„Ein Geschenk an Putins Propaganda“: Politologe über Visum-Verbot für RussenAlexander Kynew

„Ein Geschenk an Putins Propaganda“: Politologe über Visum-Verbot für Russen

In der EU läuft eine Diskussion um einen Visa-Stopp für russische Touristen. Ganz vorne dabei sind Estland, Lettland, Litauen, Tschechien und Polen. Auch Finnland schränkt die Visavergabe an Russen drastisch ein. Der russische Politologe Alexander Kynew findet, dass offizielle Erklärungen von europäischen Politikern zu diesem Thema „offensichtliche Merkmale von PR-Manipulation und Propaganda“ enthalten.

Das Problem an sich ist künstlich und weit hergeholt: Selbst nach offiziellen Angaben ist die Zahl russischer Bürger, die nach Europa reisen, zurückgegangen und beträgt jetzt nur noch 5 bis 10 Prozent vor der Covid-19-Pandemie. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Eine Reihe von Ländern (zum Beispiel die baltischen Staaten, die Tschechische Republik, die Niederlande und Belgien) haben seit Beginn der Ereignisse in der Ukraine die Ausstellung von Visa für Russen eingestellt. Die wenigen Länder, die weiterhin Visa ausstellen, tun dies mit großen Verzögerungen und einer großen Zahl von Ablehnungen. Kurzum, ein Visum für Europa zu erhalten, ist für einen Russen jetzt äußerst schwierig. Dabei ist ein Touristenvisum formal gesehen am einfachsten zu erhalten. Die Beschaffung anderer Visa für eine Person, die sich zum Beispiel in Gefahr befindet, ist so langwierig, dass sie fast ihren Sinn verliert. Die repressiven Behörden werden nicht warten, bis man ein Visum erhält, und wenn man bereits inhaftiert ist, ist es für ein Visum zu spät.

Hinzu kommt, dass es keine direkten Verkehrsverbindungen nach Europa gibt. Flüge über Istanbul oder Dubai sind unbezahlbar. Ein Landweg mit Weiterreise per Flugzeug ist nur über das Baltikum und Finnland möglich, dies dauert sehr lange und ist äußerst unbequem. Dieser Weg wird nur von denen beschritten, die es wirklich brauchen. Darunter zahlreiche Bürgerrechtler, die kein Geld für die teuren Flüge über Istanbul und Dubai haben.

Daher ist ein europäisches Visum für viele eine Art Versicherung, eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass persönliche Sicherheitsprobleme auftreten. Somit ist ein Touristenvisum jetzt de facto ein humanitäres Visum; es ist ein Mittel, um die russische Zivilgesellschaft mit Europa zu verbinden.

Man fragt sich auch, warum die Politiker der Ukraine und der baltischen Staaten dieses Thema jetzt ansprechen? Für die Ukraine ist eine weitere Hasskampagne gegen Russen offenbar eine Art PR-Kompensation für die Stagnation an der Front und das Ausbleiben jeglicher Erfolge dort. Und man will den Bürgern einige Erfolge präsentieren, die dem Feind schaden. Infolgedessen schadet man wie üblich eher denen, die man treffen kann, statt denen, die man treffen müsste.  Was die baltischen Staaten betrifft, so stehen in Lettland bald Wahlen an, in Estland werden im nächsten Jahr Wahlen abgehalten. Die Regierungskoalition hat dort gewechselt und wird nun von Ultranationalisten dominiert. Für sie ist dies also ein Wahlkampfthema.

Was sind die Folgen dieser Initiativen?

Erstens ist es ein Geschenk an Putins Propaganda, eine klare Demonstration der antirussischen Stimmung. Und genau damit erklären die russischen Machtinhaber der Bevölkerung die Gründe für den Krieg.

Die estnische Premierministerin Kaija Kallas hat das Recht, nach Europa zu reisen, ausdrücklich als „Privileg“ bezeichnet. Das bedeutet, dass die Beamten unverblümt sagen: „Wir sind erste Klasse und der Rest der Menschen ist zweite Klasse. Es ist ein Privileg, bei uns zu leben oder uns zu besuchen, der Rest ist es nicht wert“. Schon das Vokabular „wert oder nicht wert“ impliziert die Minderwertigkeit ganzer Gruppen von Menschen, in diesem Fall insbesondere der Russen.

Natürlich hat jeder Staat das Recht, einigen Personen Visa zu erteilen und anderen nicht. Aber dies als offizielles „Privileg“ zu deklarieren, ist ein sehr gefährliches nationalistisches Thema. Diskriminierung aufgrund der Herkunft hat nichts mit modernen Menschenrechtskonzepten zu tun.

Zweitens hat dies langfristige negative geopolitische Auswirkungen: Das Gefühl nationaler Ressentiments wird verstärkt und die Zerstörung des pro-europäisch orientierten Teils der russischen Gesellschaft in Russland setzt sich fort. Diese Diskussion hat die Haltung gegenüber Wladimir Selenski selbst im kriegsgegnerischen Teil der russischen Gesellschaft bereits erheblich getrübt. Die Entstehung eines „Weimarer Syndroms“ in Russland ist für die baltischen Staaten selbst in Zukunft sehr gefährlich.

Drittens besteht die Gefahr humanitärer Tragödien. Durch die Schließung der Landgrenzen zu den baltischen Staaten wird es für viele, selbst für diejenigen, die ein Schengen-Visum erhalten haben, aus finanziellen Gründen de facto unmöglich, nach Europa zu gelangen. Ein Bürger hat zum Beispiel ein deutsches humanitäres Visum, kann aber Russland nicht verlassen, wenn er kein Geld für teure Hin- und Rückflüge hat. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass internationale Bankkarten wie Visa oder MasterCard für Russen gesperrt sind.

Und schließlich kann natürlich keine Militäraktion durch die Abschaffung der Visa gestoppt werden. 70 Prozent der russischen Bevölkerung haben überhaupt keine Reisepässe, und das Militär und das Sicherheitspersonal dürfen nicht ins Ausland reisen. Das Rückgrat der russischen Macht ist in erster Linie der schlecht ausgebildete und einkommensschwache Teil der Gesellschaft, die Beamten und Vollzugsbeamten. Sie sind also nicht diejenigen, die von diesen Maßnahmen betroffen werden, sondern immer wieder der gebildete und oppositionelle Teil der russischen Gesellschaft.

Dr. Aleksander Kynew ist ein unabhängiger Politologe und Experte für russische Regionen und Wahlen. Bis 2019 war er Professor an der Higher School of Economics in Moskau und gern gesehener Gast beim unabhängigen Radiosender Echo Moskau bis zu seiner Schließung im März 2022.

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