Die Dekabristen – Revolutionäre für Russland – Teil I Geschichte in DokumentenHinrichtung der Dekabristen

Die Dekabristen – Revolutionäre für Russland – Teil I Geschichte in Dokumenten

[Literaturessay von Hanns-Martin Wietek]
Nach dem Sieg über Napoleon im Jahr 1814 waren russische Truppen in Paris einmarschiert. Sie – insbesondere das Offizierskorps – erlebten den Geist der Französischen Revolution Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit. Das Ende des Jahrzehnts war aber auch von einer Reihe von Revolutionen geprägt – der erste Aufprall ereignete sich in Spanien, gefolgt von Portugal, Griechenland, den Königreichen Neapel und Piemont.

All dies geschah vor den Augen der zukünftigen Dekabristen, viele von ihnen befanden sich im Epizentrum der Ereignisse. Etwa ein Drittel der Dekabristen stammte aus dem Kreis der Offiziere, die sich nach der Kapitulation in Paris befanden: Kondrati Rylejew, Mikhail Lunin, Nikita Murawjow, Matwei Muravwjow-Apostol, Sergei Trubetskoi, Ivan Jakuschkin, Nikolai Turgenjew und andere. Nach dem Sturz Napoleons schien es ihnen, dass die Wiederherstellung der konstitutionellen Monarchie in Europa eine Garantie für Wohlstand sein würde. Aber während ihres langen Aufenthalts im Ausland erlebten sie nur Unzufriedenheit des Volkes und Wachstum der liberalen Opposition. Was sie sahen, ließ in ihnen Zweifel aufkommen.

Am 14greg/26 jul Dezember 1825, vor 195 Jahren, dem Tag der Vereidigung der Truppen auf den neuen Zaren Nikolaus I, brach in St. Petersburg eine Revolte gegen den Zaren aus, angeführt von hohen Offizieren und Adeligen.
Eine in Russland bei Thronwechseln schon fast normale Palastrevolte? Diesmal nicht!

Geplant war eine Revolution. Die Dekabristen (wie sie später nach dem Monat, in dem die Revolte stattfand, benannt wurden) waren eine inhomogene Gruppe. Die einen wollten eine Verfassung mit konstitutioneller Monarchie, andere die Abschaffung der Monarchie und eine bürgerliche Regierung – einige sprachen sogar über die Ermordung des Zaren. Der Aufstand war schlecht geplant, schlecht organisiert und überstürzt durchgeführt. Die Truppen der Aufständischen wurden niedergemacht und gefangen genommen, ihre Anführer festgesetzt, von Zar Nikolaus I. persönlich verhört und durch eine Kommission abgeurteilt.

Die Fürstin Maria Wolkonskaja, Ehefrau des Dekabristen Fürst Wolkonski, schreibt in ihren Erinnerungen:
„Endlich brachte mir mein Bruder Zeitungen und berichtete, mein Mann sei verurteilt worden. Man habe ihn und seine Gefährten auf dem Festungskronwerk degradiert. Das war so vor sich gegangen: Im Morgengrauen des 13. Juli wurden alle Verurteilten auf dem Kronwerk versammelt und nach Kategorien getrennt (1) vor dem Galgen aufgestellt. Sergej zog sich sofort den Offiziersrock aus und warf ihn ins Feuer, um zu vermeiden, dass man ihn ihm abriss. Es waren mehrere Feuer angezündet worden, in denen man die Uniformen und die Orden der Verurteilten verbrannte. Sie mussten niederknien und wurden degradiert, indem die Gendarmen auf den Köpfen der Delinquenten deren Säbel zerbrachen. Das geschah so ungeschickt, dass mehrere von den Männern Kopfverletzungen davontrugen. Nach der Rückkehr ins Gefängnis erhielten sie Zuchthausessen statt der gewohnten Verpflegung. Außerdem gab man ihnen Zuchthauskleidung – Jacke und Hose aus grobem grauem Tuch.

Dieser Szene folgte eine zweite, weitaus schrecklichere. Die fünf zum Tode verurteilten – Pestel, Sergej Murawjow (2), Rylejew (3), Michail Bestushew-Rjumin (4) und Kachowski (5) – wurden zur Richtstätte geführt. Man henkte sie, aber so grässlich unbeholfen, dass drei aus der Schlinge rutschten und noch einmal zum Schafott geführt werden mussten. Sergej Murawjow, der sich das Bein gebrochen hatte, lehnte es ab, gestützt zu werden, und Rylejew spottete: »Ich bin glücklich, zweimal für das Vaterland sterben zu dürfen. «

Ihre Leichen wurden in zwei Tröge gelegt, die mit ungelöschtem Kalk gefüllt waren, und auf der Insel Golodai begraben. Dort stand ein Posten, der keinen zu den Gräbern ließ. Ich kann bei dieser Szene nicht verweilen und sie genauer beschreiben, die Erinnerung schmerzt mich allzu sehr.

