Coronavirus: Quarantäne für 12 Millionen Moskauer

Coronavirus: Quarantäne für 12 Millionen Moskauer

[von Anastasia Petrowa, Moskau] Ich bin mir nicht sicher, ob ihr all die Nachrichten über das Coronavirus schon satt habt, aber wir hier kommen davon nicht los – im Newsroom gibt es keine Quarantäne. Ich lebe in Moskau, dem Epizentrum von Covid-19 in Russland. Höchstwahrscheinlich haben wir alle, die Deutschen, Italiener, Engländer und Russen ähnliche Phasen erlebt, in denen die Quarantänemaßnahmen weiter und weiter verschärft wurden. Aber in Moskau ist der Unterschied zu „normalen Zeiten“ inzwischen sehr krass und ich möchte Euch erzählen, wie Europas größte Metropole in einer Epoche der Selbstisolation lebt.

Moskau als Verbots-Vorreiter

Moskau ist in Russland Erster – sowohl in Bezug auf die Anzahl der Infizierten als auch auf die Verschärfung restriktiver Maßnahmen: Sie werden immer zuerst in der Hauptstadt und erst danach in anderen Regionen verhängt. Heute leben in Moskau etwa zwei Drittel der in Russland infizierten Menschen. Ab Anfang März wurden Massenveranstaltungen schrittweise verboten und abgesagt: Man begann mit den Events von mehr als 5.000 Personen wie Fußballspielen und Konzerten, dann wurde die Zahl der erlaubten Teilnehmer auf 50 Personen reduziert, und alle Museen, Bildungsabteilungen und anderen Freizeit- und Kultureinrichtungen wurden geschlossen. Kundgebungen und Demonstrationen wurden verboten. Busfahrer dürfen keine Fahrkarten mehr verkaufen.
Ebenso Schritt für Schritt erfolgte parallel die Schließung der russischen Außengrenzen: Zunächst wurde natürlich die Luft- und Eisenbahnverbindung mit China unterbrochen. Dann wurden alle Flüge ins Ausland, mit Ausnahme der regulären Flüge von Moskau in andere Hauptstädte gestrichen. Der nächste Schritt war ein Einreiseverbot für alle Ausländer. Russen, die aus Ländern zurückkehrten, die in Russland als Risikogebiete gelten, müssen eine zweiwöchige Selbstisolation einhalten. Es ist interessant, dass die Behörden es vermeiden das Wort „Quarantäne“ zu benutzen und stattdessen die Bezeichnung „Selbstisolation“ erfunden haben.

Einschränkungen betrafen auch den Bildungsbereich: Ab Mitte März begannen die Moskauer Universitäten und einige Schulen auf Empfehlung der Regierung mit Fernunterricht, und ab dem 23. März bis zum 12. April haben alle russischen Schüler Sonderferien. Um zu verhindern, dass sie auf den Straßen herum spazieren, wurden ihre „Moskau-Tickets“ – spezielle ermäßigte ÖPNV-Zeitkarten für Studierende – gesperrt. Wegen des unterbrochenen Lernprozesses werden Prüfungen in Schulen und Universitäten verschoben.
Der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobyanin verpflichtete gefährdete Bürger – ältere Menschen und chronisch Kranke – sich an eine Hausquarantäne zu halten und keine öffentlichen Orte zu besuchen. Zum Ersatz für die Kosten werden sie eine einmalige finanzielle Unterstützung in Höhe von 4.000 Rubel (46 Euro) erhalten: 2.000 Rubel (23 Euro) sofort, weitere 2.000 Rubel nach dem Ende der Hausquarantäne, falls sie eingehalten wird. Die Einhaltung der Quarantäne wird von der Rosguardija, der Nationalgarde überwacht, die angeblich auf den Straßen patrouilliert. Zu sehen ist sie eher selten. Damit Rentner weniger in Versuchung kommen, ihr Haus zu verlassen, wurden auch ihre Tickets für Freifahrten in Öffentlichen Verkehrsmitteln blockiert.

Im Allgemeinen erlebten die meisten Moskauer in den ersten Wochen von all diesen Maßnahmen nur die Schließung der Museen und die Absage von Fußballspielen. Ansonsten lebte die Hauptstadt fast ihr normales Leben, aber am 25. März änderte sich die Situation dann radikal. Nachdem Wladimir Putin ein Krankenhaus für Patienten mit Coronavirus in Moskau besucht hatte, wurde eine offizielle Notbotschaft des Präsidenten an die Bürger ausgestrahlt. Der Präsident hält solche Botschaften an die Nation außerhalb der Neujahrsfeiertage nur bei sehr bedeutenden Gelegenheiten. Deshalb warteten die Russen gespannt auf die zwei Stunden, in denen der Präsident die Änderungen ankündigte. Putin erklärte die Woche vom 28. März bis 5. April für „arbeitsfrei“, ohne sie als Quarantäne zu bezeichnen und verschob die Abstimmung über die Verfassungsreform. Er kündigte auch wirtschaftliche Maßnahmen zur Unterstützung sozial schwacher Bevölkerungsgruppen und Unternehmen und die Einführung neuer Steuern an.

