Der unbekannte Solschenizyn

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

Wie leicht ist mir, mit Dir zu leben, o Herr!
Wie leicht ist mir, an Dich zu glauben!
Wenn mein Verstand sich dem Zweifel öffnet oder kraftlos wird,
wenn die Klügsten unter den Klugen
nicht über den heutigen Abend hinaussehen
und nicht wissen, was morgen getan werden muss –
gibst Du mir Klarheit und Zuversicht,
dass es Dich gibt
und dass Du Sorge tragen wirst,
dass nicht alle Wege des Guten verschlossen sein werden.

Auf der Höhe meines irdischen Ruhmes
blicke ich mit Verwunderung zurück, auf jenen Weg
durch die Hoffnungslosigkeit – hierher,
von wo aus auch ich der Menschheit
einen Abglanz Deiner Strahlen schicken konnte.
Und wie viel Zeit auch nötig sein wird,
um Deine Strahlen widerzuspiegeln,
Du wirst sie mir geben.
Und was ich nicht mehr schaffen werde, heißt –
dass Du es Anderen vorbestimmt hast.

Gebet von Alexander Solschenizyn, entstanden zwischen 1958 und 1963.
(zitiert nach: Alexander Solschenizyn, Was geschieht mit der Seele in der Nacht. Kurzerzählungen. Herbig, 2006)

Wer den Namen Alexander Solschenizyn hört, dem fällt sofort Archipel GULAG ein, dann Krebsstation und Im ersten Kreis der Hölle; wer mehr weiß, denkt sicher noch an Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. Alle haben den gegen den Kommunismus kämpfenden, großartigen Schriftsteller vor Augen, der vom Sowjetregime aus dem Land gejagt wurde. Belesenere wissen um den Nobelpreis, wissen, dass Solschenizyn selbst im Lager war, und haben in seinen jüngeren Werken gelesen, dass er auch dem Westen kritisch gegenüberstand. Politisch Engagierte sehen mit großer Zustimmung seinen unerschütterlichen Kampf gegen die stalinistische Diktatur und den Kommunismus, sind jedoch befremdet, dass der Feind des Sowjetregimes ein (wenn auch kritischer) Fürsprecher Russlands (vermeintlich: geworden!) ist. Kurzsichtige schimpfen ihn einen erzkonservativen Nationalisten und Prediger russischer Großmachtpolitik.

Es ist nun, nach seinem Tode, Zeit, zur Ruhe zu kommen und jenseits der tagespolitischen Aktualität über den Menschen Solschenizyn nachzudenken, nachzudenken über das, was im Eifer des Gefechts vielleicht untergegangen ist, zu sortieren, was tagespolitische Emotionalität und was die Triebfeder seines Handelns war und was bleiben wird. Und wer könnte besser Auskunft geben über seine Grundüberzeugungen, sein Handeln und die Maximen seines Lebens, als er selbst? Daher soll hier – so paradox es nach seinem Tod auch klingen mag – Solschenizyn selbst zu Wort kommen.

Außer Frage steht, dass Solschenizyn einer der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts war; und er war ein russischer Schriftsteller, was bedeutet, dass er, wie alle russischen Schriftsteller vor ihm, die Aufgabe des Schriftstellers darin sah, als Gewissen der Gesellschaft zu agieren. Deutlich wird dieser Anspruch im nachfolgenden Auszug aus einem von Pavel Ličko verfassten Bericht, der 1967 in der slowakischen Literaturzeitung Kultúrny Život erschien:

Dank der Tatsache, dass er die Welt durch das Auge des Künstlers sieht, und dank seiner Intuition enthüllen sich manche der sozialen Erscheinungen durch den Schriftsteller früher und von einer unerwarteten Seite. Darin besteht sein Talent. Aus dem Talent jedoch erwächst Verpflichtung. Der Gesellschaft hat er darüber zu berichten, was er sieht, oder wenigstens von dem, was krankhaft ist und Unruhe erzeugt. …. Der Schriftsteller muss sich beunruhigen, muss sich von seinem künstlerischen Bewusstsein leiten lassen. Er hat darüber zu schreiben, was er sieht und wie er es sieht. …..

