Brexit, Russland, Noworossija – Kritischer Blick aus Russland auf die (europäische) Linke

[Kai Ehlers] Der Brexit bringt es an den Tag: Wer geglaubt hat, das politische Russland nähme keinen Anteil am europäischen Geschehen, weil es zu sehr mit sich selber beschäftigt sei, sieht sich dieser Tage eines Besseren belehrt.

Zwar hält sich das offizielle Russland mit Stellungnahmen weitgehend zurück, um so aufmerksamer  jedoch werden die Vorgänge  von Seiten der radikaldemokratischen Opposition verfolgt, wie dem unten folgenden Text aus dem Moskauer ‚Institut für Fragen der Globalisierung‘ zu entnehmen ist. Das Institut, das von Boris Kagarlitzki geleitet wird, vertritt die radikaldemokratischen Teile der Opposition in Russland. Seine Vertreter sind nicht zu verwechseln mit den Kritikern,  die Putin  bis heute mit Argumenten des gescheiterten Jelzinschen Liberalismus attackieren.

Im radikaldemokratischen Lager fühlt man sich aktuell an die Erfahrungen erinnert, die in den zurückliegenden drei Jahren mit dem Verlauf der ukrainischen ‚Revolution‘ gemacht werden mussten, wo Ansätze zur Entwicklung von Demokratie in Nationalismus und Separatismus stecken geblieben sind und schließlich in  dem ‚eingefrorenen Konflikt’ endeten, den wir heute sehen.

Zur Kritik an der Politik des Westens, der ‚Demokratisierung‘ predigte, aber wirtschaftlichen Niedergang und die faktische Kolonisierung eines „failed state“ für die Ukraine brachte, kommt die ernüchternde Bestandsaufnahme  für den östlichen Teil des Landes hinzu, in dem die Visionen für Autonomie und Selbstbestimmung im Zuge des  inner-ukrainischen Krieges in einer Militärverwaltung untergingen.

Zur Erinnerung: Im Juli 2014, kurz nach dem Übertritt der Krim in russisches Staatsgebiet, fand in Jalta/Krim eine  Konferenz des internationalen Solidaritätsnetzwerkes der Globalisierungsgegner statt, das zur Solidarität mit den von einem Krieg bedrohten Menschen in der Ukraine aufrief.  Von den rund  70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern kamen vier Fünftel aus den autonomen Republiken Donezk, Lugansk und anderen nach Autonomie strebenden Teilen der Ukraine, die übrigen aus Russland, Europa, Kanada und den USA.

Die Konferenz verabschiedete eine „Erklärung von Jalta“, die zur Solidarität mit den vom Bürgerkrieg bedrohten Menschen in der Ukraine aufrief. Darüber hinaus verabschiedeten die Versammelten den Entwurf einer vorläufigen rätedemokratischen Verfassung mit Grundstrukturen wirtschaftlicher und politischer Selbst- und Mitbestimmung in den zu schaffenden zukünftigen autonomen Regionen der Ukraine.

(/Details zu der Konferenz vom Juli 2014 und Wortlaut der Jalta-Erklärung in deutscher Übersetzung auf der Website von Kai Ehlers unter dem Stichwort ‚Yalta-Erklrärung“ oder über die LINKS:  http://kai-ehlers.de/2014/07/erklaerung-von-jalta/ und: http://kai-ehlers.de/2014/07/internationale-konferenz-in-jalta-aufruf-zur-verteidigung-der-menschenrechte-in-der-sued-und-ostukrainekonferenz/

Die Ansätze für eine basisorientierte Demokratisierung, die in der Aufbruchstimmung der sich formierenden Donbas-Republiken formuliert wurden, wurden  aber nicht nur Opfer des Bürgerkrieges, in dem Kiew demonstrierte, dass es nicht bereit war und ist, Strukturen der Selbstverwaltung  und Autonomie zu akzeptieren. Sie wurden auch Opfer der etablierten russischen Politik, die kein Interesse an revolutionären, ja, nicht einmal an radikaldemokratischen Entwicklungen hatte und bis heute  nicht hat – weder im eigenen Lande, noch in dem von ihm unterstützten Donbas.

Die folgende Analyse von Boris Kagarlitzki, der die  Ansätze zur demokratischen Selbstorganisation in den nach Autonomie strebenden Gebieten der Ukraine seinerzeit aktiv zu fördern suchte, beleuchtet die Parallelen zwischen dem Scheitern der ‚Demokratisierung‘ der Ukraine, insonderheit der Niederschlagung der Ansätze zur Selbstverwaltung im  Donbas und den europäischen Entwicklungen, die zum Volksentscheid in England führten.

