Der große Brain Drain inmitten des Ukraine-KonfliktsFoto von Jacek Dylag auf Unsplash

Der große Brain Drain inmitten des Ukraine-Konflikts

„Fast vier Millionen Menschen haben Russland in den ersten drei Monaten des Jahres 2022 den Rücken gekehrt“, so gab der Nachrichtensender Aljazeera vor Kurzem bekannt. Neben diesen enormen Zahlen wird auch davon ausgegangen, dass bereits mehr als sieben Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine über ganz Europa verstreut leben. In diesem Artikel werden wir uns diesem massiven Exodus widmen, der beide Länder als direkte Folge des anhaltenden Konflikts betrifft.

Der ukrainische Brain Drain

Die Flüchtlingswellen aus Russland machen nach der Teilmobilisierung der russischen Streitkräfte im Moment die meisten Schlagzeilen, aber dennoch müssen wir uns auch den Millionen Ukrainern und Ukrainerinnen, die aus ihrer Heimat fliehen müssen, widmen. Wie am Anfang dieses Artikels geschrieben, sind die Zahlen der aus der Ukraine Geflüchteten höher als jene aus Russland. Der große Unterschied zwischen beiden Flüchtlingsbewegungen besteht aber darin, dass Russland immer mehr an gesellschaftlichen Eliten verliert.

Allein in der EU wurden bis jetzt schätzungsweise fast 7,4 Millionen ukrainische Flüchtlinge registriert. Die BBC geht davon aus, dass seit dem …..sbeginn in Februar mindestens 13 Millionen Ukrainer aus ihrer Heimat geflohen sind. Die Hauptaufnahmeländer sind Russland, Polen, Moldawien, die Slowakei, Rumänien, Weißrussland und Ungarn. Ja, auch beim Aggressor suchen einige 100.000 Menschen Schutz und Zuflucht. Die meisten dieser Flüchtlinge stammen aus den Regionen Luhansk und Donezk, die zum Zeitpunkt des russischen Überfalls von pro-russischen Separatisten kontrolliert wurden.

Verständlicherweise ist der Großteil der Arbeitskräfte, die die Ukraine verlassen müssen, bei ihrer Ankunft am Flüchtlingsort, arbeitslos. Unabhängige Studien belegen, dass bisher fast fünf Millionen Arbeitsplätze in der Ukraine als Folge des …..s und durch diesen Massenexodus verloren gegangen sind. Dies bedeutet aber auch gleichzeitig, dass die ukrainische Wirtschaft durch diese Menschenbewegungen stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, was dazu führt, dass immer mehr Menschen auf der Suche nach einer besseren Zukunft das Land verlassen werden.

Vor allem der Markt für IT-Mitarbeiter ist einer der am stärksten betroffenen. Schätzungen der „IT Ukraine Association“ zufolge sind mindestens 16 Prozent der in dieser Branche beschäftigten, hauptsächlich Frauen, ins Ausland abgewandert.

Die ukrainische Regierung versucht gegenwärtig, das nationale Sozialsicherungssystem durch die Bereitstellung von Dienstleistungen digitaler Technologien wieder zu stärken. Solche Bemühungen könnten IT-Spezialistinnen zur Rückkehr in die Heimat bewogen haben. Das die Menschenbewegungen nicht nur in eine Richtung gehen, belegt die Tatsache, dass seit Kriegsbeginn über 2,5 Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt sind. Wir wissen jedoch nicht, ob sie zurückkehren, um dauerhaft zu bleiben, oder ob es sich hierbei um einen Pendeleffekt handelt.

Der russische Brain Drain

Man könnte davon ausgehen, dass lediglich in der Ukraine nach der im Februar erfolgten Invasion viele werktätige Menschen auf Grund der Ungewissheit und Unsicherheit die Flucht ins Ausland auf sich genommen haben. Aber auch Russland wird von einer enormen Auswanderungswelle erfasst, Schätzungen sprechen von mehreren Millionen Einwohnern, die sich nach einem neuen Zuhause umgesehen haben.

Der Großteil der Berufstätigen, die ihre russische Heimat verlassen, stammt aus den Unternehmenssparten IT, Journalismus und Forschung. Mit Sicherheit ist die IT-Branche am stärksten von diesen Auswanderungsbewegungen betroffen, da die meisten dieser technisch versierten Arbeitskräften auch die Möglichkeit haben, aus der Ferne Ihrer Arbeit nachzugehen. Der arabische Nachrichtensender Aljazeera geht davon aus, dass seit Beginn der „Sonderoperation“ in der Ukraine mindestens 70.000 russische IT-Experten das Land verlassen haben.

Arbeitsplätze und Knowhow gingen in Russland auch dadurch verloren, dass mehr als 1.000 Unternehmen den Boykottaufrufen des Westens gefolgt sind und einige Firmen dabei ihre Facharbeiter und Angestellten einfach mitgenommen haben. Auch dieser Umstand hat zu massiven Einnahmeverlusten geführt. So haben beispielsweise großen Unternehmen wie American Express, IKEA, Adidas, PwC und Amazon Web Services die meisten ihrer Mitarbeiter und die bisher angebotenen Dienstleistungen aus Russland abgezogen. So konnte auch festgestellt werden, dass beispielsweise auch im Internet die Top Online Casinos, aber auch andere Glücksspielanbieter, ihre russischen Aktivitäten eingestellt haben und sich den Sanktionen gegen den Kriegstreiber angeschlossen haben.