Die Aufgabe des Schriftstellers darf man nicht bloß vom Gesichtspunkt seiner Verpflichtungen vor der Gesellschaft sehen, man muss sie auch vom Gesichtspunkt der allerwichtigsten Verpflichtung – derjenigen vor jeder einzelnen Persönlichkeit – sehen. Das Leben des Einzelnen deckt sich nicht immer mit dem Leben der Gesellschaft. Nicht immer steht die Gesellschaft dem Einzelnen bei. Jeder Mensch hat vielerlei Probleme, welche die Gesellschaft nicht zu lösen vermag. Der Mensch ist zunächst ein körperliches und geistiges Wesen, und erst dann wird er zu einem Glied der Gesellschaft. Die Verpflichtung des Schriftstellers vor dem Einzelmenschen ist nicht kleiner als seine Verpflichtung vor der Gesellschaft. In unserer Zeit, da die Technik das Leben beherrscht, da materielle Wohlfahrt das Wichtigste ist, da der Einfluss der Religion auf der ganzen Welt abnimmt, ruht auf dem Schriftsteller eine ganz besondere Verpflichtung. Er hat einen verwaisten Platz einzunehmen.

(zitiert nach: Alexander Solschenizyn, Von der Verantwortung des Schriftstellers I. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Peter Schifferli Verlag AG Die Arche, 1969)

Ohn Ansehen der Person und furchtlos hat Solschenizyn auf Missstände und Fehlentwicklungen hingewiesen, ob nun gegenüber der weltlichen Macht, der er, wie 1973 in seinem Offenen Brief an die sowjetische Führung, die Hauptprobleme Russlands aufzeigte, oder gegenüber der geistlichen, der er 1972 in seinem Fastenbrief an den Patriarchen von Moskau und ganz Russland, Pimen Falschheit und Feigheit vor den Mächtigen vorwarf. Durch den Nobelpreis war ihm eine relative „Unberührbarkeit“ sicher; er stand vor den Augen der Welt, durch die ein Aufschrei gegangen wäre, hätte man ihn „bestraft“. Nicht nur in seinen belletristischen Werken, sondern auch in vielen Essays, Aufrufen und Interviews nutzte er den Schutz durch die Öffentlichkeit dazu, seine Meinung offen auszusprechen.

Nach Solschenizyns Vorstellung musste der Schriftsteller das Gewissen der Gesellschaft sein, eine moralische Instanz; er musste sich seiner Verantwortung bewusst sein und selbst danach leben. Und Gerechtigkeit ist die Voraussetzung für Gewissen.

In einem Brief an drei Studenten schrieb er dazu:

Gewissen und Gerechtigkeit

Nach meinem Gefühl habe ich Euch meinen Gedanken nicht ganz ausgesprochen, nicht ganz klar gemacht. Hier noch ein paar Worte dazu.

Gerechtigkeit ist eine Errungenschaft der um Jahrhunderte zurückreichenden Menschheit und wird nie zu Ende gehen – selbst dann nicht, wenn sie sich an vereinzelten „Engpässen“ für die Mehrzahl der Leute verdunkelt. Es ist dies offensichtlich ein der Menschheit eingeborener Begriff, denn eine andere Quelle lässt sich nicht finden. Gerechtigkeit besteht, solange es Menschen – seien es auch noch so wenige – gibt, die sie empfinden. Die Liebe zur Gerechtigkeit kommt mir als ein von der Liebe zu den Menschen unabhängiges Gefühl vor (oder als eines, das nur teilweise damit zusammenfällt). Und in jenen Zeiten des Verfalls der Massen, wenn sich die Frage stellt: ‹um wen soll ich mich bemühen? für wen soll ich denn Opfer bringen? › – da kann man mit voller Überzeugung antworten: für die Gerechtigkeit. Sie ist keineswegs relativ, wie etwa das Gewissen, nein, sie selbst ist das Gewissen, doch nicht ein persönliches, sondern das Gewissen der gesamten Menschheit. Wer die Stimme des eigenen Gewissens klar vernimmt, der vernimmt gewöhnlich auch die Stimme der Gerechtigkeit. Ich bin der Überzeugung, dass uns in jeder gesellschaftlichen Frage (oder, wenn wir sie nicht bloß vom Hörensagen, nicht bloß aus Büchern kennen, sondern seelisch von ihr betroffen sind, in jeder historischen Frage) die Gerechtigkeit ein Vorgehen (beziehungsweise ein Urteil) nahelegt, das niemals gewissenlos sein kann.

