Chruschtschow und Kennedy während der Kubakrise: Zwei Spieler nehmen Kurs auf den Abgrund

Mit vom Wahn verzerrten Gesichtern rasen die zwei Fahrer durchgerosteter Limousinen aufeinander zu. Der Einsatz: nichts Geringeres als das eigene Leben. Der mögliche Gewinn: eine unwiderstehliche Million in lila Scheinen. Die Vorgehensweise: Den Gegner zum Ausweichen zwingen, indem man weiter auf Kurs bleibt. Das Problem: tut der andere Fahrer dasselbe, sterben beide. Also doch ausweichen und wenigstens das eigene Leben retten, während der Sieger in der anderen Schrottkarre seinen verdammten Gewinn einfährt?

Diese als Chicken Game bezeichnete Situation ist eines der bekanntesten Modelle der Spieltheorie. Das Wesen des Spiels wird dabei gut veranschaulicht: Der eigene Erfolg hängt nicht nur vom eigenen Vorgehen ab, sondern vielmehr vom Verhalten des Gegners. Dieses Verhalten ist bei nichtkooperativen Spielen für die jeweiligen Spieler nicht kalkulierbar und kann lediglich abgeschätzt werden. Die geschilderte Strategie, den Gegner zum Aufgeben zu zwingen, indem man bereit ist, bis zum Abgrund (engl. brink) zu gehen, wird als Brinkmanship bezeichnet. Entscheidend ist nun, den Punkt zu finden, bei welchem eine weitere Eskalation mit der eigenen Vernichtung verbunden wäre. Spätestens hier ist der Ausstieg angesagt, wenn man rational vorgeht. Andererseits dürften in den Sekundenbruchteilen vor der Kollision die Schreie der Wut kaum mehr über die Lippen der beiden tollwütigen Spieler kommen. Und wenn doch, dann würde diesem Geschrei spätestens durch das erheblich lautere Kreischen des aufeinanderprallenden Metalls ein jähes Ende gesetzt.

Man stelle sich nun vor, in dem beiden eingangs beschriebenen Rostlauben sitzen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow, zudem findet die Konfrontation im Oktober 1962 statt. Möglicher Gewinn ist dabei die für ihren ausgezeichneten Rum bekannte Karibikinsel Kuba – jedoch nicht, um dort eine gemütliche Rumdestille zu errichten, sondern um dort atomar bestückte Mittelstreckenraketen zu stationieren. Oder, aus Sicht von Kennedy, um diese von dort zu verbannen. Einsatz ist diesmal auch nicht nur das eigene Leben, sondern nichts weniger als der Fortbestand der gesamten Menschheit.

Nie war die Welt der nuklearen Apokalypse näher als in den 13 Tagen zwischen dem 14. und dem 28. Oktober 1962. Nachdem die Amerikaner durch Aufklärungsflüge schließlich den Beweis für sowjetische Raketen auf Kuba besaßen, informierte Kennedy am 22. Oktober die Weltöffentlichkeit über die brenzlige Situation.

Geographischer Vorteil der USA

Anfang der 60er Jahre besaßen die USA bereits atomgetriebene Unterseeboote, welche mit Interkontinentalraketen bewaffnet waren – zum Abschuss musste nicht einmal aufgetaucht werden. Die Sowjetunion dagegen verfügte lediglich über dieselgetriebene U-Boote, welche weitaus weniger schlagkräftig waren: Der Aktionsradius war durch den veralteten Antrieb arg begrenzt, zudem mussten die Boote zum Abschuss ihrer Raketen etliche Minuten lang die Meeresoberfläche durchbrechen. Weiterhin hatten die USA im Kalten Krieg den Vorteil, dass die NATO in Westeuropa und Nordamerika aufgeteilt war, der Warschauer Pakt dagegen eine geographische Einheit darstellte. Durch die Verbündeten in Westeuropa konnten die Amerikaner direkt an den Grenzen zur Sowjetunion ihre Atomwaffen stationieren – die Sowjetunion konnte dies in Bezug auf die USA nicht.