Vor dem Hintergrund der existenziellen nachsowjetischen Brüche und angesichts des harten Kampfes um neue soziale Organisationsformen und die Erhaltung der Einheit der russischen Gesellschaft kommt Kagarlitzkis Text in Kategorien daher, die in der moderaten Protestkultur Europas zurzeit nicht geläufig sind. Man wird sich aber wohl darauf einstellen müssen, solche Töne auch hier wieder öfter zu hören und sich mit ihnen auseinandersetzen zu müssen.

Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de

Brexit und Novorossija

(Zwischenüberschriften sind von Kai Ehlers gesetzt)

[Boris Kagarlitzki] Die Abstimmung der Briten, die sich für die Trennung von der Europäischen Union aussprachen, rief nicht nur Panik auf den Finanzmärkten hervor, sondern auch einen weltweiten Ausbruch der Empörung der liberalen Intellektuellen. Verblüffend dabei  ist, dass die Kommentare, die wir in den linksliberalen Publikationen auf dem Kontinent lesen, fast wörtlich mit dem übereinstimmen, was die Rechtsliberalen in der russischen Presse schreiben: Die Wahl der Briten erkläre sich ausschließlich durch Provinzialismus, Rückständigkeit, Xenophobie, Homophobie, durch die „Angst vor der Immigration“ und sogar durch Rassismus.

Die Autoren stören sich nicht einmal daran, dass viele von ihnen selbst noch vor kurzem England als das Musterbeispiel einer modernen, toleranten und demokratischen Gesellschaft präsentierten. Niemand interessiert sich für die Statistik, die mit der Teilung der Stimmen weniger in den Rassen- oder Genderunterschieden übereinstimmt, als in einem wesentlich bedeutenderen Maß den Klassenunterschied widerspiegelt.

Für den Austritt aus der EU stimmten vor allem die Arbeiterklasse und die unteren Schichten der Gesellschaft. Diese sozialen Schichten sind in der Regel tatsächlich nicht besonders gut gebildet, nicht selten auch mit Vorurteilen infiziert und ganz gewiss in den Neuheiten der postmodernistischen Philosophie nicht bewandert. Aber gerade die Bereitschaft der Linken sich selbst in einem Kultur-Ghetto einzuschließen, ihre Vorliebe dafür, sich  mit  ausländischen Kollegen auszutauschen, statt  unter den eigenen „unreifen“ Mitbürgern Aufklärungsarbeit zu leisten, zeichnet in hohem Maße die aktuelle Sachlage vor oder mehr, verschlimmert sie noch. Sehr leicht ist es, eine imaginäre und virtuelle Arbeiterklasse aus  romantischen Büchern oder Filmen zu lieben, wesentlich schwieriger ist es, die Bedürfnisse und Nöte der real existierenden unteren Schichten zu verstehen.

Sinn und Inhalt der Ereignisse zu erörtern ist viel zu gefährlich, es könnte unangenehme Fragen hervorrufen. Genau deshalb möchte niemand darüber diskutieren, wie sich die Systemkrise der Europäischen Union entwickelt, die nichts anderes darstellt, als die institutionelle Verkörperung des Neoliberalismus. Oder die Tatsache, dass die Massenstimmungen in Großbritannien die Oberhand über den Konsens der Eliten gewannen: unter Bedingungen, als alle wichtigen Parteien zur Wahl des Status Quo aufriefen, als die führenden Publikationen und die offiziellen Vertreter der Expertengemeinschaft das Volk einstimmig aufforderten, alles beim Alten zu lassen, und im Fall der falschen Wahl mit allen möglichen Heimsuchungen drohten, entschied sich das Volk. die Veränderung zu wählen.

Die Wahl des Brexit als einen Ausdruck des englischen (oder noch ein wenig – walisischen) Nationalismus zu verstehen, ist für die Eliten sowohl Russlands als auch Westeuropas bequem und nutzbringend, nicht nur weil eine solche Interpretation uns von der Frage des Systemcharakters der Krise wegbringt. Die Diskussion wird auf eine „falsche Fährte“ gelockt, um die Erörterung einer  praktischen Politik zu blockieren, die es erlaubt, die Protestwahl in den Anfang weitreichender Veränderungen zu verwandeln, die potentiell  revolutionären Charakter tragen.

