„Die Fetischisierung der Ordnung“ – russischer Experte über Wahrnehmung amerikanischer Proteste in RusslandAlexej Naumow

„Die Fetischisierung der Ordnung“ – russischer Experte über Wahrnehmung amerikanischer Proteste in Russland

Alexej Naumow, Amerikakenner, Experte des Russischen Rates für auswärtige Angelegenheiten und Journalist bei der renommierten Zeitung Kommersant, erzählt im Gespräch mit russland.NEWS, warum Proteste unter dem Motto „Black Lives Matter“ in Russland unmöglich wären und warum Russen so genau beobachten, was in den USA passiert

Alexej, warum schenken russische Medien Protesten in den USA so viel Aufmerksamkeit?

Alexej Naumow: Im Gegensatz zu den Amerikanern, die sich ausschließlich auf ihr Land konzentrieren, interessieren sich die Russen sehr dafür, was im Ausland passiert. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens können wir als Teil der europäischen Zivilisation einfach nicht ignorieren, was um uns herum geschieht. Mal führen wir Kriege mit unseren Nachbarn, mal gehen wir Allianzen mit ihnen ein. Dies ist also historisch gewachsen. In vielerlei Hinsicht wurde diese Tradition natürlich durch das Sowjetregime gestärkt. Damals war es zum Beispiel üblich, sich für den Kampf um die Rechte der Bevölkerung eines fernen afrikanischen Landes zu interessieren. Außerdem scheint uns, dass die Amerikaner uns sehr ähnlich sind. Das heißt, wenn wir die auf Globalisierung ausgerichtete amerikanische Elite und die russische Elite, die trotzig konservative Werte verkündet, nicht berücksichtigen, sind sich die einfachen Menschen sehr ähnlich. Und zweitens, besteht seit der Sowjetzeit in uns die Idee, dass es zwei Großmächte gibt – die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion und jetzt Russland. China wird von uns bisher als solche nicht wahrgenommen, obwohl es diese Rolle beansprucht. Das heißt, die Stabilität der ganzen Welt hängt von der Stabilität in Russland und den USA ab. Deshalb sind die Russen daran interessiert, Amerika stabil zu halten. Die rechten Kreise mögen sich gewisse Schwächung von Amerika wünschen, aber bitte keine solche „Verwirrung und Wackelei“, denn ein instabiles Amerika bedeutet Instabilität auf der ganzen Welt.

Die Tatsache, dass die amerikanische Polizei vor den Demonstranten auf einem Knie kniet, wird in Russland als Demütigung der Sicherheitskräfte vor den Kriminellen empfunden. Ist das irgendwie mit der russischen Mentalität verbunden, weil Russen Stärke mögen?

Alexej Naumow: Dies ist eher das Ergebnis der Arbeit der russischen Medien, die sehr gerne Parallelen zu Maidan ziehen. Dort kniete die Polizei tatsächlich nieder und legte ihre Waffen nieder. In Russland gibt es eine gewisse Fetischisierung des Staatsapparats. Wir können uns keinen Polizisten vorstellen, der sich mit den Demonstranten identifiziert. Schließlich ist es das Ziel eines Polizisten, die Ordnung in der Form wiederherzustellen, in der sie vom Staat verstanden wird. Humanisierungsversuche werden als Erosion staatlicher Autorität wahrgenommen. Die Logik dahinter ist: Demokratie ist schön und gut, aber lasst sie uns während der Wahlen durchführen, und während Massenkundgebungen muss Ordnung herrschen, und zwar von der Polizei sichergestellt. Es geht nicht darum, dass die russische Polizei Menschen schlagen kann oder sollte. Aber im russischen Massenbewusstsein gibt es die Idee, dass der Polizist in Solidarität mit dem Protest sozusagen zu einer staatsfeindlichen Position wechselt. Ich würde sagen, dass wir hier über die Fetischisierung der Ordnung sprechen.

Weltweit finden Demonstrationen gegen Rassismus statt. In Russland sind solche Massenkundgebungen gar nicht vorstellbar. Warum?

