„Ein viel zu hoher Preis“: Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann im exklusiven Interview mit russland.NEWSEkaterina Schulmann

„Ein viel zu hoher Preis“: Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann im exklusiven Interview mit russland.NEWS

Ekaterina Schulmann ist die bekannteste Politologin Russlands. Sie hat ihre eigene Sendung beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy und ihr YouTube-Kanal hat mehr als 550.000 Abonnenten. Mit russland.NEWS sprach Ekaterina Schulmann über die Protestbewegung gegen QR-Codes und über die aktuelle politische Situation im Land.

Frau Schulmann, in Russland hat es Proteste gegen das Gesetz zur Einführung von QR-Codes gegeben. Das Gesetz ist zwar noch nicht verabschiedet, es sieht aber ganz danach aus. Einige Analysten meinen sogar, dass dies Vorläufer einer großen Protestwelle sind.

Die regionalen Proteste gegen das Gesetz richten sich größtenteils entweder gegen bereits eingeführte Maßnahmen oder gegen Maßnahmen, die die Menschen in der Zukunft befürchten. Dieser Protest ist lokal, unorganisiert, ohne Strukturen und ohne sichtbare Anführer. Ein bekannter offener Brief von 11 Krankenhauschefärzten an Meinungsmacher richtete sich unter anderem an die Fraktionsvorsitzenden in der Staatsduma sowie an einige stellvertretende Sprecher der parlamentarischen Mehrheitspartei und forderte sie auf, „das Volk nicht in Verlegenheit zu bringen“, wenn sie falsche Informationen über Covid-19 verbreiten. Allerdings ist nirgendwo eine Struktur zu sehen, die diese Proteste, die Impfgegner oder die Gegner von restriktiven Maßnahmen organisiert. Die Menschen scheinen sich in sozialen Netzwerken und Gruppenchats zu koordinieren. Wenn der Protest die Form eines „Treffens mit einem Abgeordneten“ annimmt, handelt es sich in erster Linie um einen Abgeordneten der Kommunistischen Partei. Aber man kann nicht behaupten, dass die regionalen Strukturen der Kommunisten die Proteste organisieren oder initiieren.

Die Proteste selbst und ihre Formen ändern sich. Bis Ende des Jahres zählten Beobachter 280 Aktionen, 194 im November und nur 48 im Dezember. Der Ural (vor allem Jekaterinburg) ist nach wie vor führend bei Massenaktionen und Blockaden von öffentlichen Plätzen. Ende November gab es im Ural, wo die meisten Aktionen stattfanden, auch die meisten Verfolgungen. Alle Maßnahmen, die bei der Bekämpfung politischer Proteste üblich sind, einschließlich Festnahmen bei und nach Kundgebungen und Verwaltungshaft, kamen dort vor. Eine neue Form des Protests, die man bereits als grenzwertig gewalttätig bezeichnen kann, gewinnt an Stärke: Die Menschen kommen zum Beispiel in einen öffentlichen Empfangsraum, in die gesetzgebende Versammlung, und sind einfach anwesend: entweder stehen sie oder versuchen hineinzukommen. Sie werden nicht hineingelassen, es entsteht ein Gedränge. Es wurden zehn solcher Fälle registriert.

Auch der ideologische Inhalt des Protests ist interessant. Die Menschen protestieren gegen die Einschränkung ihrer (Bewegungs-)Freiheiten, und schwenken dabei die Verfassung. Nach außen hin sieht dies wie ein Protest von Traditionalisten und Konservativen aus. Das erinnert an die Empörung über die Einführung der Steueridentifikationsnummer vor einigen Jahren. Damals schienen diese Leute marginal zu sein, einige Wilde, die die Zahl des Teufels in die Zahl der Steuerzahler einrechneten. Die Befürchtung, dass der QR-Code uns unser ganzes Leben lang begleiten und zur Verfolgung jeder Bewegung genutzt werden könnte, scheint nun nicht mehr so marginal.

