Die Salisbury Tales und viele offene Fragen

[von Helmut Scheben-Infosperber.ch] Sergei Skripal und seine Tochter sind wieder auf den Beinen, aber niemand darf mit ihnen reden. Der Fall wird immer dubioser.

Das Motto des britischen Inlandgeheimdienstes MI5 ist lateinisch und heisst: Regnum defende – Verteidige das Königreich. Gegen was man sich zu verteidigen habe, sagte MI5-Chef Andrew Parker letzte Woche in Berlin seinen europäischen Kollegen: gegen Anschläge aus Russland und gegen Anschläge des Islamischen Staates. Die russische Regierung verbreite «freche Lügen», wenn sie behaupte, sie sei nicht schuld am Anschlag auf den ehemaligen Doppelagenten Sergei Skripal.

Die Affäre Skripal wird von der Regierung in London weiter am Kochen gehalten. In kleinen Dosen sickern stetig «neue Erkenntnisse» in die Medien. Doch je mehr diese gefüttert werden, umso mehr Widersprüche treten zutage und umso mehr Fragen ergeben sich. Allerdings stellen die grossen westlichen Medien die entscheidenden Fragen nicht. Und sie recherchieren nicht. Und wenn sie recherchieren, dann nur in eine Richtung. Und zwar nach dem Prinzip «im Zweifel gegen Russland».

Das deutsche Wochenblatt «Die Zeit» bringt in seiner Ausgabe vom 18. Mai eine ganze Seite zur Geschichte des Nervengiftes Nowitschok. Dabei wird fokussiert auf die Umstände, wie der Kampfstoff in in den neunziger Jahren in den Besitz des deutschen Bundesnachrichtendienstes gelangte. Die Autoren des Artikels berufen sich auf undurchsichtige anonyme Quellen: «Gespräche mit damals und heute Beteiligten».

Grosses Fazit des Artikels: Russland hat damals die Welt betrogen, weil es behauptete, alle C-Waffen zu vernichten, in Wirklichkeit aber ein geheimes Programm unterhielt, um Nowitschok zu entwickeln, eine Chemikalie, die um ein Vielfaches wirksamer sein soll als das berüchtigte Nervengift VX.

Das mag alles zutreffen oder nicht. Es ist aber unerheblich zur Klärung des Falles. Die einfache Frage, die angestrengt vermieden wird, lautet: Warum sollte der Kreml eine solche Mega-Waffe einsetzen, um einen ehemaligen Doppelagenten zu beseitigen? Sergei Wiktorowitsch Skripal hätte in Salisbury an jeder Strassenecke bei einem einfachen Autounfall ums Leben kommen können. Oder mit der Diagnose Suizid in seiner Wohnung gefunden werden können. Einen Kampfstoff russischer Fabrikation am Tatort zu hinterlassen bedeutet: Die Spur führt nach Moskau. Eine Parole, die langsam zum Running Gag verkommt. Sollten die Leute vom FSB so dumm sein?

Letzte Woche wurde in der Schweizer Nachrichtensendung «10vor10» als wichtige Neuigkeit vermeldet, das Nervengift Nowitschok sei schon in den neunziger Jahren in den Westen gelangt. Es war aber keine Neuigkeit. In russischen Medien war seit langem berichtet worden, dass Leute wie der Chemiker Leonid Rink seinerzeit einen schwunghaften Handel mit dem Kampfstoff betrieben hatten. Nowitschok war überall hingelangt, auch in die USA und nach Grossbritannien, und möglicherweise auch in die Hände von zwielichtigen Gruppierungen.

Die entscheidenden Fragen, die «10vor10» offensichtlich nicht zu stellen wagt, wären die folgenden: Warum haben die britischen Nachrichtendienste nicht unmittelbar nach der Tat bekannt gegeben, dass sie ebenfalls im Besitz der Formel für Nowitschok sind? Warum haben Theresa May und ihr Aussenminister die Öffentlichkeit in die Irre geführt, als sie behaupteten, einzig Russland verfüge über den entdeckten Giftstoff, und dies sei der Beweis für die Täterschaft des Kremls? Solche Fragen sind für die meisten unserer Medien offensichtlich zu unbequem.

Die Sache mit dem vergifteten Türgriff

Nach Ermittlungen der Polizei sollen Skripal und seine Tochter mit dem Nervengift in Kontakt gekommen sein, als sie die äussere Türklinke anfassten. Da stellt sich dem einfachen Zeitungsleser die Frage: Wenn zwei Personen ein Haus verlassen, fassen dann beide den äusseren Türgriff an? Wohl selten. Wenn aber in der Regel nur einer den Türgriff berührt, dann wäre bei diesem Attentat die Wahrscheinlichkeit hoch, dass nur einer getötet würde, also zum Beispiel die Tochter, nicht aber der Vater. Sollten die russischen Geheimdienstler, die angeblich dort am Werk waren, solche Anfänger sein, dass sie das nicht bedacht hätten?

Die britischen Medien wurden von «Sicherheitsquellen» unterrichtet, man sei in den Besitz eines Handbuches des russischen Geheimdienstes gelangt. In diesem Handbuch für Attentäter werde beschrieben, wie man Nervengift auf Türklinken aufträgt. Der «Daily Mirror» zitierte seine «Sicherheitsquellen» folgendermassen:

«Das ist der schlagende Beweis. Es beweist eindeutig, dass Russland in den vergangenen zehn Jahren Methoden zur Anwendung von Giften erforscht hat, unter anderem durch den Gebrauch von Türgriffen. Entscheidend ist, dass diese Fakten geholfen haben, unsere Verbündeten davon zu überzeugen, dass es nur Russland gewesen sein kann.»