Die Welle der Verschärfung

Nach der Botschaft des Präsidenten wurden viele Maßnahmen verschärft und jeder Moskauer verstand, dass die Situation ernst ist: Während der „arbeitsfreien“ Woche in Moskau werden alle Parks, Cafés, Schönheitssalons, Einkaufszentren – also alles außer Lebensmittelgeschäften und Apotheken geschlossen. Ministerpräsident Mischustin forderte die Regionen auf, sich den restriktiven Maßnahmen in der Hauptstadt anzuschließen. Alle Flüge in und aus dem Ausland wurden abgesagt, mit Ausnahme der vom Außenministerium organisierten Charterflüge, um russische Bürger zurückzuholen.

Der Effekt einer vollständigen Isolierung wurde jedoch nicht erreicht. Die Moskauer nahmen den Vorschlag des Präsidenten, die Woche „arbeitsfrei“ zu haben, als zusätzlichen Urlaub wahr, obwohl die Parks und Unterhaltungsorte geschlossen waren. Zudem war das Wetter war seht gut für Ende März: plus 15 Grad und sonnig. Viele Leute gingen spazieren und veranstalteten richtige Grillpartys, sie nahmen das verlängerte Wochenende wie ein Geschenk an. Ich ging selbst einkaufen, und es war wie ein Festtag auf der Straße, an dem alle teilnahmen: Kinder, Erwachsene und ältere Menschen. Im Allgemeinen ist die nationale Wahrnehmung der Quarantäne etwas eigenartig: Einige glauben nicht an offizielle Zahlen, halten sie für untertrieben, und mit den ersten Nachrichten über das Coronavirus in Moskau begannen sie verzweifelt, Buchweizen und Toilettenpapier zu kaufen. Auf der anderen Seite nahmen vor der „arbeitsfreien“ Woche die Verkäufe von Alkohol und Kondomen stark zu. Desinfektionsmittel und medizinische Masken verschwanden aus den Apotheken, und skrupellose Geschäftsleute begannen, diese Ware mit einem abartigen Aufpreis zu verkaufen. So verkaufte die berühmte Fernsehmoderatorin Tina Kandelaki in ihrem Kosmetikgeschäft 5 medizinische Masken für 980 Rubel (11 Euro). Andere Russen glauben niemandem und sind sicher, dass alles eine absichtlich aufgeblähte Hysterie ist, und dass sich Covid-19 von der Grippe nicht unterscheidet. Sie nahmen Putins Angebot, zu Hause zu bleiben, mit Begeisterung und Freude und als einen Anlass an, die Grillsaison mit der gesamten Familie und dem Freundeskreis zu eröffnen.

Nach den ersten zwei Tagen des „Urlaubs“ verhängte der Bürgermeister von Moskau eine „Selbstisolation“ für alle. Die Zeitung „Kommersant“ schreibt dazu, dass der Grund für diese harte Maßnahmen fast einer Quarantäne für alle die Videos und Fotos von sorglosen Feiernden in Parks und auf den Straßen waren. Ab dem 30. März ist es allen Bewohnern Moskaus (mit Ausnahme derjenigen, die eine Sondergenehmigung der Regierung haben) untersagt, das Haus zu verlassen, mit Ausnahme der medizinischen Notfallversorgung, des Einkaufs im nächstgelegenen Geschäft oder der nächsten Apotheke, des Ausführens von Haustieren bis zu 100 Metern vom Haus und der Fahrt zu Arbeit. Interessant ist auch, dass die Beschränkungen gegen Menschen eingeführt wurden, nicht aber gegen Autos. Das Dekret des Bürgermeisters verbietet keine Reisen in einem privaten Auto oder Taxi und es ist erlaubt, in die Stadt zu fahren oder sie im Auto zu verlassen.