‚Rechtsruck‘ der europäischen Linken

Unter den westlichen Linken zeichneten sich solche Tendenzen schon damals ab, als die radikal antikapitalistische Rhetorik Antonio Negri’s und seiner Anhänger während des französischen Referendums über die Europäische Verfassung zur Grundlage der Agitation für die Übernahme des offiziellen Brüsseler Projekts wurde. Damals führte die gleiche Wahl gegen die EU faktisch nicht nur zum Sieg der Linken, sondern auch der Anhänger der „französischen Eigenart“, jedoch hatten die Linken zu diesem Zeitpunkt die Führung in der „Nein“-Bewegung und konnten diese Tatsache erfolgreich ignorieren.

Im Verlauf der seither vergangenen Jahre änderte sich die Situation nur darin, dass die Linken in ganz Europa nach rechts gerückt sind und den Slogan der europäischen Integration in die Legitimation ihrer eigenen Bereitschaft verwandelten, die gegebene Ordnung zu akzeptieren, praktisch im Austausch für das Privileg diese theoretisch zu kritisieren. Von diesem Moment an, unabhängig von der Radikalität der Worte, nahmen die respektablen linken Intellektuellen in jeder Situation einer praktischen Wahl die Seite der neoliberalen Eliten ein – gegen die „ungebildete“ und „rückständige“ Bevölkerung.

Internationalismus besteht aber nicht darin, die Integrationspolitik, die im Interesse des globalen Kapitals durchgeführt wird, mit Rührseligkeit zu unterstützen, sondern darin, auf der internationalen Ebene einen Widerstand gegen diese Politik solidarisch und koordiniert zu führen. Der Verrat der Intellektuellen wurde zum gesamteuropäischen Phänomen, nachdem die Klassenmerkmale durch kulturelle  Theorie und vielfältige elegante „Diskurse“ ersetzt wurden, deren Reproduktion zu dem Hauptkriterium mutierte, das erlaubte die „Unseren“ von den „Fremden“ zu unterscheiden.

‚Verratene Massen‘

Die von den Linken verratenen und vergessenen Massen wurden nicht nur sich selbst überlassen. Indem sie ihre Vorurteile und den politischen Aberglauben behielten und noch mehr als vorher kultivierten, wurden sie  noch empfänglicher als zuvor für die nationalistische Ideologie. Wenn die Tätigkeit der Banker und der „über alle Grenzen hinweg“ agierenden Korporationen sich praktisch als der Inbegriff des “Internationalismus“ darstellt, und die demokratischen Rechte zugunsten der von niemanden gewählten und niemandem (außer vor den gleichen Bankern) verantwortlichen europäischen Beamten beschnitten werden, verwundert es nicht, dass einfache Menschen ihre Erlösung an Hoffnungen in einen Nationalstaat festzumachen beginnen.

Interessant, dass die europäischen Intellektuellen durchaus bereit waren, die Berechtigung dieser Gefühle unter Einwohnern Lateinamerikas anzuerkennen, in Russland aber schon nicht mehr.  Und je mehr  ähnliche  Proteste sich in den Ländern des „Zentrums“ zu entwickeln begannen, die dort Veränderungen von globaler Bedeutung herbeiführen können, traten die Ideologen der liberalen Linken einträchtig für den Schutz der bestehenden politischen Ordnung und der dominierenden Ideologie ein. Die gesellschaftliche Basis der Länder Europas wurde als „rückständig“, „inadäquat“ und „wild“ deklariert, genauso, wie man vor 150 Jahren die Eingeborenen als rückständig und wild bezeichnete, die der Kolonisation unterworfen werden sollten.

Es ist bezeichnend, dass in diesem Zusammenhang die russische liberale Öffentlichkeit erneut als Wegbereiter der antidemokratischen Reaktion hervortrat. Ihre Philippika an die Adresse ihres eigenen „mit mangelndem Bewusstsein ausgestatteten“ Volkes übertraf in erstaunlichem Maße die Muster, Ideen und Stereotypen, die sich – nur erst später – unter den Intellektuellen im Westen verbreiteten.

Dass die „Eingeborenen“, unabhängig von ihrem Kultur- und Bildungsniveau, gleichwohl Interessen und Rechte besitzen, stellt sich erst dann heraus, wenn die ignorierten und „unzivilisierten“ Massen aufhören zu schweigen. Ja, ihre Sprache erweist sich als stotterig und sogar einfältig. Aber in ihr klingen die Wahrheit und der Wille derer, die man lange Zeit nicht hören wollte.