Im Theater gibt es den Begriff Deus ex machina für eine überraschende Einwirkung von ausserhalb, um die Handlung weiterzubringen. Der plötzliche und äusserst nützliche Fund eines «geheimen russischen Handbuchs» sollte in die Ausbildung von Drehbuchschreibern aufgenommen werden. Als Beispiel für einen wirksamen Deus ex machina. Wenn auch ein etwas weit hergeholter, denn Geheimdienste verfassen in der Regel keine schriftlichen Lehrbücher für Mordanschläge.

Kampfstoff mit gebremster Wirkung?

Craig Murray, ehemaliger britischer Botschafter in Usbekistan, hat die Affäre Skripal von Beginn an kritisch beobachtet. Er stellte unter anderem fest, dass Nervengifte, die als Kampfstoff dienen, keine verzögernde Wirkung haben. Sie sind unmittelbar tödlich. Erstaunlicherweise hätte aber Nowitschok, das laut offiziellen Angaben das gefährlichste Nervengift der Welt sein soll, erst nach drei Stunden gewirkt. Solange waren Skripal und seine Tochter noch in bester Verfassung:

«Ihnen ging es gut genug, um Auto zu fahren, durch ein Einkaufszentrum zu schlendern, einen Pub zu besuchen und dann (…) waren ihre zentralen Nervensysteme in solch guter Verfassung und ihr Verdauungstrakt in einem solchen Gleichgewicht, dass sie in der Lage waren, sich hinzusetzen und eine vollständige Restaurantmahlzeit zu verspeisen. Erst nachdem sie das getan hatten, wurden sie – beide zum genau gleichen Zeitpunkt trotz ihres deutlich ungleichen Körpergewichts – von dem Nervengift niedergestreckt.»

Auch die Gläubigsten unter den regierungstreuen Journalisten haben offenbar gemerkt, dass da etwas nicht stimmen kann an der offiziellen Version der Vorgänge. So sucht man nach neuen Erkenntnissen, um die Sache gerade zu biegen. Die «New York Times» zitiert am 18. Mai einen Chemiewaffenexperten des Stockholmer Institutes für Friedensforschung, der erklärt, das Nervengift sei vielleicht der besseren Haftung wegen mit einer Schmiermasse wie Handcreme vermischt worden. Dies habe die toxische Wirkung reduzieren können. Möglicherweise. Die NYT zitiert auch einen britischen Toxikologen, der sagt, Skripal und Tochter seien einfach gut und schnell behandelt worden, andernfalls seien sie mit Sicherheit mausetot.

Craig Murray stellt unter vielen anderen Details fest, dass es stark regnete an jenem Tag, als die Chemikalie auf den Griff der Eingangstür geschmiert worden sein soll. Die Polizei riet später den gefährdeten Personen der Umgebung, sie sollten alles gut abwaschen. Die angeblichen russischen Agenten riskierten also, dass ihr Kampfstoff vom Regen weggewaschen würde. Ob Moskau wohl solche Amateure nach London schickt?

Viele Fragen ohne Antwort

Vater und Tochter, die vom «brutalsten Kampfstoff der Russen» niedergestreckt wurden, sind wieder wohlauf. Was haben sie zu berichten? Wäre es nicht an der Zeit, sie von unabhängigen Beobachtern befragen zu lassen und ihre Zeugenaussage öffentlich zu machen?

Warum werden die Opfer des Anschlags abgeschirmt? Wissen sie etwas, das die Öffentlichkeit nicht erfahren soll? Plant die britische Regierung, sie irgendwo mit neuer Identität auszustatten und aus dem Verkehr zu ziehen?

Wäre es nicht an der Zeit, den Beschuldigten, also der russischen Regierung, Gelegenheit, zu geben, mit den beiden russischen Staatsbürgern zu reden? Diese Unterhaltung könnte ja in einem sicheren Umfeld stattfinden und der MI6 oder welche britischen Offiziellen auch immer, könnten mithören.

Skripals Tochter hat angeblich eine Erklärung verfasst, in der sie sagt, dass sie keinerlei Kontakt wünsche. Die Erklärung ist in einem Englisch verfasst, das nur von einer Behörde redigiert worden sein kann, nicht aber von einer Russin, die leidlich Englisch spricht.

Hans-Ulrich Jörges schrieb in einem Kommentar im deutschen Wochenmagazin «Stern» schon am 18. April, er glaube im Fall Skripal nicht an «das Böse in so brisanter Mischung mit Dummheit». Denn Putin könne wohl kaum so dumm sein, 14 Tage vor der russischen Präsidentenwahl und drei Monate vor der Fussballweltmeisterschaft einen ehemaligen Doppelagenten in England umbringen zu lassen, der Russland schon lange nicht mehr schaden könne.

Wer könnte wohl ein Interesse haben an Sanktionen gegen russische Grossinvestoren, am Absturz des Rubel, an diplomatischen Kriegserklärungen, wie sie es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr gegeben hat? Der Kreml wohl kaum.

Mit freundlicher Genehmigung von Infosperber.ch>>>

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