[von Leo Ensel] Vor genau einem Jahr formulierte Russland unmissverständlich seine Sicherheitsinteressen. Die Reaktion des Westens: Fehlanzeige! Es spricht sehr viel dafür, dass Russlands Überfall auf die Ukraine hätte verhindert werden können, hätte der Westen zumindest eine NATO-Mitgliedschaft des Landes definitiv ausgeschlossen.
Auch wenn es sich bei der „militärischen Spezialoperation“ Russlands in der Ukraine um einen völkerrechtswidrigen Überfall handelt: Was das direkte bilaterale Verhältnis zwischen Russland und dem Westen angeht, so war letzterer, und hier in erster Linie USA und NATO, jahrzehntelang in Sachen Eskalation aktiv. Das Sündenregister: Fünf NATO-Erweiterungen seit 1999 bis direkt an die Grenze Russlands mit insgesamt 14 neuen Mitgliedern; Nichtratifizierung bzw. Kündigung fast aller Verträge zur Abrüstung und Rüstungskontrolle wie des A-KSE-Vertrages über die Abrüstung von Streitkräften und Waffensystemen in Europa, des ABM-Vertrages zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (2001), des INF-Vertrages, der die Herstellung und Stationierung landgestützter Raketen und Marschflugkörper einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern verbot (2019) und des Open-Skies-Vertrag, der im Sinne vertrauensbildender Maßnahmen durch Überflugrechte beiden Seiten ‚Glasnost‘ ermöglichen sollte (2020); völkerrechtswidrige Angriffskriege wie gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (1999) und den Irak (2003), expansive Auslegung von UN-Mandaten wie im Falle Libyen 2011 oder höchst kreative Interpretationen der NATO-Russland-Grundakte (2016), die die permanente Stationierung westlicher Truppen und Waffensysteme vor der russischen Haustüre untersagt; Aufbau des weltweiten Raketenabwehrsystems Aegis mit angriffsfähigen Modulen in Rumänien und Polen; Regime Change-Versuche im postsowjetischen Raum, am Offensichtlichsten in der Ukraine (2013/2014).
Ende letzten Jahres ergriff Russland dann die diplomatische Initiative und definierte gegenüber NATO und USA seine sicherheitspolitischen Interessen, inclusive Roter Linien, klar und unmissverständlich.
Was Russland der NATO vorschlug …
Am 17. Dezember vergangenen Jahres ließ Russland der NATO und den USA jeweils einen Vertragsentwurf zukommen, der Sicherheitsgarantien für beide Seiten rechtsverbindlich festlegen sollte. – Schauen wir uns aus dem Abstand von einem Jahr und auf dem Hintergrund der aktuellen Kriegsereignisse noch einmal an, was Russland damals der NATOvorschlug und ob dies wirklich alles völlig absurd und unerfüllbar war:
- Beide Seiten sollten bestätigen, sich nicht als Gegner zu betrachten;
- Rückkehr zu den Prinzipien der „gleichen und unteilbaren Sicherheit“;
- Verzicht auf die Anwendung und Androhung von Gewalt;
- Verzicht, Situationen zu schaffen, die eine Seite als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit ansehen könnte;
- Zurückhaltung bei militärischen Planungen und Übungen zur Vermeidung von „Dangerous Brinkmanships“ (gefährlichen Zwischenfällen), insbesondere in der Ostseeregion und über dem Schwarzen Meer;
- Wiederbelebung des NATO-Russland-Rates und anderer bi- und multilateraler Gesprächsformate;
- Transparenz bei militärischen Übungen und Manövern;
- Einrichtung von Hotlines für Notfallkontakte (Revitalisierung des „Roten Telefons“);
- Rückzug der westlichen Streitkräfte und Waffensysteme auf das Niveau vor der ersten NATO-Osterweiterung;
- Verzicht einer Stationierung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen in Gebieten, von denen aus sie das Hoheitsgebiet der anderen Partei angreifen könnten;
- keine weitere Ausdehnung der NATO (insbesondere nicht um die, namentlich genannte, Ukraine);
- Verzicht der NATO auf militärische Aktivitäten auf dem Gebiet der Ukraine, sowie anderer Staaten Osteuropas, des Südkaukasus und Zentralasiens;
- Einrichtung eines weitgehend entmilitarisierten Korridors zwischen NATO und Russland.