So wurden etwa im Jahr 1959 dutzende Mittelstreckenraketen in Italien und der Türkei stationiert, welche den Sowjets folglich ein Dorn im Auge waren. Durch die gescheiterte Invasion der USA in der Schweinebucht konnte mit Kuba schließlich ein Verbündeter des roten Imperiums direkt vor der Haustür des verhassten Erzfeindes gewonnen werden.

Showdown zwischen Kennedy und Chruschtschow

Chruschtschow verfolgte mit dem ab Juli 1962 stattfindenden nuklearen Aufmarsch der Roten Armee auf der Zuckerinsel zwei Ziele: Erstens die Beseitigung des oben beschriebenen strategischen Vorteils der USA, zweitens die Etablierung der Sowjetunion als den USA ebenbürtige Supermacht. Die auf Kuba stationierten Raketen konnten mit Ausnahme von Alaska und der Gegend um Seattle jeden Punkt in den Vereinigten Staaten erreichen, die Vorwarnzeit im Fall eines Abschusses betrug lediglich fünf Minuten. Für Kennedy stand von Anfang an fest, dass die Raketen weg mussten. Wenn möglich friedlich – aber sie mussten weg.

Und hier schließt sich der Kreis zur eingangs erläuterten Spieltheorie, bei welcher der Erfolg von Spieler A vom Verhalten von Spieler B abhängt: Entweder verschwinden die Raketen von Kuba, oder sie bleiben dort – beides zugleich ist nicht möglich. Modellhaft lässt sich diese Situation mittels folgender Auszahlungsmatrix erfassen:

Brinkmanship ist bei dem Spiel die strategische Drohung, bis zum Äußersten zu gehen. Damit diese Drohung wirkungsvoll ist, muss sie überzeugend sein – der Gegner muss denken, dass sie im Fall der Fälle auch umgesetzt wird. Die Option, dass beide nachgeben, stellt als gemischte Strategie einen Sonderfall dar und ist für das erläuterte Beispiel der Kubakrise nicht von Relevanz. Interessant sind die beiden Optionen, bei welchen ein Spieler aufgibt: Gibt Chruschtschow auf und zieht seine Raketen ab, so siegt Kennedy und erhält einen Gewinn von 15 Einheiten. Chruschtschow geht dabei jedoch nicht leer aus und enthält fünf Einheiten, da durch seine Aufgabe sein eigenes Lebens gesichert wird. Umgekehrt gilt dasselbe: Akzeptiert Kennedy die Raketen auf Kuba, so gewinnt Chruschtschow 15 Einheiten, Kennedy fünf. Die Zahlen der Einheiten können beliebig festgelegt werden – Hauptsache, die Abstände stimmen. Entscheidend ist nun, dass einer der Spieler nur gewinnen kann, wenn der andere aufgibt. Gibt keiner auf, so sind ab einem gewissen Punkt der weiteren Eskalation beide tot – gekennzeichnet durch die Kombination Brinkmanship/Brinkmanship.

Die Schwierigkeit besteht nun für beide Seiten darin, dass sie nicht wissen, wie weit der Gegner zu gehen bereit ist, um den jeweils anderen Spieler zum Aufgeben zu zwingen. Wäre Kennedy etwa davon ausgegangen, dass Chruschtschow Brinkmanship anwendet, so wäre ihm nur übrig geblieben, aufzugeben – schließlich kommt er dabei immer noch besser weg als bei seiner eigenen Vernichtung. Andersherum gilt erneut das Gleiche. So sind die entsprechenden Kombination 15/5 und 5/15 die beiden Nash-Gleichgewichte in diesem Spiel: Wählt eine Seite Brinkmanship, so ist die andere Seite bei rationalem Verhalten zum Aufgeben gezwungen – keine der beiden Seiten kann sich durch die Wahl einer anderen Strategie verbessern.