Das heißt, die Menschen scheinen einfach in Frieden gelassen werden zu wollen, sie sind gegen Neuerungen, die das Leben verkomplizieren. Man könnte dies auch als Artikulation der Interessen bezeichnen. Die zweite notwendige Stufe – die Zusammenführung der Interessen – findet jedoch nicht statt, weil es keine Struktur gibt, die dazu in der Lage wäre. Politikwissenschaftler sind im Allgemeinen der Meinung, dass solche Proteste den Fortbestand eines politischen Regimes nicht gefährden, weil diese Menschen die Behörden nicht zwingen können, sich mit ihnen zusammenzusetzen, weil es einfach niemanden gibt, mit dem sie sich zusammensetzen können. Andererseits betrifft dieser Prozess zuvor nicht politisierte Schichten und absolut loyale Bürger, also Menschen, die die derzeitige Regierung mochten und als Bollwerk der Stabilität und der traditionellen Werte erschienen. Auf diese Weise wird die Kernwählerschaft, der loyalistische Kern, der seit 2018 eher schrumpft als wächst, ausgehöhlt. Es sieht nicht so aus, als ob die Bewegung gegen die restriktiven Maßnahmen zu einer echten Protestwelle der Bevölkerung werden könnte. Generell ist in Russland, anders als in westlichen Ländern, der Preis für Protest zu hoch – die Menschen fürchten die Konsequenzen. Die langfristigen Folgen für die öffentliche Meinung sind eine andere Sache.

Es liegt doch auf der Hand, dass man eine solche Situation politisch nutzen könnte.  Warum hat noch niemand die Führung dieser Bewegung übernommen?

Während des Duma-Wahlkampfs, als es an der Zeit war, auf die öffentliche Stimmung zu spekulieren (d.h. einen normalen Wahlkampf zu führen, um zu sagen, was die Leute von einem hören wollen), versuchten verschiedene Parteien, die Impfgegner anzuführen. Die Partei Gerechtes Russland hat dies eher chaotisch getan, während die Kommunisten diese Agenda ziemlich konsequent und kohärent genutzt haben. Ich habe den Eindruck, dass diese Position ihnen einige Stimmen eingebracht und zu ihrem Wahlerfolg beigetragen hat. Nach der Wahl versuchten die Kommunisten jedoch nicht mehr, die Menschen zu einer Demonstration zu bewegen. Sie sprachen zwar über unfaire Wahlen, aber das wurde relativ schnell unterdrückt.

Warum ist das Thema QR-Codes so emotional?

Alles, was mit einer Krankheit zu tun hat, vor allem einer tödlichen, beunruhigt die Menschen, und ein Gespräch über solche Themen führt leicht zu Konflikten. Außerdem überschneidet sich hier die medizinische mit der gesellschaftspolitischen Agenda– das sind Freiheitsbeschränkung, verschiedene Verbote und Klagen über deren gesetzliche Regelung. Warum legt der Staat Beschränkungen auf, oder umgekehrt – legt er sie nicht auf. Kümmert er sich nicht genug um seine Bürger? Beides kann die Menschen verärgern.  Aus diesem Grund haben diese Themen in den letzten zwei Jahren deutlich an politischer Bedeutung und Inhalt gewonnen.

Es wird befürchtet, dass die von Angst und Furcht geprägte Stimmung dazu führt, dass die Menschen sich bestimmten Gruppen zuordnen und andere Gruppen hassen. Bei den Diskussionen über QR-Codes und Impfungen sieht man die Massen, die sich ihrer Unzufriedenheit mit dem, was im Land geschieht, zuvor nicht bewusst waren. Diese Unzufriedenheit beginnt sich nun in Bezug auf die Beschränkungen und (in geringerem Maße) auf die Impfungen bemerkbar zu machen.

Das Thema der öffentlichen Sicherheit gegen verschiedene Bedrohungen ist inzwischen zu einer der wichtigsten Grundlagen für staatliche Entscheidungen geworden. Dabei soll diese Sicherheit durch eine Verstärkung der restriktiven Maßnahmen erreicht werden. Hat uns die Pandemie dies deutlich vor Augen geführt?