… und den USA
Der an die Seite der USA gerichtete Vertragsentwurf enthielt darüber hinaus folgende Vorschläge:
- Bekräftigung der Erklärung, dass ein Atomkrieg keinen Sieger haben kann und dass alle Anstrengungen unternommen werden müssen, diese Gefahr abzuwenden;
- Verzicht auf gegen die andere Seite gerichtete kriegsvorbereitende Maßnahmen auf dem Territorium von Drittstaaten;
- Verzicht der USA auf die Einrichtung von Militärstützpunkten und eine bilaterale militärische Zusammenarbeit in und mit den Staaten des postsowjetischen Raums, die keine NATO-Mitglieder sind;
- beidseitiger Verzicht auf die Stationierung von Streitkräften und Waffensystemen außerhalb ihrer Hoheitsgebiete, die die andere Seite als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit ansehen könnte;
- Verzicht auf Flüge schwerer Bomber und die Anwesenheit von Überwasserkampfschiffen in Regionen, von denen aus sie Ziele im Gebiet der anderen Vertragspartei treffen könnten;
- Verzicht auf die Stationierung von Atomwaffen außerhalb des eigenen Hoheitsgebietes sowie Rückführung entsprechender Waffensysteme und Zerstörung der entsprechenden Infrastruktur in Drittstaaten;
- keine Schulungen von Personal im Umgang Atomwaffen und keine Militärübungen für deren Einsatz in Ländern, die diese nicht besitzen.
Natürlich steckte der Teufel, wie immer bei solchen Verträgen, im Detail und alle Vorschläge hätten einer intensiven Prüfung durch sicherheitspolitische und diplomatische Experten bedurft. Zudem waren die ‚Paketforderungen‘ und der ultimative Ton, in dem die beiden Briefe gehalten waren, höchst undiplomatisch. NATO und USA wären aber dringend beraten gewesen, die beiden Vertragsentwürfe als klare Formulierung russischer Sicherheitsinteressen zu lesen, sie genauestens zu prüfen und als Ausgangspunkt für Verhandlungen zu nutzen, deren Ziel eine deutliche Verbesserung der Sicherheitslage sämtlicher Vertragsstaaten – und vor allem Europas! – auf möglichst niedrigem militärischen Niveau gewesen wäre.
Die Reaktion der Ignoranten
Am 7. Januar diesen Jahres fand dann ein digitales außerordentliches Meeting aller 30 NATO-Außenminister statt und man durfte gespannt sein, ob und gegebenenfalls wie die NATO auf den russischen Vertragsentwurf reagieren würde.
Aber nichts dergleichen. Auf der abschließenden Pressekonferenz bediente Generalsekretär Stoltenberg – wie später auch US-Präsident Biden – die altbekannten Gebetsmühlen: Die NATO werde weiterhin die Ukraine und Georgien unterstützen, im Übrigen habe jedes Land, unabhängig von seiner Größe und seinen Nachbarn das Recht, seinen Weg und seine Bündnispartner selbst zu wählen. Dass dies auf die Ukraine und Georgien gemünzt war, war offensichtlich.
Zu dieser Option hatte die ehemalige Moskaukorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, längst Monate zuvor das Notwendige gesagt: „Alle Staaten haben das Recht, bei der NATO einen Aufnahmeantrag zu stellen. Aber die NATO hat jedes Recht der Welt, Bewerber abzulehnen, wenn übergeordnete politische Überlegungen dagegen sprechen!“
Aber Stoltenberg bekam den Hals einfach nicht voll und machte bei dieser Gelegenheit gleich auch noch Finnland und Schweden – „Partner, mit denen wir immer mehr eng zusammenarbeiten“ – einen unverhohlenen Antrag: „NATO‘s door remains open!“
Sechs Wochen später startete Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine.
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