Neue Moskauer Alltagsprobleme

Die Fahrten zur Arbeit sind aber ein sehr schwieriges Problem. Nach der Rede des Präsidenten sagte Sobyanin, dass mehr als 50 Prozent der Moskauer unter die Selbstisolation fallen und dass der Passagierverkehr in der Moskauer U-Bahn schon vorher um 40 bis 50 Prozent zurückgegangen sei. Als jemand, der in Moskau lebt, ist mein Eindruck leider komplett anders. Vor der Verhängung der Selbstisolation war die U-Bahn an Arbeitstagen morgens und abends wie üblich mit Menschen überfüllt. Trotz der Tatsache, dass die Regierung die Arbeitgeber seit langem verpflichtet hatte, Bürgern unter Quarantäne und gefährdeten Personen die Möglichkeit zu geben, aus dem Home-Office zu arbeiten, und empfohlen hatte, allen Büroangestellten Telearbeit zu ermöglichen, gingen fast alle in der Hauptstadt weiter zur Arbeit. Nicht alle Chefs verhalten sich gegenüber der Verbreitung von Covid-19 verantwortungsbewusst, viele blockierten die Ausweitung der Telearbeit. Wer bereits seine Arbeit verloren hat oder während der Quarantänezeit in Moskau Arbeit verliert, erhält ein für Russland beispiellos hohes Arbeitslosengeld von 19.500 Rubeln im Monat (227 Euro). Erst jetzt – in der Woche des Zwangsurlaubs, haben sich Metros und Straßen spürbar geleert. Die Aufnahmen von „Geisterstraßen“, die im deutschen Fernsehen zu sehen sind, sind nicht überall und zu jeder Zeit zutreffend, aber im Großen und Ganzen hat sich Moskau nun wirklich spürbar geleert. Ob das nach dem Ende des Zwangsurlaubs so bleibt, muss sich noch zeigen.

Auf Kosten der Verantwortungslosen will man nun die Staatskasse auffüllen. Die Staatsduma verabschiedete Änderungen des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten. Bei Verstößen gegen die Quarantäne werden Bußgelder in Höhe von bis zu 40.000 Rubel (465 Euro), bei Beamten und Solo-Selbstständigen von bis zu 150.000 Rubel (1746 Euro), für juristische Personen von bis zu 500.000 Rubel (5.821 Euro) verhängt. Wenn die Handlungen der Betroffenen Massenerkrankungen zur Folge hatten, droht ihnen ein Bußgeld von bis zu 700.000 Rubel (8.150 Euro) oder eine Haftstrafe von bis zu 2 Jahren.

Das Bürgermeisteramt versprach, die Einhaltung der „Selbstisolation“ mithilfe eines „intelligenten Kontrollsystems“ zu überwachen, für dessen Umsetzung eilig ein Bundesgesetz ausgearbeitet werde. Niemand erklärte dabei offiziell, wie dieses System funktionieren soll, aber höchstwahrscheinlich wird die Regierung Informationen über die Bewegung von Bürgern von Mobilfunkbetreibern kaufen. „Kommersant“ veröffentlichte auch einen Artikel, dass die Moskauer Behörden die Einhaltung der „Selbstisolation“ mithilfe eines Gesichtserkennungssystems überwachen werden, das auf moderner Technologie basiert und schon seit Januar im Betrieb ist.

Das von den Moskauern am intensivsten diskutierte Thema sind nun natürlich die speziellen Ausweise für die Bewegung in der Stadt. Wer und unter welchen Bedingungen sie erhalten wird, ist immer noch eine ungeklärte Frage. Letzte und diese Woche haben Mitarbeiter von Krankenhäusern, Lebensmittelgeschäften und anderen Organisationen, die definitiv nicht in der Lage sind, zu Hause zu arbeiten, spezielle Zertifikate bekommen, die bestätigen, dass diese Person in dieser Weise arbeitet. Der Status solcher Zertifikate ist ebenfalls noch unklar.
In sozialen Netzwerken diskutiert man aktiv über die restriktiven Maßnahmen. Einige halten sie für überflüssig, verfassungswidrig und glauben, dass sie die Menschenrechte verletzen. Die Menschen haben Angst, dass man den Katastrophenfall und eine Ausgangssperre verhängt, senden Nachrichten über Bataillone der Nationalgarde und sogar von Kriegsgerät unweit der der Stadt. Sie glauben, dass die Grenzen für immer geschlossen bleiben und dass wir alle in die Zeit der UdSSR zurückkehren werden. Andere denken, dass die Behörden alles richtig machen und, dass sie eigentlich schon vor langer Zeit hätten beginnen sollen, das Quarantäneregime zu verschärfen, um eine Situation wie in Italien nicht zu wiederholen. Die einzige Schlussfolgerung, die ich, eine Bewohnerin von Europas größter Metropole, die seit fast einem Monat mit der Pandemie kämpft, gezogen habe, ist, dass das Misstrauen gegenüber den Behörden und eine verantwortungslose Haltung gegenüber restriktiven Maßnahmen wahrscheinlich zu weiteren Verschärfungen des Regierungskurses führen. Tatsächlich haben wir kaum eine Wahl und jeder wird dann definitiv zu Hause sitzen.

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