„Die gesamte Menschheit gerettet“: russischer Historiker über die Rezeption des Großen Vaterländischen Krieges in Russland

„Die gesamte Menschheit gerettet“: russischer Historiker über die Rezeption des Großen Vaterländischen Krieges in Russland

Prof. Dr. Alexej Filitow vom Institut der Allgemeinen Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Spezialist für Geschichte der internationalen Beziehungen und sowjetischer Außenpolitik sprach mit russland.NEWS über die Bedeutung des Großen Vaterländischen Krieges für Russland 75 Jahre nach dem Sieg.

Alexej Mitrofanowitsch, 2015, dem Jahr des 70. Jahrestages des Sieges über Nazi-Deutschland, fuhr ich mit meinem Sohn und seinem deutschen Freund nach Moskau. Er sah ein Plakat: „70 Jahre! Zum großen Sieg!“ und war sehr überrascht. Es ist so lange her, sagte er, und dann wird ein Soldat abgebildet, dazu ein Text mit viel Pathos… Wozu soll das gut sein? Wie würden Sie diese Frage eines 15-jährigen deutschen Jungen beantworten?

Prof. Filitow: Und warum sollten wir nicht stolz auf unseren Sieg sein? Schließlich hat die damalige Sowjetunion nicht nur sich selbst, sondern die gesamte Menschheit gerettet. Das klingt vielleicht pathetisch, ist es aber war. Natürlich waren wir damals nicht allein. Amerikaner, Engländer, Franzosen, Jugoslawen, Tschechen, Polen waren mit uns. Die Völker der fernen östlichen Länder, zum Beispiel die Mongolen. China zog die japanischen Streitkräfte auf sich, die uns hätten angreifen können. Und nicht zuletzt die besten Vertreter des deutschen Volkes. Weiß man zum Beispiel heute in Deutschland über den Helden der Sowjetunion, Fritz Schmenkel, der für die gemeinsame Sache des Sieges über den Nazismus gestorben ist? Oder darüber, dass Feldmarschall Paulus, der sich nach am 20. Juli 1944 der Bewegung für ein freies Deutschland angeschlossen hatte und die deutschen Soldaten drängte, ihre Waffen niederzulegen? Dies brachte zwar nicht das gewünschte Ergebnis, aber, „pathetisch“ ausgerückt, rettete die Ehre der deutschen Nation.  Wenn Präsident Weizsäcker 1985 sagte, der 9. Mai sei der Tag der Befreiung, ist das auch Pathos?

Ein russischer Dichter schrieb: „Der Krieg ist immer weiter entfernt, doch mein Herz schmerzt nur noch stärker“. Warum ist die Wunde, die der Große Vaterländische Krieg in Russland hinterlassen hat, nach 75 Jahren immer noch nicht geheilt?

Prof. Filitow:  Aus vielen Gründen. Man sagt, dass der Krieg nicht endet, bis der letzte Soldat begraben ist. Und bei uns werden ihre Überreste immer noch gefunden. Ich habe übrigens gelesen, dass ein deutscher Staatsbürger von sich aus solche Ausgrabungen durchführt. Ehre und Lob sei ihm! Es gibt auch relevantere Gründe. Wie kann eine Wunde heilen, wenn wir Aufnahmen von Prozessionen von SS-Veteranen in Ländern sehen, die jetzt Verbündete der Deutschen sind? Gibt es in Deutschland Proteste gegen diese Untaten? Ich habe nichts darüber gehört. Dabei könnte selbst ein Wort der Verurteilung diese Wunde weniger schmerzhaft machen. Wir waren dankbar, als Deutschland endlich entschlossen hat, den „Ostarbeitern“ eine Entschädigung zu zahlen. Soweit ich weiß, hat man vor ein oder zwei Jahren auch ehemalige Kriegsgefangene in diese Liste aufgenommen. Natürlich leben nur noch sehr wenige von ihnen, sodass der deutsche Haushalt nicht besonders darunter gelitten hat. Man hätte das viel früher tun sollen, aber trotzdem – danke! Doch dann kamen die Ereignisse in der Ukraine, und wofür sollten wir den Deutschen danken? Für die Sanktionen? Als 1968 die Truppen des damaligen Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschierten, konnte dies als direkte Aggression betrachtet werden. Doch es gab keine Sanktionen!  Wird also mit zweierlei Maß gemessen?  Deutschland will in diesem Konflikt vermitteln. Aber ist es möglich, ein „ehrlicher Makler“ zu sein, wenn man die eine Seite unterstützt und der anderen mit wirtschaftlicher Repression droht?  Und wieder einmal werden Erinnerungen wach, als die Deutschen durch Kiew nach Moskau marschierten. Die Wunde beginnt erneut zu bluten …