Da unser Verstand gewöhnlich nicht dazu ausreicht, den Gang der Geschichte zu erklären, zu verstehen und vorauszusehen – und da, wie Ihr selbst sagt, die „Planung“ der Geschichte sich als Unsinn erwiesen hat -, so werdet Ihr doch nie fehlgehen, wenn Ihr Euch in jeder gesellschaftlichen Situation für die Gerechtigkeit einsetzt … Dies gibt uns die Möglichkeit, stets – ohne je die Hände sinken zu lassen – tätig zu sein. Entgegnet mir nun aber nicht, die Gerechtigkeit werde „von jedem einzelnen wieder anders verstanden“. Nein! Man mag Euch anschreien, an der Gurgel packen, die Brust aufreißen, und dennoch sind die Regungen in Euch ebenso untrügerisch wie die Eingebungen des Gewissens. (Auch im persönlichen Leben versuchen wir ja bisweilen, unser Gewissen niederzuschreien.) So bin ich beispielsweise überzeugt, dass die Besten unter den Arabern heute gut verstehen können, dass Israel, nach Recht und Gerechtigkeit, leben und existieren darf. Ich drücke Euch die Hand!

(zitiert nach: Alexander Solschenizyn, Von der Verantwortung des Schriftstellers I. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Peter Schifferli Verlag AG Die Arche, 1969)

Unverständlich war vielen, dass Solschenizyn nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion mit dem Westen ebenso harsch ins Gericht ging wie mit dem Sowjetregime. Das kam spätestens 1975 in seinen Drei Reden an die Amerikaner zum Ausdruck. Der Autor ließe jede Dankbarkeit vermissen, meinten nicht wenige. Aber weshalb sollte er plötzlich seine Überzeugungen, das, was er als richtig und falsch erkannt hatte und woraus sein menschliches und politisches Handeln resultierte, verleugnen?

In den nachfolgenden Auszügen aus seiner Rede an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein – 14. September 1993 spricht Solschenizyn diese Überzeugungen aus:

Politik und Ethik


Natürlich können ethische Verhaltenskriterien einzelner Menschen, Familien und kleinerer Gruppen nicht hundertprozentig auf Politiker und Staaten übertragen werden, da gibt es keine volle Übereinstimmung: Die Größenverhältnisse, die Unbeweglichkeit und die Aufgaben staatlicher Institutionen bringen eine gewisse Deformation mit sich. Indessen werden auch Staaten von Politikern geleitet, und Politiker sind gewöhnliche Menschen, und ihre Handlungen wirken sich auch auf gewöhnliche Menschen aus; außerdem sind die Schwankungen im politischen Verhalten oft nur in geringem Maße durch staatliche Zwänge bedingt. Es müssen also viele ethische Forderungen, die wir gegenüber dem Menschen erheben – Ehrlichkeit statt Niedertracht und Betrug, Großmut und Güte statt Gier und Bosheit -, in erheblichem Ausmaß auch gegenüber der Politik der Staaten, Regierungen, Parlamente und Parteien erhoben werden.

Wenn aber Staats-, Partei- und Sozialpolitik nicht auf ethischen Prinzipien aufbauen, dann hat die Menschheit überhaupt keine Zukunft mehr. Vielmehr: Ob es nun um Staatspolitik oder um menschliches Verhalten geht – wenn sie nach einem ethischen Kompass ausgerichtet sind, werden sie nicht nur die menschlichsten, sondern letztlich auch die umsichtigsten für die eigene Zukunft sein.

Im russischen Volk ist über die Jahrhunderte hinweg eine Vorstellung nicht verloschen, ein ideales Ziel, das mit einem eigenen Wort: prawda – Wahrheit, Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit – ausgedrückt wird, man soll nach der prawda leben. Selbst Ende des bereits relativ trüben 19. Jahrhunderts bestand der russische Philosoph Wladimir Solowjow darauf, dass vom christlichen Standpunkt aus ethische und politische Tätigkeit eng miteinander verbunden seien und dass politische Tätigkeit auch nichts anderes sein könne als ethisches Dienen. Eine Politik aber, die nur den Interessen diene, beinhalte nichts Christliches.

