Die Menschenrechtslage in Russland

Die Menschenrechtslage in Russland

[von Anastasia Petrowa] In Anbetracht dessen, dass sich derzeit die Nachrichten über Folter in russischen Gefängnissen und übertriebene Gefängnisstrafen für Demonstranten mehren[1], möchten wir einen genaueren Blick auf die Menschenrechtslage in Russland sowie auf ihre Probleme werfen.

Menschenrechte und persönliche Freiheiten werden durch das zweite Kapitel der russischen Verfassung sowie durch zahlreiche weitere Gesetze gewährleistet. Problematisch ist hierbei, dass diese Normen häufig nicht eingehalten werden. Wie jüngste Ereignisse zeigten, sind es sogar oft die Strafverfolgungsbehörden selbst, die die Menschenrechte in Russland verletzen. Als Beispiele dienen insbesondere das Schlagen von Demonstranten bei Kundgebungen für freie Wahlen zur Moskauer Stadtduma und die Folter von Angeklagten im Fall Seti. Doch wer ist in Russland noch zuständig für die Einhaltung der Menschenrechte?

Menschenrechtsbeauftragte

Menschenrechtsbeauftragte werden von der russischen Staatsduma gewählt, um den staatlichen Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger sowie deren Einhaltung durch staatliche Gremien zu gewährleisten. Der Beauftragte ist dabei unabhängig und gegenüber staatlichen Stellen und Beamten keiner Rechenschaft schuldig. Außerdem ist er befugt, Beschwerden zu prüfen und aus Eigeninitiative erforderliche Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte zu ergreifen. Weiterhin hat er das Recht auf uneingeschränkten Zugang zu Straf- und Untersuchungshaftanstalten sowie zu allen Strafakten, und verantwortliche Beamte müssen ihn jederzeit empfangen. Im Namen eines Opfers kann er bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Behörde, wie der Staatsanwaltschaft, einen Antrag zur Prüfung des jeweiligen Falls stellen. Im Falle einer Verletzung der Rechte und persönlichen Freiheiten der Bürger hat der Menschenrechtsbeauftragte das Recht, auf der Sitzung der Staatsduma darüber Bericht zu erstatten und Vorschläge zur Verbesserung der Gesetzgebung zu unterbreiten[2]. Seit 2016 hat Tatyana Moskalkowa, eine ehemalige Abgeordnete der Staatsduma der Partei Gerechtes Russland, das Amt der Menschenrechtsbeauftragten inne.

Trotz aller Freiheiten und Möglichkeiten, hat das Amt eines Menschenrechtsbeauftragten in Russland allerdings seine Nachteile.
Erstens besitzt ein Beauftragter nur scheinbar sehr viele Rechte. So darf er die zuständigen Behörden lediglich auf ein Problem aufmerksam machen und besitzt im Vergleich zu Anwälten keinerlei besondere Befugnisse, um qualifizierte Rechtshilfe leisten zu können. Hierdurch wird die Effizienz des Amtes erheblich reduziert. Dies wird nicht nur von den Beauftragten selbst erkannt, sondern auch von öffentlichen Menschenrechtsverteidigern. Im russischen Recht gibt es zudem keine einheitlichen Kriterien zur Beurteilung des Erfolgs der Arbeit von Menschenrechtsbeauftragten. Die Berichte der Beauftragten geben jedoch Aufschluss darüber, in wie vielen Fällen es gelungen ist, die verletzten Rechte eines Klägers wiederherzustellen. Im jüngsten Bericht über die Ergebnisse der Arbeit von Tatyana Moskalkowa für 2018 wurde angegeben, dass sie in 929 von 9686 zur Prüfung angenommenen Beschwerden behilflich sein konnte[3].

Zweitens ist die Arbeit des staatlichen Menschenrechtsbeauftragten doch politisiert. Dies lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: 2014 wurde in Russland eine neue Regelung eingeführt, die es verbietet, nicht genehmigte Demonstrationen zu organisieren oder an diesen teilzunehmen. Dieses Verbot wurde von vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, darunter die ehemalige Menschenrechtsbeauftragte, Ella Pamfilova[4], heftig kritisiert. Die Kritiker erklärten, sie verstoße gegen die Verfassung, deren 31. Artikel die Versammlungsfreiheit garantiert[5]. Ildar Danin sollte die erste Person sein, die nach diesem Verbot strafrechtlich belangt wird (mehr über diesen Fall erfahren Sie hier: https://youtu.be/DzDzfaZE0zY). Als während seines Prozesses diskutiert wurde, ob die umstrittene Regel nicht wieder abgeschafft werden sollte, beantragte der Vertreter der russischen Menschenrechtsbeauftragten beim Verfassungsgericht, an der Regelung festzuhalten. Ildar Danin war schließlich die erste Person, die nach Einführung des Verbots für wiederholte Verstöße dagegen verurteilt wurde. Moskalkowa bemerkte, dass die Regel „es verdient, im Hinblick auf die Bitte der Gesellschaft eingehalten zu werden“[6]. Auch andere Behörden befürworteten die Aufrechterhaltung der Norm. Danins Anwalt nannte dies „ein Messer im Rücken der Menschenrechte“[7].