In Deutschland wissen nur wenige, dass der Zweite Weltkrieg der Sowjetunion 27 Millionen Menschenleben gekostet hat. Obwohl diese Zahlen öffentlich zugänglich sind, und mindestens einmal im Jahr am Tag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges darüber viel berichtet wird. Der Holocaust ist eine Tatsache, über die jeder Deutsche Bescheid wissen muss. Dieses Thema wird in den Schulen gründlich unterrichtet. Aber die schrecklichen Opfer, die die Sowjetunion erlitt, sind keine Zahlen, die jeder deutsche Schüler kennen muss. Warum, glauben Sie, ist das so?

Prof. Filitow: Nun das sollten Sie besser die Deutschen fragen. Aber hier gibt es Fortschritt. Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ beendete ihre Aktivitäten nicht mit dem Ende der Zahlungen an Zwangsarbeiter. Sie leistet großartige Arbeit und sammelt Erinnerungen, die dann auf elektronische Medien übertragen und, soweit ich weiß, sogar in einigen deutschen Schulen gezeigt werden. Die Historikerin Natalia Timofejewa engagiert sich dafür, die Freie Universität Berlin ist beteiligt. Es ist notwendig, solche Projekte zu entwickeln und zu unterstützen.

Der Sieg im Zweiten Weltkrieg war – bis vor kurzem – vielleicht eines der wenigen Bande der modernen russischen Gesellschaft. Aber in letzter Zeit habe ich persönlich das Gefühl, es löst sich auf. Es gibt Diskussionen darüber, ob es notwendig ist, Siegesparaden und dergleichen abzuhalten. Wie erklären Sie das?

Prof. Filitow:  Ich glaube nicht, dass es die Meinung der Mehrheit widerspiegelt. Viele sind mit der Absage der Siegesparade in diesem Jahr unzufrieden, auch trotz der aktuellen Gesundheitsgefahr.

Apropos Siegesparade. Sie verursacht bei den Deutschen immer extrem negative Emotionen, es wird angenommen, dass Russland damit nur seine militärische Macht demonstriert …

Prof. Filitow: Ich denke, hier ist alles klar. Die Menschen in Russland bringen große Opfer, geben ihr Geld, um das „Verteidigungspotential“ aufrechtzuerhalten, wie man sagt. Man will sehen, dass dieses Geld nicht für Villen der Reichen (oder zumindest nicht nur dafür) ausgegeben wurde, sondern für einen wirklich wichtigen Zweck. Und dass man dafür große Summen ausgeben soll, verstehen die Menschen sehr gut, besonders jetzt. Es besteht ein Gefühl der Bedrohung. NATO-Soldaten, einschließlich der Deutschen, befinden sich an unseren Grenzen.

Vor einigen Jahren entstand die Tradition des Gedenkmarsches „Das unsterbliche Regiment“. Aber manchmal scheint es, dass sie eine Art „freiwillig-obligatorischen Charakter“ hat. Staatsbeamte berichten „nach oben“, wie viele Menschen zu diesen Aktionen gekommen sind. Denken Sie, wir brauchen neue Rituale, um den Zweiten Weltkrieg nicht zu vergessen?

Prof. Filitow:  Solche Dinge sollten spontan geschehen. Jetzt, unter Bedingungen der Selbstisolation, kam zum Beispiel die Idee, Lieder des Großen Vaterländischen Krieges aus den Fenstern von Häusern zu singen. Und ich glaube nicht, dass irgendwelche Beamte Berichte darüber schreiben werden.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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