EGMR fordert Nawalnys Freilassung

EGMR fordert Nawalnys Freilassung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat von Russland die sofortige Freilassung Alexei Nawalnys gefordert. Nawalnys Anhänger sind der Meinung, dass Russland verpflichtet ist, dem Urteil des EGMR nachzukommen. Der russische Justizminister Konstantin Tschuitschenko ist dagegen der Auffassung, dass die Entscheidung des EGMR nicht rechtens sei, da eine solche Forderung eine „grobe Einmischung in die Arbeit des Justizsystems eines souveränen Staates“ sei und „nicht durchgesetzt werden kann.“ Eine Kopie des Schreibens des Gerichtshofes wurde auf der Website von Nawalny veröffentlicht. Aus dem Schreiben geht hervor, dass der EGMR seine Forderung damit begründete, dass „Gefahr für das Leben des Antragstellers“ durch „die allgemeinen Umstände seiner Inhaftierung“ besteht.

Im Herbst 2017 forderte der EGMR eine Überprüfung der Verurteilung von Nawalny im Fall Yves Rocher (3,5 Jahre auf Bewährung), was der Oberste Gerichtshof Russlands ablehnte. Am 2. Februar 2021 wurde Nawalnys Bewährungsstrafe in Haft umgewandelt. Die Berufung der Verteidigung gegen die Entscheidung ist für den 20. Februar angesetzt.

Eine Regel des EMRK erlaubt ihm, einstweilige Maßnahmen zu ergreifen, die für den betroffenen Staat verbindlich sind. Solche Maßnahmen werden nur in Ausnahmefällen und nur dann ergriffen, wenn der EGMR feststellt, dass ein Antragsteller der Gefahr eines erheblichen und nicht wiedergutzumachenden Schadens ausgesetzt sein würde.

Iwan Schdanow, Direktor der von Nawalny gegründeten Anti-Korruptions-Stiftung (FBK), erklärte, dass diese Regel nur selten angewendet wird und absolut alle Länder diesen Anordnungen Folge leisten: „Und es gibt keine Möglichkeit, dass Russland diese Entscheidung nicht ausführt, sogar die Türkei setzt solche Entscheidungen durch. Russland hat solchen Entscheidungen immer Folge geleistet, es wird es auch diesmal tun müssen.

Leonid Wolkow, Koordinator der regionalen Zentrale von Nawalny, ist ebenfalls zuversichtlich, dass das Urteil des EGMR vollstreckt werden wird. „Wir kennen keinen Präzedenzfall, in dem ein Mitgliedsland des Europarates keine einstweiligen Maßnahmen gemäß Artikel 39 ergriffen hat; die Türkei, Aserbaidschan und Russland selbst haben dies in verschiedenen Situationen getan“, schrieb er in sozialen Netzwerken. „Dies ist eine Norm der aktuellen russischen Gesetzgebung und der aktuellen russischen Verfassung; die Entscheidung des EGMR ist genauso bindend wie eine Entscheidung irgendeines russischen Bezirksgerichts“. Wolkow glaubt, dass die Nichtausführung dieses Urteils den Ausschluss Russlands aus dem Europarat und sogar „den Bruch und die Annullierung einer Reihe von internationalen Abkommen, an denen Russland beteiligt ist, zur Folge haben wird“.

Justizminister Tschuitschenko sagte dagegen, dass die Forderung des EGMR nach der Freilassung von Nawalny nicht durchsetzbar sei, weil es dafür keine Gründe im russischen Recht gebe.

„Erstens ist dies eine klare und grobe Einmischung in die richterliche Autorität eines souveränen Staates“, sagte Tschuitschenko zu RIA Novosti. „Zweitens ist diese Forderung unbegründet und rechtswidrig, da sie keine einzige Tatsache, keine einzige Rechtsregel enthält, die dem Gericht erlauben würde, eine solche Entscheidung zu treffen.“ Nach Ansicht des Ministers haben die europäischen Richter eine eindeutig politische Entscheidung getroffen, die die „Wiederherstellung konstruktiver Beziehungen zu den Institutionen des Europarates nur erschweren kann“.

Der Pressedienst des Justizministeriums hat dazu erklärt, dass einstweilige Maßnahmen in der Menschenrechtskonvention nicht vorgesehen sind und nur  gemäß dem „guten Willen“ eines Staates hin ausgeführt werden: „Die Entlassung eines Verurteilten aus einer Justizvollzugsanstalt widerspricht eindeutig der Rechtsnatur einstweiliger Maßnahmen, die darauf abzielen, den normalen Prozess der Prüfung von Fällen vor dem EGMR zu gewährleisten.“

Tatjana Gluschkowa, eine Anwältin von Memorial, bezeichnet die Entscheidung des EGMR als beispiellos und gibt zu, dass ihr kein Fall bekannt ist, in dem der EGMR die Freilassung einer Person aus der Haft gemäß dieser Regel gefordert hat.

Laut Olga Tseitlina, einer Anwältin des Migrations- und Rechtsnetzwerks und Memorial, wird damit die Anwendung dieser Regel nun erweitert, aber sie kann sich an keinen Fall erinnern, in dem der EGMR die sofortige Freilassung eines Antragstellers angeordnet hat.

„Es gibt eine Entscheidung des EGMR zu Nawalnys Antrag (2017), in der der EGMR eine Verletzung von Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) feststellte, aber die russischen Behörden haben das Urteil nicht aufgehoben oder den Fall überprüft. Außerdem wurde Nawalny laut EGMR unter diesem rechtswidrigen Urteil inhaftiert, und da eine Gefahr für sein Leben besteht, ist es logisch, dass jetzt der EGMR seine sofortige Freilassung angeordnet hat“, so Tseitlina.

Artem Kirjanow, Vorsitzender der Anwaltskanzlei Kirjanow & Partners und Mitglied der Öffentlichen Kammer, ist der Meinung, dass Russland nicht verpflichtet ist, sich an die Entscheidung des EGMR zu halten und sie darüber hinaus ignorieren sollte, da sie politisch voreingenommen ist. „Die Reaktion auf die Umstände des Falles vor dem Berufungstermin, auf den Anwälte für ihre Mandanten aus Russland normalerweise Jahre … warten, wirkt sehr seltsam. Dies ist sicherlich keine Entscheidung, die umgesetzt werden sollte. Es liegt außerhalb der Zuständigkeit des EGMR: In das Verfahren eines nationalen Gerichts einzugreifen und in gewisser Weise die russische Souveränität zu verletzen, ist prinzipiell inakzeptabel.“

Darüber hinaus ist in der russischen Verfassung nach der letztjährigen Verfassungsreform festgelegt, dass Beschlüsse zwischenstaatlicher Organe, die der Verfassung widersprechen, in Russland nicht vollstreckt werden können (Art. 79).

Nach Artikel 125 entscheidet das Verfassungsgericht, ob sie durchgesetzt werden können oder nicht.

[hrsg/russland.NEWS]

COMMENTS