Verständlicherweise haben die meisten dieser Unternehmen das Land verlassen, um entweder ihr gutes Image zu wahren oder die eigene Stellung und Ansicht zum Angriffskrieg Putins zu manifestieren. Die große Frage, die sich immer noch stellt, ist, warum russische Bürger und Bürgerinnen ihr Heimatland in so hoher Zahl verlassen.

Einer der bisher genannten Gründe für den Weggang ist die Suche nach besseren wirtschaftlichen Möglichkeiten, vor allem zu jener Zeit, nachdem viele westliche Unternehmen ihre ökonomischen Aktivitäten in Russland eingestellt haben. Aber auch viele internationale Organisationen, wie beispielsweise Sportverbände, haben Russland die Teilnahme an internationalen Veranstaltungen untersagt; sicher auch ein Mitgrund, wieso viele Menschen, die von diesen Sanktionen betroffen sind, der Heimat den Rücken gekehrt haben. Und es gibt auch diejenigen, die als Zeichen der Ablehnung gegen die Invasion der Ukraine, freiwillige und aus Protest gegangen sind.

In einem Beitrag auf BBC hat ein 23-jähriger Politikwissenschaftler aufhorchen lassen, als er vor laufender Kamera verlauten ließ, er sei aus Russland ausgewandert, um gegen das Regime zu demonstrieren. Er fügte hinzu, dass er die Verantwortung habe, die angegriffenen Ukrainer zu unterstützen. Im selben Beitrag berichtete die BBC von Schätzungen eines russischen Ökonomen, dass die Zahl jener Russen und Russinnen, die das Land bereits wenige Tage nach dem Ausbruch des Konflikts verlassen hatten, mit 200.000 Menschen geschätzt wurden. Diese Zahlen stammen aus dem März 2022, und seit damals sind die Zahlen exponentiell gestiegen. Ein weiterer Exodus, vor allem der wehrfähigen russischen Männer, setzte mit dem Verlautbaren der Teilmobilmachung der Streitkräfte Ende September ein.

Für die einen ein Verlust, für die anderen ein Gewinn

Aber wohin gehen nun diese Geflüchteten, wo finden sie neue Anstellungen und wirtschaftliche Zukunft? An erster Stelle bietet sich Europa, und hier vor allem die EU, an, die seit Jahren unter einem erheblichen Mangel an technischen Fachkräften leidet. Die Arbeitsplatzsuchenden können hierbei auf die Hochrechnungen diverser wirtschaftlicher Institute bauen, die besagen, dass es innerhalb der europäischen Union ein Qualifikationsdefizit von mehr als einer Million Menschen im Jahr 2025 geben wird.

Aber die Ukraine und Russland sind auch prädestiniert dafür, insbesondere in der Technologiebranche, dass hier Fachkräfte hemmungslos um gutes Geld abgeworben werden. Der „Global Skills Index“-Bericht 2020 von Coursera belegt, dass sich vor allem die russischen IT-Fachkräfte in Technologie- und Datenwissenschaftskompetenzen hervorgetan haben.

Zweifellos erfreut sich die Ukraine ebenfalls eines florierenden IT-Sektors, in dem die höchsten Löhne des Landes bezahlt werden, und die bei Kriegsbeginn rund 200.000 Mitarbeiter beschäftigte. Diese Mitarbeiter leisten wichtige Dienste für weltweit tätige Industriebetriebe, wie beispielsweise Lyft Maps, JP Morgan Chase und Citigroup.

Viele europäische Unternehmen machen sich also die Verluste, die diesen beiden Nationen erleiden, als potenzielle Gewinne zu Nutze, und sind bestrebt, sich den neuen Pool von Technologie-Exilanten zu schnappen. Dies gilt insbesondere für Länder wie Polen, Litauen und Lettland, die das elitäre Publikum in großer Zahl mit offenen Händen empfangen haben.

Auf der anderen Seite machen sich Millionen weniger qualifizierter Arbeitskräfte auf den Weg in jene Länder, für die sie kein Visum benötigen, darunter fallen Georgien, Armenien und Zentralasien. Der meiste Teil der Geflüchteten, es sind Millionen von Menschen, leben weiterhin über ganz Europa verstreut unter dem Titel Asylsuchender. Viele befinden sich zurzeit noch in wirtschaftlich instabilen Regionen, aus denen die Menschen unter normalen Umständen abwandern, sodass davon ausgegangen werden kann, dass auch in diesen Ländern die beruflichen Aussichten limitiert sind, und es zu weiteren Wanderbewegungen kommen wird.

Der russische Präsident Putin hat den hauseigenen Brain Drain sehr wohl bereits zur Kenntnis genommen und versucht mit Maßnahmen diesem Exodus gegenzusteuern. So wurde erst kürzlich ein Gesetz verabschiedet, dass die Tech- und IT-Spezialisten von der Einkommenssteuer bis ins Jahr 2024 befreit, aber ob diese Maßnahmen wirklich die Migrationsströme unterbinden kann, bleibt abzuwarten.

Es passt daher auch ins Bild, dass der ukrainische Präsident Selenskyj und andere Unterstützer der Ukraine öffentlich zur Auswanderung aus Russland aufgerufen haben. Putins Optik kommt hier in eine beträchtliche Schieflage, vor allem wenn man bedenkt, dass diejenigen, die Russland verlassen, hochqualifiziert sind und bessere Jobs im Ausland bekommen, während diejenigen, die die Ukraine verlassen, dies hauptsächlich tun, weil ihnen die wirtschaftlichen Optionen ausgegangen sind.

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