General Tschernyschow, später Graf und Fürst, spazierte um die fünf Galgen herum, betrachtete die Opfer durch seine Lorgnette und lachte.

Mein Mann verlor Titel, Vermögen und Bürgerrechte und wurde zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit sowie lebenslänglicher Verbannung verurteilt. Am 26. Juli schickte man ihn (6) zusammen mit den Fürsten Trubezkoi (7) und Obolenski, mit Dawydow, Artamon Murawjow, Jakubowitsch und den Brüdern Borissow (8) nach Sibirien.“
[Zitat aus: Fürstin Maria Wolkonskaja, Erinnerungen, St. Petersburg, 1904]

(1) Die Dekabristen wurden vom Gericht in elf „Kategorien“ eingeteilt, entsprechend der angeblichen Schwere ihrer Verfehlung. Die fünf Hauptschuldigen sollten gevierteilt werden, wurden aber zum Galgen begnadigt.
(2) Sergej Murawjow-Apostol leitete in Kiew den Aufstand des Tschernigower Infanterieregiments, der von Ende Dezember 1825 bis zum 3.1.1826 dauerte.
(3) Kondrati Rylejew, einer der besten Schriftsteller seiner Zeit, setzte sein dichterisches Talent für die revolutionäre Propaganda ein.
(4) Michail Bestushew-Rjumin, Offizier, 23 Jahre alt.
(5) Pjotr Kachowski, Offizier, gehörte zu den Radikalen unter den Dekabristen. Schon damals forderte er die Erstürmung des Winterpalais und die Verhaftung der Zarenfamilie. Er nahm tatkräftig an der Vorbereitung und Durchführung des Dezemberaufstandes auf dem Senatsplatz in Petersburg teil und erschoss dabei den Petersburger Generalgouverneur Miloradowitsch.
(6) Die Verschickung der Dekabristen aus der Festung erfolgte nachts, in kleinen Gruppen. Die Gefangenen trugen Ketten, auf jeden kam ein Gendarm, auf je vier ein Feldjäger. Die Gefangenen wurden zunächst in ein Eisenerzbergwerk bei Irkutsk, danach im Oktober ins Blagodatsker Bergwerk bei Nertschinsk gebracht.
Entsprechend der vom Zaren bestätigten Instruktion wurden sie in jeder Beziehung wie Zuchthäusler behandelt und auch zur Arbeit unter Tage eingesetzt.
(7) Fürst Sergej Petrowitsch Trubezkoi war zum „Diktator“ des Dekabristenaufstandes gewählt worden. Er übernahm jedoch nicht den Oberbefehl über die rebellierenden Truppen, die auf dem Senatsplatz aufmarschiert waren – aus Kleinmut oder weil er glaubte, das Unternehmen sei sowieso zum Scheitern verurteilt.
(8) Andrej und Pjotr I. Borissow waren vielseitig gebildete Botaniker, Entomologen und Ornithologen, zudem wahre Enthusiasten der Wissenschaft.

Verschiedene Dokumente berichten von den unmittelbaren Folgen für die Beteiligten:
„Von 289 Personen wurden 131 für schuldig erklärt,
fünf von ihnen wurden hingerichtet;
achtundachtzig zu Strafarbeiten deportiert,
achtzehn zur Ansiedlung in fernen Gebieten verurteilt;
einer zum Leben in Sibirien,
vier zu Festungsarbeiten verurteilt und
fünfzehn unter die Soldaten gesteckt.

124 wurden in andere Regimenter oder Garnisonen versetzt, der politischen Beaufsichtigung unterstellt oder in weitere Untersuchung gezogen;
vier Personen wurden ins Ausland verbannt (Ausländer);
das Schicksal von neun Personen ist unbekannt, und
einundzwanzig starben vor oder während der Untersuchung.“
[Zitat aus: Der Aufstand der Dekabristen, Untersuchungsmaterial, Bd. 8.,1925]

„Von den 120 durch das Oberste Kriminalgericht Verurteilten waren:
2 Generäle, 13 Obersten, 10 Oberstleutnants usw.
An hohen Adligen gab es: 8 Fürsten, 3 Grafen und 3 Barone.“
[Zitat aus: Andreas von Rosen, Aus den Memoiren eines Dekabristen, St. Petersburg, 1907]

„Am 14. /26. Dezember standen auf Seiten der Aufständischen 3.000 Soldaten. Von ihnen wurden
8 zu Zwangsarbeiten deportiert;
6 mussten Spießruten laufen, sechs bis acht Mal durch 1.000 Mann hindurch;
2034 wurden in den Kaukasus überführt.