Indes bedeutet die Bereitschaft der Menschen unangemessene und altmodische Formeln zu wiederholen bei Weitem nicht, dass sie ihre unmittelbaren Interessen vergessen. Sie beginnen zu handeln, ausgehend von  ihren eigenen Nöten, sind jedoch gezwungen ihre Bedürfnisse in unangemessener Form zu formulieren. Dafür muss man zuallererst den Linken – in England und auf dem Kontinent – die Schuld geben, die sich die Führung in der Bewegung der Massenproteste aus der Hand nehmen ließen, beziehungsweise es nicht vermochten, diese zu erlangen. Gerade die berauschende Selbstvergiftung der linken Intellektuellen mit den modernen liberalen Ideen spielte hier eine verhängnisvolle Rolle – nicht nur für den Massenprotest, sondern in erster Linie für die Intellektuellen selbst, die heute aus dem Ohnmachtsschock noch nicht erwacht sind: sie werden von der Bevölkerung in England genauso abgestoßen, wie in Russland.

Russische Linke und Novorossija

Kein Wunder, dass die Spaltung der Linken auf dem Kontinent (und ebenso in England) in Bezug auf Brexit sich genauso darstellt wie die in Russland und in der Ukraine in Bezug auf die Ereignisse in Novorossija. Dort und hier sahen wir den Aufstand von unten, der von dem radikalen Teil der linken Bewegung unterstützt wurde,  welcher der Klassenideologie gegenüber loyal blieb. Dort und hier sahen wir, dass die Forderung nach sozialen Rechten, der Protest gegen die neoliberale Politik der Europäischen Union und gegen die eigene Regierung oft einen Ausdruck in „unangemessenen“ Parolen fand – nach einer „russischen Welt“ oder einer „britischen Eigenart“. Dort und hier nahmen die raffinierten liberalen Intellektuellen die Unkorrektheit des völkischen „Diskurses“ zum Anlass, denen Solidarität zu versagen, die wirklich für gesellschaftliche Veränderungen kämpfen.

Die russischen Intellektuellen mit ihrer Verachtung für das eigene Volk und ihrer Bereitschaft, ihm unentwegt sein Unverständnis für die „europäischen Werte“ vorzuwerfen, fand endlich die folgerichtigen Gleichgesinnten auf beiden Seiten des Ärmelkanals.

Und wenn vor drei oder vier Jahren die Ereignisse in der Ukraine und Novorossija dem westlichen Intellektuellen als eine kurzweilige, aber etwas beängstigende Exotik erschienen, so sehen wir jetzt, dass sie lediglich ein besonderes Modell des gesamteuropäischen, vielleicht sogar weltweiten Prozesses demonstrierten.

Unglücklicherweise kann man geschichtliche Veränderungen nicht durch eine einmalige Willensäußerung an den Wahlurnen erreichen. In England beginnt alles erst. Die Regierungskreise der Insel verbergen ihr Streben nicht, den Willen der Bürger zu sabotieren, auch wenn sie diesen verbal anerkennen. Allein die Machtübernahme einer linken Labour-Regierung unter der Leitung von Jeremy Corbyn würde ernsthaft und konsequent erlauben, die Urteile des Referendums zu erfüllen. Der Bewegung für den Austritt aus der EU steht bevor, nicht nur den Widerstand der konservativer Eliten zu überwinden, sondern auch das Schwanken der Labour-Führung  und sogar seines Parteivorsitzenden selbst, der sich im Moment der entscheidenden Wahl nicht entschließen konnte, die eigenen Anhänger öffentlich zu unterstützen.

Großbritannien vor dem Zerreißen?

Während der Auseinandersetzung wird man unzweifelhaft versuchen, Großbritannien zu bestrafen, indem man den Staat auseinanderreißt. In diesem Zusammenhang steht den Linken bevor, ihr Verhältnis zu ihren „kleinen Völkern“ zu überdenken, ebenso wie die Bolschewiki nach 1917 dazu gezwungen waren. Wenn sie die territoriale Einheit nicht hätten erhalten können, hätten sie keine Chance gehabt, eine so massive Transformation umzusetzen. Und wenn Lenin und seine Mitstreiter nicht ein Land mit einer mächtigen Verteidigungsindustrie und reichen Kriegstraditionen geerbt hätten, hätten die „Roten“ kaum den Bürgerkrieg gewonnen.