Der Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten

Der Menschenrechtsrat ist ein Beratungsgremium des Präsidenten. Zu seinen Aufgaben gehört es, den Präsidenten über den aktuellen Stand im Bereich der Einhaltung der Menschenrechte und Freiheiten zu informieren, ihm Vorschläge zur Verbesserung der Regelungen zum Schutz der Menschenrechte zu unterbreiten, sowie zu anderen Fragen im Zusammenhang mit diesem Thema zur Verfügung zu stehen. Der Rat koordiniert auch die Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen, fördert Rechtsaufklärung und nimmt Beschwerden von Bürgern entgegen. Im Juli 2019 wurde Walery Fadeev, Journalist und Fernsehmoderator, zum Vorsitzenden des Rates ernannt. Der Rat besteht aus 20 ständigen Kommissionen, die zum Beispiel zu Umweltrecht, zur Bürgerbeteiligung im Kampf gegen Korruption und zu zivil-militärischen Beziehungen tagen[8].

Einmal im Jahr finden Treffen der Ratsmitglieder mit Putin statt. Auch Plenar-, Sonder- und Arbeitstreffen finden dem Zeitplan auf der offiziellen Website und Informationen in den Medien zufolge eher selten statt, was auf eine eher untergeordnete Rolle dieser Struktur im politischen Leben des Landes hindeutet. Die aktiven Tätigkeiten des Menschenrechtsrats beschränken sich hauptsächlich auf die Abgabe von Erklärungen zu Problemen im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen und die Aufforderung der Generalstaatsanwaltschaft zur Durchführung von Prüfungen; immerhin finden regelmäßig auch Treffen mit Kollegen aus anderen Ländern statt. Generell ist es jedoch unwahrscheinlich, dass Sie im russischen Fernsehen hören, dass der Menschenrechtsrat dabei geholfen hat, politische Gefangene freizulassen oder dafür gesorgt hat, dass die größte Mülldeponie in Europa im nordischen Städtchen Schies nicht gebaut wird. Der Rat wird sogar von seinen eigenen Mitgliedern kritisiert: Zum Beispiel hatte der bekannte Journalist Maxim Shewchenko demonstrativ den Rat verlassen, nachdem der Vorstand des Rates seinen Aufruf ignoriert hatte, über den Angriff der Kosaken auf Demonstranten während der Protestkundgebung „Er ist nicht unser Zar“ (am 5. Mai 2018, zwei Tage vor Putins Amtseinführung) offen zu diskutieren. „Wir haben versucht, viele wichtige Dinge zu tun. Eigentlich wurde überhaupt nichts getan. Wir sprachen mit dem Präsidenten über Folter, über politische Gefangene, über Morde, über Massenverletzungen der Menschenrechte. Ich möchte nicht mehr an diesem Theaterstück teilnehmen“, sagte Shevchenko über die Aktivitäten des Rates[9].

Die Gesellschaftskammer

Die Gesellschaftskammer ist ein Beratungsgremium, dessen Mitglieder alle drei Jahre gewählt werden: Einige werden vom Präsidenten ernannt, andere in den russischen Regionen gewählt. Auch Vertreter gemeinnütziger Organisationen können sich zur Wahl stellen lassen. Der Vorsitzende der Kammer ist seit 2017 der bereits erwähnte Chef des Menschenrechtsrates – Walery Fadeev. Die Gesellschaftskammer hat die Aufgabe, die Interessen von Bürgern, öffentlichen Vereinigungen und Regierungsorganisationen zu koordinieren, um die wichtigsten öffentlichen Probleme zu lösen. Hierzu zählen auch der Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger, des Verfassungssystems und der demokratischen Grundsätze für die Entwicklung der Zivilgesellschaft im Land. Die Mitglieder der Kammer führen öffentliche Prüfungen von Gesetzen, öffentlichen Anhörungen und Runden Tischen durch[10].