Am Aufstand des Tschernigowschen Regiments beteiligten sich 1.164 Soldaten. Von ihnen wurden bestraft:
3 mit Spießruten, wobei sie durch 1.000 Mann zwölfmal laufen mussten, und anschließender Zwangsarbeit.
103 mit Spießruten von ein- bis sechsmal durch 1.000 Mann und Überführung nach dem Kaukasus;
15 Soldaten mit 200 Rutenhiebe und Überführung in den Kaukasus;
805 Mann: Überführung in den Kaukasus;
einer wurde zur Ansiedlung deportiert.“
[Zitat aus: Die Dekabristen und ihre Zeit, Sammelwerk, herausgegeben von den politischen Zwangsarbeitern, Moskau, 1932]

Wie es zu Urteilen wie den obigen kam, verdeutlicht das nachfolgende Protokoll des Verhörs von Iwan Jakuschkin:
„Lewaschow machte mir ein Zeichen, dass ich in den Saal eintreten solle… Neben dem L’hombre-Tisch stand der neue Kaiser. Er sagte mir, ich solle näher herantreten und begann folgendermaßen:

,Sie haben Ihren Eid verletzt?’
,Verzeihung, Majestät.’
,Was erwartet Sie in jener Welt? Verdammnis. Die Meinung der Menschen dürfen Sie verachten, aber was Sie in jener Welt erwartet, muss Ihnen Entsetzen einflößen. Übrigens, ich will Sie nicht vollständig zu Grunde richten: ich werde einen Geistlichen zu Ihnen schicken. Warum geben Sie mir denn keine Antwort?’
,Was wünschen Sie von mir, Majestät?’
,Ich spreche, scheint mir, deutlich genug mit Ihnen; wenn Sie Ihre Familie nicht ins Elend stürzen wollen und nicht wünschen, dass man Sie wie ein Schwein behandelt, müssen Sie alles gestehen.’
,Ich habe mein Wort gegeben, dass ich niemanden nennen werde; alles aber, was ich von mir wusste, habe ich bereits seiner Exzellenz gesagt’, – erwiderte ich und zeigte auf Lewaschow…
,Was kommen Sie mir mit seiner Exzellenz und ihrem elenden Ehrenwort.’
,Majestät, nennen kann ich niemanden.’
Der neue Kaiser sprang drei Schritte zurück, streckte die Hand gegen mich aus und sagte: ,Ihn so in Eisen schließen, dass er sich nicht rühren kann!’“
„Während dieses Verhörs,… war ich ruhig; ich hatte zuerst Angst, dass der Kaiser mich vernichten könnte, wenn er maßvoll und mit Anteilnahme sprechen, wenn er die schwachen und kindischen Seiten der Vereinigung angreifen, wenn er mich mit seiner Großmut besiegen würde. Ich war ruhig, weil ich während des Verhörs stärker war als er… Aber als nun… der Feldjäger mich in die Festung brachte, kam mir noch mehr als vorher der Gedanke an Folterungen in den Sinn; ich war überzeugt, dass der neue Kaiser das Wort ,Folterung’ nur deshalb nicht ausgesprochen habe, weil er das für unter seiner Würde hielt.“
[Zitat aus: Iwan ? Jakuschkin, Aufzeichnungen, St. Petersburg, 1905]

