Der Wilde Westen im russischen Osten

[von Michael Barth] Winnetou, Old Shatterhand, Hadschi Halef Omar, Kara Ben Nemsi und der Schut, wer kennt sie nicht, die Helden aus den Abenteuerromanen Karl Mays? Der Wilde Westen, die Mesopotamische Wüste und das Land der Skipetaren sind Gegenden, mit denen uns der sächsische Aufschneider, der uns Deutschen glauben machen wollte, er hätte all die fernen Länder selbst bereist, in seinen Bann gezogen hat. Einzig Russland schien er nie als Schauplatz seiner Exkurse in Erwägung gezogen haben.

Weshalb eigentlich? Lag Russland doch Europa zu Zeiten Karl Mays, in den Jahren 1842 bis 1912, um ein Vielfaches näher als der nordamerikanische Kontinent, so dass es ein leichtes für ihn gewesen sein müsste, seine Protagonisten auch dort auftreten zu lassen. Oder war Russland einfach nicht spannend genug und Europa zu vertraut, um ein Teil seiner Reiseromane zu werden? Nun, Karl May war in Russland genauso wenig, wie in der Prärie der USA. Jedoch hat er sich der russischen Geschichte mehr bedient als man es annehmen möchte. Es ist weniger das geschriebene Wort, das bei May einen Bezug zu Russland herstellt, sondern eine gewisse Parallelität zwischen den europäischen Erkundungen und Eroberungen auf den beiden Kontinenten.

Bereits im 18. Jahrhundert setzte eine Expansionspolitik der Europäer ein, die weniger dem Interesse an Land und Leuten galt, als viel mehr der Ausbeutung der Bodenschätze, die in den „neuen“ Gebieten zu finden waren. Die ursprüngliche Bevölkerung stand dabei meist im Weg und wurde kurzerhand als „Wilde“ aus dem Weg geräumt. Das geschah, um bei unserem wackeren Sachsen zu bleiben, sowohl im Wilden Westen, als auch in Sibirien. Es darf davon ausgegangen werden, dass Karl May weit mehr aus der russischen Literatur denn aus der amerikanischen schöpfen konnte, da sie seinerzeit um ein Vieles reichhaltiger war und in Europa zur Verfügung stand.

Trapper und Zobeljäger

So wurden bei May aus den Pelzjägern, Fallenstellern und Glücksrittern, die sich über den Ural nach Sibirien wagten, kurzerhand Kunstfiguren, wie Sam Hawkins und Old Firehand. Die indigenen Völker im russischen Asien mutierten zu seinen exotischen Indianerstämmen. Und tatsächlich wusste May offenbar über die verschiedenen Volksgruppen Russlands Bescheid. Auf die Spur führt das Autorenduo Eckehard Koch und Holger Kuße in dem vor Kurzem im Karl-May-Verlag erschienenen Werk „Auch im Osten der Wilde Westen“ aus der Reihe „Karl May im Kontext“ Sie verfolgen die Fährte besonders durch die weniger bekannten Werke Karl Mays, in denen sein Wissen über Russland einfließt.

Schon in seinem Kolportageroman „Deutsche Herzen – Deutsche Helden“ aus den Jahren 1885 bis 1888 schildert May das fiktive sibirische Städtchen „Platowa“, auf dessen Jahrmarkt er ein regelrechtes „Völkerragout“ beschreibt. Auf rund 350 Seiten tasten sich die Autoren akribisch durch die Literatur Karl Mays, um jede noch so kleine Querverbindung zu Russlands Expansionspolitik in Asien aufzuspüren. Der Leser bekommt auf diese Art ein aufschlussreiches Bild über die Erschließung Sibiriens, nicht ohne das Gefühl zu haben, mitten im Wilden Westen zu stehen. Taktgeber der Kolonisierung beider Kontinente war jeweils die Eisenbahn, die es damals ermöglichte, binnen kurzer Zeit weite Entfernungen zu überwinden.