Das einzige Problem ist, dass niemand die Aktivitäten der Gesellschaftskammer und ihre erzielten Ergebnisse wirklich nachvollziehen kann. Im Jahr 2017 gaben Experten des Bürgerinitiativenkomitees (einer Gemeinschaft liberaler Politiker, Experten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die vom ehemaligen Finanzminister Alexei Kudrin gegründet wurde) zu, dass die Aktivitäten der Kammer unwirksam wären. Sie stellten fest, dass es zur Verbesserung dieser Situation notwendig ist, das Verfahren zur Besetzung der Kammer zu ändern. Faire Wahlen müssten abgehalten werden, die Präsidentschaftsquote aufgehoben, und die Abhängigkeit von Behörden verringert werden. Experten schlugen außerdem vor, die Befugnisse des Gremiums zu erweitern und ihr das Recht auf Gesetzgebungsinitiative und öffentliche Kontrolle einzuräumen[11]. Seit 2017 hat sich jedoch nichts an den bisherigen Strukturen geändert, und die Gesellschaftskammer ist nach wie vor ein regierungsabhängiges Organ, das den Schutz der Rechte und Freiheiten nachahmt.

Gesellschaftliche Menschenrechtsverteidigung

Offensichtlich ist die Verteidigung der Menschenrechte auf staatlicher Ebene unzureichend. Daher braucht das Land gemeinnützige Organisationen, die jenen Menschen helfen, deren Rechte und Freiheiten verletzt wurden. In Russland existieren derartige Organisationen und die Bekanntesten sollen im Folgenden vorgestellt werden.

Memorial ist eine Bewegung, deren Hauptaufgabe ursprünglich darin bestand, die Erinnerung an die politische Repression in der UdSSR zu bewahren. Die Organisation wurde 1989 gegründet. Heute engagiert sie sich auch für Menschenrechtsaktivitäten: Ihre Mitglieder überwachen politisch motivierte Verfolgungen und unterstützen ihre Opfer, sowohl in rechtlicher als auch in materieller Hinsicht[12].

Die Moskauer Helsinki-Gruppe ist die älteste der bestehenden Menschenrechtsorganisationen in Russland und wurde 1976 in Moskau gegründet. Ziel der Organisation ist es, die praktische Umsetzung der humanitären Artikel der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die in Helsinki 1975 unterschrieben wurde, zu fordern. Die Teilnehmer sind an der Ermittlung von Menschenrechtsverletzungen beteiligt und ergreifen Maßnahmen, um die Einhaltung der internationalen Menschenrechtsverpflichtungen Russlands zu erreichen[13].

Das Komitee der Soldatenmütter Russlands verteidigt die Rechte von Wehrpflichtigen und ihren Eltern. Derzeit sind Mitglieder der Vereinigung etwa 300 regionale Organisationen von Soldatenmüttern. Dies ist die größte Frauenorganisation in Russland[14].

Rus sidyaschaya (im Gefängnis Sitzende, Russland) ist ein Projekt des Wohltätigkeitsfonds zur Unterstützung von Sträflingen und ihren Familien. Die Teilnehmer unterstützen die Opfer rechtlich und fördern Rechtsaufklärungen[15].

Das Komitee gegen Folter übt die öffentliche Kontrolle über die Verbreitung von Folter und Misshandlung in Russland aus und bietet Folteropfern professionelle rechtliche und medizinische Hilfe[16].