Wie folgenreich die Urteile für die Familien der Betroffenen waren, zeigt die Erklärung, die die Frauen der Dekabristen, die ihren Männern nach Sibirien in die Verbannung folgten, bei der Durchfahrt durch Irkutsk unterzeichnen mussten:
„Die Frau, die ihrem Gatten folgt und das eheliche Leben mit ihm fortsetzt, muss natürlich sein Schicksal teilen und wird ihren früheren Rang verlieren, d. h. sie wird nur noch als Frau eines zu Zwangsarbeit Deportierten angesehen, und damit nimmt sie auf sich, alles zu ertragen, was dieser Stand an Schwerem mit sich bringen kann, denn sogar die vorgesetzte Behörde wird nicht in der Lage sein, sie zu schützen gegen die allstündlich möglichen Kränkungen von Seiten der Angehörigen der verderbtesten, verachtungswürdigsten Klasse, die gewissermaßen darin ein Recht sehen werden, die Frau eines Staatsverbrechers, die das gleiche Schicksal wie er selbst auf sich nimmt, als sich gleich zu betrachten; diese Kränkungen können ihr sogar aufgezwungen werden… Die Kinder, die in Sibirien zur Welt kommen werden, wird man zu den staatlichen Fabrikbauern zählen… Weder Geldsummen noch Gegenstände größeren Werts mitzunehmen ist erlaubt; dies wird auf Grund der bestehenden Verordnungen verboten und ist erforderlich für ihre eigene Sicherheit, aus dem Grunde, weil diese Orte von Menschen besiedelt sind, die zu jeder Art von Verbrechen fähig sind.“
[Fürstin Maria Wolkonskaja, Erinnerungen, St. Petersburg, 1904]

Die nachfolgenden Zeugnisse beschäftigen sich mit den literarischen Einflüssen auf die Dekabristen und mit der literarischen Resonanz der Bewegung:
„Schriftsteller, die Einfluss auf die Dekabristen hatten:
1. Schriftsteller des Altertums;
2. Montesquieu, Filangieri, Rousseau, Delolme, Bentam, Benjamin Constant, Destutt de Tracy, Bignon, Mme. de Stael;
3. von Schriftstellern des 18. Jahrhunderts: Beccaria, Voltaire, Helvetius, Holbach Reynal, der Schweizer Schriftsteller Weiß;
4. Volkswirtschaftler: Adam Smith und Say;
5. Dichter: Byron.
Von russischen Schriftstellern riefen Puschkin und der Dekabrist Rylejew Entzücken hervor, ebenso wie das berühmte verbotene Werk Radischtschews: Reise von Petersburg nach Moskau, für das der Verfasser unter Katharina II. deportiert worden war.“
[Zitat aus: Semewskij, Die politischen und gesellschaftlichen Ideen der Dekabristen, St. Petersburg, 1909]

Allein unter den an der Dekabristenbewegung mehr oder weniger beteiligten Personen befassten sich 25 mit schriftstellerischer Tätigkeit, von denen vier als „wahre Dichter“ geführt werden:
Kondratij Fjodorowitsch Rylejew (wurde gehängt);
Fürst Alexander Iwanowitsch Odojewskij (zu Zwangsarbeiten deportiert, 1837 als gemeiner Soldat nach dem Kaukasus überfuhrt, wo er an der Malaria 1839 im Alter von 37 Jahren starb);
Wilhelm Karlowitsch Küchelbecker (befand sich bis 1835 in Festungen und Sträflingsabteilungen, danach kam er zur Ansiedlung nach Sibirien, wo er 1846 auch starb) und
Alexander Alexandrowitsch Bestuschew (Pseudonym: Marlinskij) — der zur Ansiedlung nach Jakutsk kam, 1829 als Gemeiner nach dem Kaukasus versetzt wurde; er zeichnete sich aus und wurde 1836 zum Fähnrich befördert; er fiel in einem Treffen 1837.“
[Zitat aus: Der Aufstand der Dekabristen, Untersuchungsmaterial, Bd. 8.,1925]

„In der russischen schönen Literatur fanden die Dekabristen ein mächtiges Echo. Vor der Oktoberrevolution behandelten gegen 40 Schriftsteller und Dichter in dieser oder jener Form die Dekabristen (nur 7 von ihnen kritisch). Unter ihnen finden wir die Namen Puschkins, Tolstojs, Dostojewskijs, Lermontows, Gribojedows, Nekrassows, Korolenkos, Ogarjows, Mereschkowskijs.
Vergessen wir dabei nicht die Zensur, die lange nicht erlaubte, die Dekabristen auch nur zu erwähnen.
Nach der Oktoberrevolution finden wir gegen 20 Namen von Schriftstellern, die über die Dekabristen schrieben.“
[Zitat aus: Das hundertjährige Jubiläum des Aufstands der Dekabristen, Sammelwerk, herausgegeben von den politischen Zwangsarbeitern, Moskau, 1928]

Literatur zu den Dekabristen
Henri Troyat: Der Ruhm der Besiegten (Roman)
Michael Wolkonskij: Die Dekabristen
Fürstin Maria Wolkonskaja: Erinnerungen (Zeitzeugenbericht)
N.J. Edelmann: Verschwörung gegen den Zaren – Porträts der Dekabristen
Dmitrij Mereschkowskij: Der vierzehnte Dezember (Roman)

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