Jede Notsituation ist sozusagen ein Geschenk für den Staat. Wenn eine Bedrohung von außen oder von innen kommt, bietet der Staat Schutz und Hoffnung. Es kommt zu dem, was Soziologen „Versammlung um die Flagge“ nennen. Übrigens war Russland eines der wenigen Länder, in denen dieser Effekt eher schwach ausgeprägt war: Auf dem Höhepunkt der Pandemie im Jahr 2020 gab es keinen Vertrauensvorschuss für das Staatsoberhaupt. Das Vertrauen in eine ganze Reihe staatlicher, sozialer und wirtschaftlicher Institutionen ist gestiegen, vor allem in NGOs, die Regierung und regionale Behörden. Im Jahr 2021 ging das Vertrauen jedoch auch bei ihnen zurück, wenngleich der Zuwachs von 2020 nicht vollständig aufgeholt werden konnte, und der Rückgang der Bewertung des Präsidenten setzte sich ungebremst fort.
Ende des Jahres erklärte Wladimir Putin auf der Waldai-Konferenz, während der Pandemie habe man gesehen, dass ein souveräner Nationalstaat die wichtigste Institution sei. Das ganze Gerede über internationale Strukturen oder Netzwerkkonstrukte, die an die Stelle des Staates treten, hat sich seiner Meinung nach nicht gerechtfertigt. Wenn wir aber in den Spiegel der soziologischen Forschung schauen, sehen wir, dass 58 Prozent der Russen Gewalt durch den Staat fürchten, d.h. den Staat als Bedrohung empfinden. Diese Angst ist noch größer als die Angst vor Armut oder davor, von Kriminellen überfallen zu werden. Einerseits erwarten die Menschen, auch die Jugendlichen, vom Staat, dass er die Ungleichheit bekämpft und die Ressourcen gerechter verteilt, andererseits haben sie aber auch Angst davor. Es zeigt sich, dass die Menschen Angst vor dem Staat haben, sie denken, dass er jeden zählen will, um ihn zu bestrafen, zu besteuern und zu überwachen, aber sie erwarten, dass er sie schützt und ihnen hilft.

Als würde man zwischen zwei Stühlen sitzen…

Ich würde die gesellschaftliche Stimmung in Russland bis Ende 2021 allgemein als äußerst unbehaglich bezeichnen. Alle Ängste sind auf dem Vormarsch. Die Zahl derer, die die Frage, ob sich das Land in die richtige Richtung bewegt, negativ beantworten, nimmt zu. Das Vertrauen in staatliche Institutionen ist seit 2018 rückläufig. Darüber hinaus erleben wir das, was viele als Polarisierung der Gesellschaft bezeichnen, obwohl ich mit diesem Begriff nicht ganz einverstanden bin. Wenn man sich die Daten verschiedener Umfragen ansieht, stellt man keine Zunahme der Aggression fest, sondern Apathie, Panik und Uneinigkeit in der Gesellschaft. Die Menschen haben Angst, sind dieser Angst überdrüssig und haben das Gefühl, dass sie nur allein oder mit ihrer unmittelbaren Familie überleben können. Wenn man sich die Scheidungsstatistiken ansieht, kann man Russland nur schwerlich als ein Land mit blühenden Familienwerten und starkem Clancharakter bezeichnen.

In den Jahren 2014 bis 2016 war der sogenannte Krim-Konsens ein wahres soziologisches Wunder. Er brachte gesellschaftliche Gruppen zusammen, die nichts miteinander zu tun hatten – und immer noch nicht haben. Heute gibt es keine greifbare Mehrheit. Nur diejenigen, die sich unwohl fühlen, sind in der Mehrheit, aber das ist eindeutig keine vereinende Idee. Was die Gesellschaft jetzt braucht, ist ein ziviler Frieden, ein gewaltfreies Zusammenleben der Menschen. Wir können uns keine Konflikte leisten: Dafür sind wir eine viel zu alte und nicht besonders gesunde Gesellschaft.

 

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