Alexej Naumow: In Russland gibt es keinen institutionellen Rassismus. Im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern ist Russland als Erbe der Sowjetunion ein multinationaler Staat. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung des Landes russisch ist (ungefähr 86 Prozent). Zum Beispiel haben wir nicht einmal ein Visumregime mit den Ländern Zentralasiens. Russen haben gar keine Erfahrungen mit Schwarzen. Aus den UdSSR-freundlichen Ländern Afrikas kamen junge Leute zu uns, um zu studieren. Es war der einzige Kontakt mit Menschen einer anderen Hautfarbe. Unser sogenannter einheimischer Rassismus ist die Diskriminierung von Menschen aus Nachbarländern, das heißt Tadschiken, Usbeken, die als Gastarbeiter nach Russland kommen. In unserem Land entsteht häuslicher Rassismus in Bezug auf diejenigen, die die russische Kultur nicht akzeptieren und kein Russisch sprechen. Nun, zum Beispiel ist es für solche Leute schwierig, eine Wohnung zu mieten. Aber wenn, sage ich mal, ein Usbeke anständig gekleidet ist und fließend Russisch spricht, bekommt er eine Wohnung. Weil er als “unserer”, einer von uns wahrgenommen wird. Gegen was sollten sich dann Proteste richten? Etwa gegen die Tatsache, dass man in den Wohnungsanzeigen nicht „Nur an Slawen“ schreiben darf? Dies ist jedoch eine Frage an die Gesellschaft und nicht an den Staat. Das heißt, der systemische Rassismus, gegen den in den USA protestiert wird, ist staatliche Politik. In Russland gibt es im Gegenteil eine Politik der Bevorzugung nationaler Minderheiten. Dies kann mit der Entwicklung des Feminismus in Russland verglichen werden. Der Feminismus entwickelt sich bei uns nicht, weil russische Feministinnen einfach westliche Parolen kopieren. Aber in einem Land, in dem Frauen schon seit Jahrzehnten in Fabriken führend in der Produktion waren und übrigens als erste das Wahlrecht erhielten, funktioniert dies nicht. Es gibt andere Themen, die unsere Feministinnen auf ihre Banner hätten schreiben könnten, zum Beispiel Probleme mit Zwangsehen im Kaukasus. Aber aus irgendeinem Grund wird diesen Problemen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt.

Erklären Sie mir das Rätsel der USA: Das Land ist buchstäblich von internen Widersprüchen zerrissen, man kann sagen, dass es dort zwei Parallelgesellschaften gibt. Aber es scheint, dass dies die Entwicklung des Landes überhaupt nicht behindert, und selbst unter den Bedingungen der Pandemie ist die Arbeitslosigkeit zurückgegangen, es wurden zwanzig Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Warum aber wären ähnliche Konflikte für Russland tödlich?

Alexej Naumow: Amerika hat eine absolut einzigartige geografische Lage. In der Nähe gibt es keine gleichwertigen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Anziehungszentren. Das Konzept des „Schmelztiegels“, das vor den 80er-Jahren angenommen wurde, hat Früchte getragen. Auch heute wollen die Demonstranten die Vereinigten Staaten nicht abschaffen und etwa eine freie Republik Seattle schaffen. Die ganze Diskussion dreht sich um die Zukunft des Einheitsstaates, denn beide Seiten sehen Amerika als ihr Land. Sie sind sich nur nicht einig darüber, wie es sich entwickeln soll, welchen Weg es einschlagen soll. Aber kulturell und politisch sind die USA ein homogenes Land. Russland ist, wie viele andere große europäische Länder, historisch gesehen aus verschiedenen Ethnien, Territorien und Minderheiten zusammengewoben worden. Es ist also leicht, eine extrem nationalistische Agenda zu schaffen, zum Beispiel die Trennung einer Region wie Tatarstan von Russland zu verlangen. Ich möchte ein interessantes historisches Beispiel geben. Als der Erste Weltkrieg und damit die Einberufung zum Wehrdienst begannen, fragten die Bewohner des Gouvernements Jaroslawl: „Sind die von Pskow auch auf unserer Seite?“ Damit möchte ich sagen, dass die allrussische Identität viel jünger ist, als es uns scheint.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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