Der unendliche Fortschritt


Diese wohlklingende Bezeichnung fand große Verbreitung und weitete sich bis zu einer fast allumfassenden und stolzen Lebensphilosophie aus: Wir schreiten fort! Bereitwillig glaubte die gebildete Menschheit [
ab Ende des 19. Jahrhunderts, hmw] sofort an diesen Fortschritt. Merkwürdigerweise aber machte sich keiner darüber Gedanken: Fortschritt – wohin denn? Fortschritt – wovon denn? Und droht uns nicht bei diesem Fortschritt irgendein Verlust? So unterstellte man voller Begeisterung, voller Zukunftsaussicht, dass der Fortschritt sich in allem, was es nur gibt, vollzieht, auch in der gesamten Menschheit. Aus diesem krampfhaften Fortschrittsoptimismus zog Marx den Schluss, die Geschichte führe uns zur Gerechtigkeit auch ohne Gott.

Die Krise des Fortschritts


Die erste Kleinigkeit, die wir übersehen und erst kürzlich entdeckt haben: Es kann keinen grenzenlosen Fortschritt in der begrenzten Umwelt der Erde geben. Die Natur erwartet von uns nicht, dass wir sie uns unterordnen, sondern dass wir sie unterstützen. Wir sind alle dabei, die uns überlassene Natur erfolgreich aufzuzehren.


Als zweite Fehleinschätzung erwies sich, dass mit dem Fortschritt keine generelle Verfeinerung der Sitten eintrat. Man hatte nicht mehr und nicht weniger als die menschliche Seele außer Acht gelassen.

Wir gestatteten unseren Bedürfnissen, ins Unermessliche zu wachsen, und wissen schon nicht mehr recht, worauf wir sie richten sollen.


Nein, nicht alle Hoffnung liegt bei Wissenschaft, Technologie und Wirtschaftswachstum. Mit der sieghaften, auf der Technik beruhenden Zivilisation haben wir zugleich eine geistige Unsicherheit bekommen. Mit ihren Geschenken tut sie uns nicht nur wohl, sie versklavt uns auch. Das Interesse bedeutet alles, das jeweilige Interesse darf nicht außer Acht gelassen werden, alles geht um den Kampf für materielle Dinge, doch unser Gefühl sagt uns verhalten, dass etwas verloren gegangen ist – etwas Reines, Hohes und Zerbrechliches. Wir haben aufgehört, das Ziel zu sehen.

Doch wir sind der ewigen Probleme nicht ledig


Indessen zerreißen zwischen den Menschen auch die horizontalen seelischen Bindungen. Bei all dem vorgeblichen Brodeln des politischen und sozialen Lebens wächst eine asoziale Abschottung und Vereinzelung, ein Mangel an Mitgefühl unter den Menschen, die mit ihren materiellen Interessen befasst sind – und dem folgt dann eine penetrante Einsamkeit. …..

Wir dürfen uns nicht einfach dem automatischen Ablauf des Fortschritts überlassen, sondern müssen uns bemühen, ihn uns um unserer selbst willen wieder geistig anzueignen. Wir müssen Wege einer solchen erneuten Aneignung suchen (oder bereits gefundene vertiefen), damit wir nicht lediglich Spielball des Fortschritts werden, sondern die Macht des Fortschritts wirklich darauf ausrichten, dass Gutes geschieht.


Wir haben in uns die Harmonie verloren, aus der heraus wir geschaffen wurden, die Harmonie zwischen unserer geistigen und leiblichen Natur. Auch jene seelische Klarheit, in der die Begriffe Gut und Böse noch nicht verspottet und durch die zum Prinzip gewordene Halbherzigkeit ihres Sinnes beraubt wurden.