Chruschtschow gibt nach

Die Ereignisse im Weißen Haus in den 13 Tagen der Kubakrise (hervorragend aufgearbeitet im Spielfilm Thirteen Days) dürften die Beteiligten bis an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit und darüber hinaus geführt haben. Präsident Kennedy war vor allem seitens des Militärs von allerhand Scharfmachern wie dem berühmt-berüchtigten Luftwaffengeneral Curtis LeMay umgeben, welche Kuba am liebsten sofort angegriffen hätten. Schließlich entschied sich der Führungszirkel im Weißen Haus für eine überaus kluge Vorgehensweise: Mittels einer Seeblockade sollte herausgefunden werden, wie weit die Sowjets zu gehen bereit waren –  trafen doch auch nach der Enthüllung bezüglich der Atomraketen täglich sowjetische Frachter mit Nachschub auf Kuba ein.

Schließlich trat die Blockade durch rund 200 amerikanische Kriegsschiffe am Morgen des 24. Oktobers in Kraft. In den folgenden Stunden erreichte die 13-täge Krise ihren Höhepunkt, als mehrere sowjetische Schiffe Kurs auf die Blockade nahmen. Nun lag es zunächst an Chruschtschow, zu entscheiden, wie viel Risiko er eingehen wird. Die US Navy durfte nicht ohne den ausdrücklichen Befehl des Präsidenten losschlagen, falls die Sowjets die Blockade ignoriert hätten. Kurz vor dem Sperrgürtel drehten die sowjetischen Schiffe ab. Wie hätte Kennedy reagiert, wenn sie die Blockade durchbrochen hätten? Er hätte es sich kaum leisten können, Schwäche zu zeigen. Die daraus hervorgehenden Konsequenzen hätten sich leicht zu Ereignissen verketten können, welche in kurzer Zeit vollkommen außer Kontrolle geraten wären.

Nachdem die Gefahr einer Eskalation auf See zunächst gebannt war, intensivierten die USA ihre Vorbereitungen für einen Angriff auf Kuba – schließlich bestand nach wie vor das Problem der dort stationierten Mittelstreckenraketen. Schon in seinem Statement vom 22. Oktober hatte Kennedy klar gemacht, dass jede Aggression seitens Kubas oder der Sowjetunion gegen ein westliches Land mit einem massiven Vergeltungsschlag beantwortet wird. Kennedy setzte auf Brinkmanship – die Sowjets sollten unter keinen Umständen davon ausgehen können, mit ihrem Vorgehen durchzukommen. Durch Brinkmanship hatte nun Chruschtschow zwei Optionen: Aufgeben, womit das Risiko eines Atomkriegs gebannt gewesen wäre. Oder Festhalten am bisherigen Kurs, womit das Spiel in eine zweite Runde gegangen und die Gefahr eines Atomkriegs gestiegen wäre.

Glücklicherweise endete das Spiel nach der ersten Runde: Durch den massiven Druck der USA sah Chruschtschow, dass das Risiko einer weiteren Eskalation zu groß ist. Gleichzeitig führten Amerikaner und Sowjets geheime Verhandlungen: Abzug der Raketen, im Gegenzug keine Invasion auf Kuba. Weiterhin sicherten die Amerikaner zu, ihre Sprengköpfe in der Türkei binnen sechs Monaten zu demontieren – dies durfte jedoch nicht öffentlich werden, um einen Gesichtsverlust zu verhindern. Somit ging auch Chruschtschow bei diesem Kräftemessen alles andere als leer aus: Erstens hatte er den Amerikanern einen geopolitischen Vorteil genommen, weiterhin hatte die Sowjetunion weltweit im öffentlichen Bewusstsein stark an Bedeutung gewonnen – erkauft mit der Gefahr des Dritten Weltkriegs.

[Julian Müller/russland.NEWS]

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