[von Dr. Christian Wipperfürth] Westdeutschland war bzw. Gesamtdeutschland ist Mitglied der NATO und der EU. Die Bundesregierungen ließen zu keiner Zeit Zweifel daran aufkommen, die Funktionstüchtigkeit der westlichen Organisationen erhalten und erhöhen zu wollen. Auf der anderen Seite fungiert Bonn bzw. Berlin seit der Ostpolitik Willy Brandts auch als Mittler zwischen dem Westen auf der einen und dem großen osteuropäischen Nachbarn der anderen Seite. Warum war und ist Deutschland hierzu willens und imstande?
Um Mittler sein zu können, müssen Bedingungen erfüllt sein: Das Land muss erstens großes Gewicht besitzen, um ernst genommen zu werden. Es muss zweitens in West wie Ost als berechenbar gelten und Vertrauen genießen. Und es muss drittens ein Interesse daran besitzen, ausgleichend zu wirken. Darum können für diese Aufgabe nur wenige Länder in Betracht kommen. Inwiefern könnten die drei großen Länder der westlichen Hälfte Europas vermittelnd tätig sein: Deutschland, Frankreich und Großbritannien?
Sowohl London als auch Paris mangelt es letztlich an Interesse und an den erforderlichen Kenntnissen, um als Mittler tätig zu sein. Das Augenmerk beider ist aus geografischen und historischen Gründen bei Weitem nicht in dem Maße Richtung Osteuropa gerichtet, wie dies auf Deutschland zutrifft.
In Deutschland gibt es auch keine weltweit tätigen großen Rohstoffkonzerne, die häufig einen beträchtlichen außenpolitischen Einfluss ausüben. Kontroversen um Schürfrechte, die zwischen Moskau, Paris, Washington und London wiederholt und anhaltend auftreten, entfallen demzufolge. Es gibt zwar deutsche Rohstoffunternehmen, sie sind aber vergleichsweise klein. Zudem ist Russland für sie aus geografischen Gründen und einer häufig langjährigen Kooperation meist Partner und nur selten Konkurrent.
Der deutsch-russische Handelsaustausch ist weit reger als der britisch- bzw. französisch-russische. Dies liegt wiederum an geschichtlichen Bindungen und der räumlichen Nähe, geht aber darüber hinaus: Die Angebotspalette der deutschen Wirtschaft ist breiter als die der Konkurrenten. Diese starken Verflechtungen begünstigen kooperative Tendenzen und die wechselseitige Expertise über das andere Land.
Die wechselseitige Kenntnis wird durch ein international beispiellos enges Netz zivilgesellschaftlicher Kontakte verstärkt und durch Sympathie angereichert. Ich möchte hier nur kurz auf die Stichworte Russlanddeutsche, die Kriegswunden, Bindungen aus DDR-Zeiten, Städte- und Schulpartnerschaften und die Kooperation zivilgesellschaftlicher Organisationen verweisen.
Die räumliche Nähe, der Wirtschaftsaustausch und die engen menschlichen Beziehungen schaffen die Basis und das Interesse, zu vermitteln. Es gibt noch weitere Gründe, warum die deutsch-russischen Beziehungen spannungsärmer sind als etwa die französisch- oder britisch-russischen:
London und Paris sehen die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich als Ständige Mitglieder des Weltsicherheitsrats global zu profilieren. Dies führt wiederholt zu Interessengegensätzen oder zumindest Unstimmigkeiten auch mit Russland. So ist Moskau nicht begeistert, dass Großbritannien seit vielen Jahren gemeinsame Manöver mit Kasachstan durchführt. Oder die britische (und amerikanische) Regierung überzeugten das Unternehmen „British Petroleum“ davon, eine Erdölleitung vom Kaspischen Meer bis zu einem türkischen Hafen am Mittelmeer zu bauen, um Russland zu umgehen. Und die französische Position hinsichtlich Libyens 2011 oder Syriens 2013 stößt in Russland teils auf ausgeprägte Vorbehalte, teils auf erbitterten Widerstand.
Deutschlands Haltung bewegt sich in einigen wichtigen außenpolitischen Fragen (z. B. Irakkrieg 2002/03 (1), Libyen 2011, Syrien 2012/13) hingegen grundsätzlich zwischen den drei NATO-Atommächten (bzw. dem angelsächsischen Duo) und Russland. Wenn Deutschland von westlichen Partnern befürwortete Interventionen oder Sanktionen mitträgt, dann tendenziell nicht aus der Überzeugung, dass es sich um die richtige Politik handelt, sondern zur Bündnispflege.
Die deutsche Bereitschaft, starken Druck oder gar Waffengewalt zur Konfliktlösung einzusetzen, ist deutlich geringer ausgeprägt als in den USA, Frankreich oder Großbritannien. Mit Kriegseinsätzen lassen sich hierzulande keine Wahlen gewinnen. Berlin setzt stärker auf Verhandlungen und den Kompromiss als die anderen großen NATO-Länder.
Die russische Führung und Bevölkerung teilen die deutschen Bedenken militärische Mittel einzusetzen zwar nicht. Die deutsche und die russische Haltung ähneln sich jedoch in manchen internationalen Fragen: Russland wird zum Ersten meist lediglich aufgefordert, sich einer westlichen Position anzuschließen. Es stößt in Moskau jedoch auf Widerwillen, Washington und/oder Brüssel folgen zu sollen. Zum Zweiten teilen Russen die im Westen verbreitete Begeisterung für Revolutionen in autoritär regierten Staaten nur selten. In Russland dominiert die Haltung, dass die menschlichen Kosten revolutionärer Umbrüche zu hoch und die Erfolgsaussichten auf eine grundsätzliche Verbesserung zu gering seien. Die Erfahrungen von 1917 und der 1990er Jahre wirken nach.
Interessenunterschiede zwischen Deutschland und Russland traten durchaus auf, z. B. in Bezug auf die NATO-Beitritte ostmitteleuropäischer Staaten 1999 oder der Ukraine. Aber die Meinungsunterschiede besitzen nur selten eine Schärfe wie etwa zwischen Moskau und London bzw. Paris. Die Interessen des Westens erfordern nach Berliner Lesart konstruktive und kooperative Beziehungen mit Moskau.
(1.) Zur deutschen und russischen Politik in der Irakkrise 2002/03 s. Wipperfürth, Christian: Putins Russland – ein vertrauenswürdiger Partner?, Stuttgart 2004, S. 102-09.
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