Nichts legt unsere heutige geistige Hilflosigkeit und intellektuelle Verwirrung so bloß wie der Verlust eines klaren, friedvollen Verhältnisses zum Tode. Je stärker der Wohlstand der Menschen wächst, desto schärfer bohrt sich in die Seele des heutigen Menschen eisige Todesangst. Aus diesem unersättlichen, lauten, betriebsamen Leben hat sich ja eine derartige Massenangst vor dem Tod entwickelt, wie man sie in alten Zeiten gar nicht kannte. Der Mensch hat das Gespür dafür verloren, sich als begrenzten, wenn auch mit Willen begabten Punkt des Weltalls zu empfinden. Immer mehr und mehr deucht es ihn, Zentrum seiner Welt zu sein, versucht er, nicht sich der Welt anzupassen, sondern die Welt nach seinen Vorstellungen zu formen. Da wird natürlich der Gedanke an den Tod unerträglich, bedeutet er doch das Auslöschen des ganzen Weltalls mit einem Schlag.

Durch den Verzicht darauf, uns der unveränderlichen höchsten Kraft über uns bewusst zu bleiben, haben wir den Raum mit persönlichen Imperativen angefüllt, und plötzlich wurde es entsetzlich zu leben.

An der Grenze zum 21. Jahrhundert


Während des 20. Jahrhunderts ist das ethische Verhalten der Menschheit nicht besser geworden. Vernichtungsaktionen betrafen immer größere Menschenmassen, die Kultur erfuhr einen schroffen Niedergang, und das Geistesleben verarmte. (Obwohl natürlich auch das 19. Jahrhundert seinen Teil dazu beigetragen hat.) Wieso sollten wir erwarten, dass das 21. Jahrhundert, das auch noch an allen Ecken und Enden mit jeglicher Art erstklassiger Waffen gespickt ist, für uns angenehmer werden sollte?

Dazu kommen noch die wachsenden Umweltschäden. Dann die Bevölkerungsexplosion. Und das gewaltige Problem der dritten Welt, die sehr verallgemeinernd und inadäquat immer noch so genannt wird. Sie bildet gegenwärtig vier Fünftel der Menschheit, bald werden es fünf Sechstel sein – und sie wird so zum wichtigsten Subjekt des 21. Jahrhunderts. In Unglück und Armut versinkend, wird sie zweifellos bald mit immer größeren Forderungen an die führenden Industriestaaten herantreten.

Selbstbeschränkung


Unablässig nähern wir uns dem Zeitpunkt, an dem es notwendig wird, uns Selbstbeschränkung in unseren Bedürfnissen aufzuerlegen. Ist es schwer, sich zur Selbstbescheidung und zu Opfern zu entschließen? Es ist schwer, und zwar deshalb, weil wir im persönlichen, gesellschaftlichen und staatlichen Leben schon vor langer Zeit den goldenen Schlüssel der Selbstbeschränkung auf den Meeresgrund versenkt haben. Selbstbeschränkung aber ist das erste und vernünftigste Handeln eines Menschen, der die Freiheit gewonnen hat. Sie ist auch der sicherste Weg, um Freiheit zu verwirklichen. Wir dürfen nicht abwarten, bis uns die äußeren Umstände bedrängen oder sogar umstoßen, wir müssen durch vorausschauende Selbstbeschränkung dem unausweichlichen Lauf der Dinge einen friedlichen Verlauf ermöglichen.


Beim Auseinanderbrechen der UdSSR in einzelne Republiken mit von Lenin künstlich gezogenen Grenzen gibt es auch widerliche Beispiele dafür, wie sich die neugeborenen Gebilde auf der Jagd nach übertriebenem staatlichem Ansehen so schnell wie möglich weiträumige, historisch und ethnisch fremde Gebiete einverleibten, wo Zehntausende, auch Millionen Menschen anderer Herkunft leben. Aus Mangel an Weitblick denken sie nicht an die Zukunft: Nie bringt die Beute dem Räuber Gutes.


Wenn wir uns nicht dazu erziehen, unseren Wünschen und Bedürfnissen harte Grenzen zu setzen, unsere Interessen den Kriterien der Ethik unterzuordnen, wird es uns, wird es die Menschheit einfach zermalmen. Die übelsten Seiten der menschlichen Natur werden hervorbrechen.

