkern nicht zulassen – ich sehe darin einen wichtigen Auftrag und lasse mich davon leiten.

Herr Platzeck, kommen Sie sich manchmal nicht wie ein Prediger in der Wüste vor?

Matthias Platzeck: Das kann nur jemand fragen, der denkt, dass es in der Politik endgültige Zustände gäbe. Alles, was wir hier machen, sind Daueraufgaben. Man schiebt den Stein nach oben, dann fällt er wieder runter. Man muss Spaß daran haben, immer von vorne anzufangen. Das ist zwar eine Sisyphusarbeit, aber eine fröhliche.

Herr Platzeck, vielen Dank für das Gespräch.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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