Heute beobachten wir die gleiche geopolitische Logik in Großbritannien. Kaum hat sich die Mehrheit in England für eine Abspaltung von der Europäischen Union ausgesprochen, erklang sogleich die Forderung nach der schottischen Unabhängigkeit, die für ein Bestreben des „europäischen und fortschrittlichen“ Schottlands ausgegeben wird, sich von dem „rückständigen und provinziellen“ England abzuspalten. Aber es genügt, einen Blick auf das Geschehen auf dem Kontinent zu werfen, um zu verstehen – gerade die englischen Wähler drückten die neuen gesamteuropäischen Tendenzen und Bedürfnisse (in ihrer besten und schlimmsten Gestalt) aus. Das britische Referendum weckt nicht nur die nationalen Gefühle der kontinentalen Völker, sondern dient als Mobilisierungssignal für alle, die danach streben, das neoliberale Regime der Wirtschaft zu beenden und einen gesamteuropäischen Marsch auf die Wiederherstellung eines Sozialstaates zu beginnen. Aber die schottischen Nationalisten, ungeachtet ihrer ganzen progressistischen und modernistischen Rhetorik, zeigten sich als das, was sie wirklich sind – die Erben der Reaktionär-Jakobiner, die gegen die englische Revolution kämpften und sich dem gesamteuropäischen Fortschritt bereits im XVII und XVIII Jahrhundert widersetzten.

Genau damals wurde die Frage der schottischen Unabhängigkeit gelöst, die sich als ein Hindernis für die herangereiften Veränderungen nicht nur in England, sondern zu allererst in Schottland selbst erwies.

‚Revanche‘ für Thatchers Erbe

1980 verkündete der Machtantritt Margaret Thatcher’s den Beginn der neoliberalen Ära zunächst für Europa und später für die ganze Welt. Diese Ereignisse, zunächst als englische Einzigartigkeit wahrgenommen, nahmen nach und nach ein globales Ausmaß an. Der reaktionäre Angriff auf den „Sozialismus“, von Thatcher ausgerufen, endete in der Zerschlagung des sozialen Staates auf dem gesamten europäischen Kontinent, einschließlich der UdSSR-Republiken.

Fixiert wurde der reaktionäre Sieg durch den Vertrag von Maastricht, der die Europäische Union in ein neues Gefängnis der Völker verwandelte, in dem jeder Versuch den Neoliberalismus zu überwinden, sich als ein Anschlag auf die Verfassungsordnung darstellt. Zu diesem Zeitpunkt bildete sich das Schicksal der Sowjetrepubliken vollständig heraus. Selbst die Teile, die nicht offiziell in den europäischen Integrationsprozess eingebettet waren (wo man nur die „saubereren“ Baltikum-Staaten zuließ), nahmen mehr oder weniger die Logik der Privatisierung und antisozialer Reformen an.

Wie sehr die Veränderungen, die sich in den frühen 1980-ern in England entfalteten, unser eigenes Schicksal beeinflussten, erfasste unsere Gesellschaft (die damals gelähmt und unbeweglich erschien) in vollem Maße erst Jahrzehnte später. Das, was heute in England geschieht, betrifft uns nicht weniger. Wir sehen den Anfang einer neuen historischen Etappe, im Laufe derer die Chance hochkommt, den Neoliberalismus zu besiegen und auszumerzen und die gesellschaftliche Ordnung im eigenen Land genauso wie in ganz Europa zu verändern. Die Massen, denen ihre demokratische Souveränität von den liberalen Eliten gestohlen wurde, erhalten endlich die Gelegenheit für eine Revanche.

Der Kampf europäischer Völker gegen das neoliberale Regime der Europäischen Union bildet den wichtigsten politischen Inhalt der Epoche. Das Ergebnis dieses Kampfes hängt vom Umfang der Solidarität zwischen den Basisbewegungen und ihrer Fähigkeit ab, sich aufgrund der gemeinsamen Ziele und Aufgaben zu einigen, die Vorurteile und Illusionen zu überwinden und zu demontieren, und sich von entwertetem Vokabular und den veralteten Begriffen zu befreien.

Und wenn auch die politische Situation in Russland heute hoffnungslos gelähmt erscheint, wird unser Land auch diesmal nicht nur nicht neben dem sich entfaltenden globalen Prozess stehen, sondern wird sich höchstwahrscheinlich, wie es schon mehrmals in der Geschichte vorkam, als der Platz erweisen, an dem dieser Prozess seinen Höhepunkt erreicht und wo die entscheidende Schlacht stattfinden wird.

Beim Autor unter www.kai-ehlers.de zu beziehen:

25 Jahre Perestroika – Gespräche mit Boris Kagarlitzki, Laika Vlg, Hamburg, 2014/5.

Band I: Gorbatschow und Jelzin, ISBN: 978-3-944233-28-4, 19,00 €

Band II: Putin, Medwedew, Putin, ISBN 978-3-944233-28-4 18,00 €

Die beiden Bände geben einen authentischen, chronologisch verfolgbaren Einblick in die politischen Bewegungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, Einsichten und Irrtümer der russischen Linken während und nach Perestroika und im heutigen Russland.

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