Eine Erkenntnis, die schon von verschiedenen Denkern formuliert wurde, sei hier mit den Worten eines russischen Philosophen des 20.Jahrhunderts, Nikolai Losski, wiedergegeben: »Wenn eine Person nicht auf überpersönliche Werte hin ausgerichtet ist, dann dringen in sie unvermeidlich Verderbnis und Zerfall ein.« – Oder, gestatten Sie mir eine persönliche Beobachtung anzuführen: Wahre geistige Befriedigung erhalten wir einzig und allein nicht vom Nehmen, sondern vom Verzicht auf das Nehmen. Von der Selbstbeschränkung.


Heute werden nicht viele dieses Prinzip für sich willig akzeptieren. Dennoch: Sich unter den komplizierter werdenden Umständen unserer Gegenwart selber zu beschränken, ist der einzig wahre, rettende Weg – für uns alle.

Er hilft uns auch, das Bewusstsein wiederzuerlangen, dass über uns der Eine, Allumfassende und Höchste ist – und ein ganz verlorenes Empfinden – die Demut vor IHM.

Fortschritt? Gültig kann nur ein einziger sein: die Summe der geistigen Fortschritte der einzelnen Menschen. Der Grad der Selbstvervollkommnung auf ihrem Lebensweg.

Vor kurzem noch hat man uns mit dem naiven Märchen vom glücklichen »Ende der Geschichte«, das eingetreten sei, fröhlich unterhalten, dem üppigen Triumph alles umfassender demokratischer Seligkeit, als ob damit die Endform der Weltordnung erreicht sei.

Aber wir alle sehen und empfinden, dass etwas ganz anderes naht – und wahrscheinlich raue Zeiten. Nein, es sieht nicht danach aus, dass Ruhe auf unserem Planeten eintreten wird, und sie wird uns auch nicht so leicht geschenkt werden.

Dennoch sind die leidvollen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts für uns alle nicht sinnlos geblieben. Wir müssen hoffen: Auch wir kämpfen uns durch zur Standfestigkeit, und diese Beharrlichkeit wird irgendwie von Generation zu Generation weitergegeben.

[Alle Auszüge aus der Rede sind zitiert nach: Alexander Solschenizyn, Die russische Frage am Ende des 20. Jahrhunderts. Piper, 1994.]

Erstaunt werden jetzt auch diejenigen, die Solschenizyn unter dem Aspekt des Tagespolitischen gesehen haben, feststellen, dass er auch ein Philosoph war – kein Philosoph im stillen Gelehrtenstübchen, sondern einer, der seinem Denken Handeln folgen ließ und für seine Überzeugungen kämpfte, auch wenn er sich dabei auf allen Seiten Feinde machte.

Er kämpfte für Moral und Ethik, für Frieden und Gerechtigkeit, für eine bessere Welt und – wie könnte es bei einem Russen anders sein – für sein Russland.

Vater unser, der Du bist der Allergnädigste!
Wende Dich nicht von Deinem Russland ab, dem geliebten,
Deinem leidgeprüften Land in seinem heutigen Erstarren,
mit seinen vielen Wunden, in seiner Verarmung
und in der Verwirrung seines Geistes.
Gott der Allmächtige!
Lasse nicht zu, dass es Russland nicht mehr geben sollte,
dass es aufhören könnte zu sein.
Wie viele aufrichtige Herzen
und wie viele Talente
Hast Du unter den russischen Menschen verteilt.
Lasse nicht zu, dass sie alle in der Finsternis verschwinden,
ohne in Deinem Namen gewirkt haben zu können!
Aus den Tiefen des Unheils –
erlöse Dein Volk, das unbeständige.

Gebet von Alexander Solschenizyn, entstanden zwischen 1996 und 1999.
(zitiert nach: Alexander Solschenizyn, Was geschieht mit der Seele in der Nacht. Kurzerzählungen. Herbig, 2006)

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Essays vom und Dokumente zum „unbekannten Solschenizyn“ unter anderem in:

Alexander Solschenizyn: Von der Verantwortung des Schriftstellers I. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Peter Schifferli Verlag Die Arche, 1969

            Alexander Solschenizyn im Gespräch
Augenschein bei Solschenizyn
Über die russische Sprache
Gewissen und Gerechtigkeit
Briefe

Alexander Solschenizyn: Von der Verantwortung des Schriftstellers II. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Peter Schifferli Verlag AG Die Arche, 1970