Getroffen haben sich Karl-Mays Wilder Westen und Russlands rauer Osten schließlich in Alaska. Hier findet sich in Mays späten Oeuvres auch erstmals die Erwähnung des russischen Territoriums in der Reihe seiner Gesammelten Werke. Weiterführende Querverweise der Autoren sind hierbei nahezu unerlässlich, um die Komplexität der May’schen Welt zu verstehen. Denn, und das muss sich wohl die Mehrzahl der Leser eingestehen, die in jungen Jahren die Winnetou-Trilogie verschlungen hat, die Wenigsten wissen, dass es noch einen vierten Band über den Apachen-Häuptling in der Gesamtausgabe gibt, der sich mit der spirituellen Welt der Indianerstämme bei Karl May auseinandersetzt.

Von Stambul nach Buchara

Weitere Gemeinsamkeiten der Geschichte Karl Mays und Russlands enthüllen Koch und Kuße in Zentralasien sowie dem Kaukasus. Die politischen Anspannungen Russlands, Englands, des Osmanischen Reiches und Persiens zwischen dem Schwarzen Meer und dem Hindukusch blieben auch in Europa nicht unbemerkt und boten May indirekt das Paradigma von „Bagdad nach Stambul“. Im sogenannten „Orientzyklus“, den ersten fünf Bänden der Gesamtreihe, finden sich daher des öfteren Bemerkungen und Diskussionen mit anderen Romanfiguren zur „Türkenfrage“, die die Politik Russland lange beschäftigte. In persona betreten Türken besonders in Verbindung mit dem Schut den Schauplatz.

Über Russlands Krieg gegen die Perser bediente sich May der russischen Literatur, insbesondere der Frühwerke Lew Tolstois und Puschkin. Zunächst verarbeitete May das damalige mittelasiatische Konglomerat in seiner, wenn man so will, Völkerkunde „Deutsche Herzen-Deutsche Helden“, um in späteren Romanen historische Begebenheiten gezielt in Szene zu setzen. So findet sich beispielsweise die Schlacht von Irdschar, in der sich der Emir von Buchara gegen die Perser als auch gegen die Russen behaupten musste, in Karl Mays Roman „Am Jenseits“ wieder. Selbst General Skobelew, der den russischen Versorgungsschub nach Zentralasien führte, findet bei May Erwähnung.

Den Autoren von „Auch im Osten der Wilde Westen“ gelingt es in ihrem Buch nicht nur den Bogen zu Karl Mays Romanen zu schlagen. Vielmehr eskortieren sie den Leser durch das riesige russische Reich des späten 19. Jahrhunderts, um eine gewisse „Trittsicherheit“ im Umgang mit politischen Zusammenhängen als Grundlage für die Entwicklung der Regionen in heutiger Zeit zu schaffen. Wenn Koch und Kuße das „allgemeine bürgerliche Bildungswissen über die Vielvölkerstaatlichkeit“ Russlands und der späteren Sowjetunion ansprechen, geschieht dies nicht ohne den unterschwelligen Verweis auf Heute.

Denn, anders als in den Vereinigten Staaten, setzte sich Russland seit der Revolution 1917, mit Unterbrechung in der Ära Josef Stalins, tatsächlich für die Selbstbestimmung der Völker ein. Hier stoßen wir auch auf das humanitäre Selbstverständnis Karl Mays, wenn er beispielsweise über die Einpferchung von Völkern in Reservaten schreibt: „Die Verwilderung der Zivilisation ist schlimmer, als jede Wildheit der Wilden.“

Das Buch ist somit eine klare Kaufempfehlung, nicht nur für Liebhaber des umtriebigen Sachsen, der unzählige Jugendliche über Generationen mit seinen Reiseabenteuern in seinen Bann gezogen hat. Jeder, der sich für die russische Geschichte und deren Ausdehnung nach Osten interessiert, wird darin mit Sicherheit noch etwas finden, das den „Aha-Effekt“ beim Lesen hervorruft. Eine grundlegende Frage aus der Kindheit des Rezensenten allerdings konnte auch dieses Buch nicht beantworten: Warum mussten Karl Mays Helden eigentlich nie aufs Klo?

Eckehard Koch, Holger Kuße: Auch im Osten der Wilde Westen, Karl May im Kontext, Karl-May-Verlag 2017, 379 Seiten, 49 Abbildungen, 1 Karte, ISBN: 978-3-7802-0562-9

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