„Der Vorrang der Sicherheit vor allen anderen Werten“: Die russische Politologin Ekaterina Schulmann über die Trends nach der Coronavirus-Krise

„Der Vorrang der Sicherheit vor allen anderen Werten“: Die russische Politologin Ekaterina Schulmann über die Trends nach der Coronavirus-Krise

Einer der Gründe dafür, was uns heute widerfährt, ist der globale Trend zur Steigerung des Wertes des menschlichen Lebens und der Reduktion der Gewalt. Der Megatrend ist jedoch gerade aufgrund seines globalen Charakters immer vielschichtig. Daher führt selbst diese scheinbar positive Tendenz zu dem, was wir heute sehen. Das menschliche Leben ist so kostbar geworden, dass sich keine Regierung der Welt menschliche Verluste leisten kann, wenn die Gesellschaft glaubt, dass sie hätten verhindert werden können. Gleichzeitig verhalten sich sowohl demokratische als auch autoritäre Staaten bei der Einführung restriktiver Maßnahmen ziemlich ähnlich, wenn auch sehr unterschiedlich in Bezug auf Unterstützungsmaßnahmen.

Ökonomen haben errechnet, dass, wenn man nichts ändern würde – das heißt wenn die Menschen so leben dürften, wie sie leben, und man nur die Kranken behandelt und die Sterbenden begraben hätte – dann werden die wirtschaftlichen Verluste viel höher sein als jetzt. Denn die moderne Wirtschaft ist eine Wirtschaft der Dienstleistungen (Service und Management), nicht der Ressourcen. Folglich ist die Einsparung von Humanressourcen, Produzenten und Konsumenten von Dienstleistungen wirtschaftlich sinnvoll, so unrentabel sie kurzfristig auch erscheinen mag.

Der Vorrang der Sicherheit vor allen anderen Werten ist auch das Ergebnis der neuen Bedeutung des menschlichen Lebens. Bis vor kurzem glaubte man, dass die Industrieländer an den Werten der Entwicklung und des Fortschritts festhalten, während sich die ärmeren Länder (einschließlich Russland) auf die Werte Sicherheit und Bewahren konzentrieren. Was hat sich aber herausgestellt? Die gesamte fortschrittliche Welt stellt die Sicherheit in den Vordergrund. Die kollektive Menschheit ist bereit, ihre Freiheiten für die Sicherheit zu opfern. Im 20. Jahrhundert opferten die Menschen die Freiheit für große Errungenschaften und Siege, für den Aufbau des Sozialismus oder Kapitalismus, für gigantische Bauprojekte oder für die Vernichtung des Feindes. Die Situation hat sich geändert, und die humanistische Kultur opfert, wie sich herausstellte, die Freiheit. Aber nicht um jemanden zu besiegen, sondern damit niemand verletzt wird. Und auch in demokratischen Ländern ist es den Menschen verboten, ihre Häuser ohne schriftliche Genehmigung zu verlassen, damit sie niemanden infizieren und sich selbst nicht anstecken.

Tatsächlich war dies keine große Überraschung, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Man muss verstehen, dass Krisen nichts Neues bringen, sondern nur Prozesse beschleunigen, die schon vorher in Gang waren. Fernarbeit, Online-Dienste, Lieferung von allen möglichen Waren und Überwachung, sowohl seitens des Staates als auch seitens der Großkonzerne – all dies boomte in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren. Das Unglück ist passiert, und wir haben genau die Instrumente eingesetzt, die bereits vorhanden waren.

Interessanterweise sind wir gewohnt, genau das Gegenteil zu denken. Uns schien, das Leben lief vor sich hin, es wuchs und entwickelte sich etwas, und dann kam ein „schwarzer Schwan“, und alles wurde zurückgesetzt, alles stellte sich als unnötig heraus und brach zusammen. In Wirklichkeit geschieht das Gegenteil. Was vor der Pandemie bereits in der Krise steckte, wird absterben. Was sich entwickelt hat, wird mit doppelter Geschwindigkeit und Kraft aufblühen.

Man kann nicht ausschließen, dass keine globalen Veränderungen im Leben nach der Epidemie eintreten werden. Wir sind jetzt sozusagen im „Auge des Sturms“ und wiederholen den gleichen Satz: „Die Welt wird nie wieder dieselbe sein.“ Aber die Quarantäne wird aufgehoben, die menschlichen Verluste werden nicht so groß sein, und wir können nicht sagen, dass wir auf leere Straßen hinausgehen werden. Auch die Wirtschaftstätigkeit wird wieder zunehmen: In gesunden Volkswirtschaften kann der Aufschwung rasant erfolgen. Vielleicht wird es in einem Jahr überhaupt keine Spuren mehr von dem geben, was passiert ist.  Aber stagnierende Volkswirtschaften halten diesem Schock möglicherweise nicht stand. Worauf stützen wir uns bei der Erstellung dieser Prognosen? Auf die so genannte „gemeinsame Erfahrung“ einiger großer Schocks der letzten Jahre. Zum Beispiel auf Nine-Eleven. Erstens, erschienen damals neue Normen, die die Art und Weise, wie wir uns bewegen, regeln. Zweitens eine neue Art von Nachrichtendiensten, die mit enormen Befugnissen ausgestattet wurden und begannen, Technologien zur Überwachung von Menschen zu entwickeln. So entstanden neue Instrumente, sowohl technische als auch gesetzgeberische. Das ist wichtig anzumerken, denn die Fixierung im Gesetz unterscheidet das Dauerhafte vom Vorübergehendem und Situativem. Die Katastrophe wird verschwinden, aber das Gesetz wird bleiben.

Ich denke, dass die Überwachungsinstrumente nach der Pandemie weiterhin in unserem Leben eingesetzt werden. Es wird höchstwahrscheinlich dazu kommen, dass die Medizin sozusagen „securitisiert“ wird, das heißt den medizinischen Diensten die Autorität der Sicherheitsdienste übertragen wird. Wir alle sind an Metalldetektorrahmen gewöhnt. In der Zukunft werden wir auch Temperatursensoren an den Ein- und Ausgängen von Wohnungen, Institutionen und sämtliche öffentlichen Räumen sehen. Und all dies um der Erhaltung unseres kostbaren Lebens willen.

Ekaterina Schulmann ist die bekannteste Politikwissenschaftlerin Russlands. Sie ist Dozentin am Institut für Sozialwissenschaften der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation (RANEPA) und hat ihre eigene Sendung beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy. Ihr YouTube-Kanal hat mehr als 240.000 Abonnenten.

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