F.P.I. Solschenizyn vor der sowjetischen Kritik
Alexander Solschenizyn: Schlusswort an der Konferenz der Moskauer Schriftstellerorganisation
Alexander Solschenizyn: Diskussionsbeitrag auf der Sitzung des Sekretariats des SSV
Alexander Twardowski: In Sachen Solschenizyn
Wenjamin Kaverin: Ich darf nicht schweigen
Literaturnaja Gazeta – Ideeller Kampf und schriftstellerische Verantwortung
Mitteilung des Schriftstellerverbandes der RSFSR
Autorenkollektiv: Brief an den sowjetischen Schriftstellerverband
S. Michalkow, N. Gribatschow, L. Sobolew, Interview im SSV
Nikolaj Gribatschow: Tränen für den Export

Alexander Solschenizyn: Kirche und Politik. Hrsg. von Felix Philipp Ingold und Ilma Rakusa. Peter Schifferli Verlag Die Arche, 1973

Vorbemerkung der Herausgeber
Wassilij Rosanow: Religion in Rußland
Wladimir Solowjow: Vom Unglauben
Nikolaj Eschliman/Gleb Jakunin: Rußlands leidende Kirche
Sergij Scheludkow: Von der Freiheit des Christenmenschen im sozialistischen Staatswesen
Alexander Solschenizyn: Fastenbrief an den Patriarchen von Moskau und ganz Rußland, Pimen
Sergij Scheludkow: Antwort an Alexander Solschenizyn
Alexander Solschenizyn: Antwort an Sergij Scheludkow
Felix Karelin: Zum Brief von Vater Sergij Scheludkow an Alexander Solschenizyn
G. R.: Meine Meinung
Erzbischof Johannes von San Francisco: Solschenizyn und die gegenwärtige Lage der russischen Kirche
Alexander Schmeman: Prophetie
Alexander Solschenizyn: «Was kann ich dafür?»
Alexander Solschenizyn: Die Osterprozession
Alexander Solschenizyn: Die Kirche Johannes des Täufers

Alexander Solschenizyn: Offener Brief an die sowjetische Führung (mit dem Essay „Lebt nicht mit der Lüge!“). Sammlung Luchterhand, 1974

Alexander Solschenizyn: Drei Reden an die Amerikaner. Sammlung Luchterhand, 1975

Alexander Solschenizyn: Von der Unbeugsamkeit des Geistes. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Peter Schifferli Verlags AG Die Arche, 1974

Alexander Solschenizyn: Aus dem Leben eines Schriftstellers
Alexander Solschenizyn: Von der Unbeugsamkeit des Geistes
Alexander Solschenizyn: Friede und Unterdrückung
Lidja Tschukowskaja: Volkszorn

Alexander Solschenizyn: Russlands Weg aus der Krise (Ein Manifest). Serie Piper 1990

Alexander Solschenizyn: Die russische Frage am Ende des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Wolfgang Kasack, Serie Piper 1994

Vorbemerkung des Herausgebers
Rede an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein
Ansprache anläßlich der Enthüllung des Denkmals für die Opfer des Aufstands in der Vendee
Dankesrede anläßlich der Verleihung der Literatur Ehrenmedaille durch den National Arts Club in New York
Rußland am Vorabend der Wahlen 1993. Interview
Die russische Frage am Ende des 20. Jahrhunderts
Anhang
Wolfgang Kasack: Der Schriftsteller als Publizist.
Zusammenbruch und Wiederaufbau Rußlands aus der Sicht Solschenizyns 1993/1994

Alexander Solschenizyn: Was geschieht mit der Seele in der Nacht. Kurzerzählungen. Herbig, 2006

Alexander Solschenizyn: Heldenleben. Zwei Erzählungen. Serie Piper, 1996
Ektow, der Philanthrop
Ein Heldenleben

Alexander Solschenizyn: Nemow und das Flittchen. Theaterstück. Sammlung Luchterhand, 1971

Alexander Solschenizyn: Lenin in Zürich. Scherz, 1977

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Wenn Sie mehr über Solschenizyns belletristisches Lebenswerk erfahren möchten, lesen Sie die Kolumne Alexander Issajewitsch Solschenizyn: „Nicht nach der Lüge leben“.

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