Trotz der Aktivitäten all dieser Organisationen, ist auch die gesellschaftliche Menschenrechtsverteidigung nicht effektiv genug. Erstens mangelt es allen gemeinnützigen Organisationen an finanziellen Mitteln, weshalb ihre Arbeit begrenzt und auf Spenden von Privatpersonen sowie auf Freiwillige angewiesen ist. Finanzielle Unterstützung durch den Staat ist äußerst selten. Zweitens werden nicht-staatliche Organisationen oft durch eine Reihe von administrativen Hindernissen in ihren Aktivitäten beschränkt. Eines der restriktiven Instrumente ist das Gesetz über ausländische Agenten von 2012[17]. Mit Agenten sind Organisationen gemeint, die ausländische finanzielle Unterstützung erhalten und sich an politischen Aktivitäten beteiligen. Der Jahresabschluss von diesen Organisationen unterliegt einer obligatorischen Prüfung. Als Agenten eingestufte Organisationen müssen dem Justizministerium alle sechs Monate über ihre Aktivitäten und die persönliche Zusammensetzung der Leitungsgremien Bericht erstatten. Darüber hinaus sind solche gemeinnützigen Organisationen verpflichtet, auf ihren Materialien anzugeben, dass sie „von einer Organisation verteilt werden, die die Funktionen eines ausländischen Agenten wahrnimmt“, was dem Image der jeweiligen Organisation abträglich ist. Seit 2018 werden auch jene gemeinnützigen Organisationen als Agenten eingestuft, die nicht nur direkt von ausländischen Strukturen, sondern auch von russischen juristischen Personen mit ausländischen Finanzierungsquellen Geld erhalten. Fast alle zuvor genannten Organisationen (mit Ausnahme der Moskauer Helsinki-Gruppe und des Komitees der Soldatenmütter) sind in das Register der ausländischen Agenten aufgenommen. Und schließlich werden häufig Strafverfahren gegen die Chefs von Menschenrechtsorganisationen eingeleitet. So wurde beispielsweise der Chef der karelischen Zweigstelle von Memorial, Juri Dmitriev, beschuldigt, Kinderpornografie verbreitet zu haben. Letztendlich wurde er freigesprochen – laut Lyudmila Alekseeva, einer der Gründerinnen der Moskauer Helsinki-Gruppe und bekannteste russische Menschenrechtsaktivistin, vor allem dank der Bemühungen von Tatjana Moskalkowa[18]. Auch gegen Dmitrievs Kollegen aus Tschetschenien, Ojub Titiew, wurde ein Verfahren wegen des angeblichen Besitzes von Drogen eröffnet (er wurde schließlich auf Bewährung freigelassen). Leider berichten die Medien immer seltener von den erfolgreichen Aktivitäten dieser Organisationen und dafür vermehrt von Verhaftungen und Skandalen.

Die Situation mit den Menschenrechten in Russland ist also nicht so gut, wie wir es gerne hätten. Staatliche Menschenrechtsverteidiger besitzen nicht genügend Autorität, da sie zu abhängig sind von den Behörden. Das vielleicht effektivste Amt ist das des Menschenrechtsbeauftragten, das zumindest einige Erfolge vorweisen kann. Gemeinnützige Organisationen auf der anderen Seite besitzen kaum Rechte und Befugnisse, außerdem sind die meisten von ihnen mit dem Status ausländischer Agenten „gebrandmarkt“, was ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft beeinflussen dürfte. Dennoch sind die Aktivitäten aller Menschenrechtsinstitutionen und -organisationen für Russland wichtig und notwendig, besonders jetzt, wo zunehmend von ungeheuren Fällen über Menschenrechtsverletzungen berichtet wird. Am Ende bleibt die Frage offen, wie man ihre Arbeit zukünftig effektiver gestalten kann.

 

Quellen:

[1] https://youtu.be/qpr6OQK17Kc,

[2] http://ombudsmanrf.org/ombudsman/content/status_auth

[3] http://ombudsmanrf.org/upload/files/docs/lib/doclad_2018.pdf

[4] https://www.fontanka.ru/2017/01/24/099/

[5] http://www.constitution.ru/10003000/10003000-4.htm

[6] https://www.kommersant.ru/doc/3200962

[7] https://www.fontanka.ru/2017/01/24/099/

[8] http://www.president-sovet.ru/about/mission/

[9] https://meduza.io/news/2018/05/10/maksim-shevchenko-ushel-iz-soveta-po-pravam-cheloveka-kotoryy-otkazalsya-obsuzhdat-izbieniya-uchastnikov-aktsii-5-maya

https://novayagazeta.ru/news/2018/05/10/141573-maksim-shevchenko-zayavil-ob-uhode-iz-spch-iz-za-otsutstviya-reaktsii-na-aresty-i-izbieniya-mitinguyuschih-5-maya

[10] https://www.oprf.ru/about/

[11] https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2017/02/15/677735-eksperti

[12] www.memo.ru

[13] mhg-main.org

[14] http://ksmrus.ru

[15] https://zekovnet.ru/

[16] www.pytkam.net

[17] https://rg.ru/2012/07/23/nko-dok.html

[18] https://mhg.ru/tatyane-moskalkovoy-v-den-rozhdeniya

 

[Anastasia Petrowa/russland.NEWS]

Foto: Evgeniy Isaev, CC 2.0, https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/, keine Änderungen

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