Big Corona – Big Brother: extreme Überwachung in Moskau

Big Corona – Big Brother: extreme Überwachung in Moskau

[von Anastasia Petrowa] Weil sich nicht alle Moskauer an die Selbstisolation halten, werden die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie verschärft. Offiziell wurde der Ausnahmezustand noch nicht verhängt, wozu es von Seiten der Regierung auch nicht kommen wird. Hierfür gibt es zweierlei Gründe: einerseits wäre ein Ausnahmezustand eine große Herausforderung für die Autorität der Behörden, die die Situation nur schwer unter Kontrolle halten könnten und zu extremen Maßnahmen greifen müssten. Andererseits müsste bei der Verhängung eines Ausnahmezustands die Regierung die Bevölkerung wirtschaftlich unterstützen. Unter einem Aspekt wäre der Ausnahmezustand jedoch von Vorteil, denn er erfordert und rechtfertigt Sondervollmachten. Im Notfall tritt die bürgerliche Freiheit in den Hintergrund und der Staatsapparat kann sich mehr Rechte einräumen, als normalerweise. In diesem Artikel besprechen wir den Großen Bruder[1] in Moskau und erforschen, wie die Pandemie ihm den Weg frei macht.

Nachdem für alle Bürger eine Quarantäne verhängt wurde, kündigte der Moskauer Bürgermeister an, dass die Behörden die Einhaltung der restriktiven Maßnahmen mithilfe eines „intelligenten Kontrollsystems“ überwachen würden. Fast drei Wochen später ist immer noch unklar, worum es sich hierbei genau handelt, doch können einige Schlüsselkomponenten genannt werden.

Überwachungskameras und Gesichtserkennungssystem

Vor einigen Jahren begann die Moskauer Regierung nach massiven Oppositionskundgebungen, ein großangelegtes System von Überwachungskameras zu installieren. Im Januar 2020 wurde eines der fortschrittlichsten Gesichtserkennungssysteme der Welt in Moskau installiert, das mehr als 10 000 in der Stadt angebrachte Kameras umfasst. Die Stadt erwarb das System bei der Firma NtechLab, die für ihre skandalöse App Findface bekannt ist (durch die App konnte man mithilfe eines Fotos jede Person in sozialen Netzwerken finden, letztendlich wurde sie vom Entwickler gelöscht). Laut Informationen, die Kommersant im Rathaus erhielt, wird die Moskauer Regierung dieses System verwenden, um die Einhaltung der Selbstisolation zu überwachen[2]. In der ersten Phase werden in dem System Fotos von Personen, die die Quarantäne missachten und von Personen, die leicht erkrankt sind und zu Hause bleiben, gespeichert. Ein Mundschutz stört das System nicht. Es kann auch verdächtige Aktivitäten in einzelnen Häusern feststellen. Laut der Quelle ist es außerdem „möglich, bestimmte Gebäude oder Eingänge auszuwählen, bei denen das Kontrollsystem erfasst, wer dort ein- und ausgeht. Außerdem können an den Eingängen zu Parks und besonders überfüllten Orten zusätzliche Kameras installiert werden“. Bisher planen die Behörden nicht, alle Moskauer zu überwachen, jedoch nicht aufgrund mangelnder Kapazitäten, sondern weil dies „nicht vernünftig“ sein würde.

Geoanalytik

Weiterhin ist geplant, zusätzlich zu den Kameras auch Daten von Mobilfunkbetreibern zu verwenden. Die Website für das öffentliche Beschaffungswesen macht Angaben darüber, dass die Moskauer Abteilung für Informationstechnologien seit 2015 geoanalytische Daten, das heißt anonymisierte Informationen über die Bewegung von Abonnenten, bei Mobilfunkbetreibern gekauft hat (2018 gab sie 101,8 Millionen Rubel, ca. 1 261 562 Euro, dafür aus)[3]. Offiziell interessieren sich Beamte dafür, wo Menschen leben, arbeiten, wie sie sich in der Stadt bewegen, um die Infrastruktur der Stadt zu verbessern. Zusätzlich zur Analyse der Verkehrsflüsse in der Metropole kann die Geoanalytik verwendet werden, um Bevölkerungsgruppen für kommerzielle oder politische Zwecke sehr genau anzusprechen. Nun werden Geodaten verwendet, um die Einhaltung der Selbstisolation in Moskau zu beobachten, auf ihrer Grundlage wird auch ein Selbstisolationsindex[4] erstellt. Und all diese Maßnahmen sind nur diejenigen, über die wir derzeit Bescheid wissen.

Die Überwachung der Selbstisolation mithilfe von Daten der Mobilfunkbetreiber bestätigte Kommunikationsminister Maksut Schadaew. Seit dem 30. März erfragt das Kommunikationsministerium bei den regionalen Behörden Telefonnummern infizierter Bürger und derjenigen, die sich an die Quarantäne halten müssen, beispielsweise wenn sie kürzlich aus dem Ausland zurückgekehrt sind. Danach werden die Informationen an Mobilfunkbetreiber übergeben, die die tatsächliche Befolgung der Selbstisolation überwachen. Wenn sich Bürger nicht an die Quarantäne halten, bekommen sie eine SMS mit einer Verwarnung. Falls es zu wiederholten Verstößen kommt, übertragen die Mobilfunkbetreiber diese Info an die Strafverfolgungsbehörden. Laut dem Minister würden nur zwei Gruppen von Bürgern überwacht: infizierte und quarantänepflichtige. In Zukunft solle jedoch die Möglichkeit entwickelt werden, die Bürger über einen mutmaßlichen Kontakt mit Corona-Infizierten zu informieren: Die Mobilfunkbetreiber würden hierfür zwei Wochen lang die Bewegungen des Patienten verfolgen und diese mit anderen Abonnenten vergleichen.

Eigentlich sind Geodaten und medizinische Informationen durch das Gesetz über Kommunikation sowie durch die Verfassung geschützt. Das Sammeln, Speichern, Verwenden und Verbreiten von Informationen über das Privatleben einer Person ohne dessen Zustimmung sind nicht gestattet. Der Minister betonte aber, dass im Rahmen dieses Systems nur Telefonnummern ohne personenbezogene Daten angefordert würden[5].

Offenbar wissen wir jedoch nicht alles über die Übertragung unserer Geodaten. Beispielsweise hat mir die App Yandex.Navigator (Yandex ist das größte russische IT-Unternehmen, das verschiedene Dienste anbietet: von der Suchmaschine bis zum Car-Sharing) kürzlich mehrmals vorgeschlagen, das Kennzeichen und die Marke meines Autos einzugeben: Zuerst zur Überprüfung, ob Verkehrsstrafen vorliegen, dann um herauszufinden, ob mein Auto in einer Rückrufaktion ist, und um eine „kostenlose Reparatur“ zu erhalten. Andere Apps sind noch interessanter.

Die App

Die Moskauer Behörden haben eine App namens Soziales Monitoring entwickelt, um diejenigen zu kontrollieren, die mit dem Coronavirus infiziert sind. Bürgern, die kein Smartphone besitzen, sollen vorübergehend Telefone mit der vorinstallierten Anwendung ausgehändigt werden. Kranke, die sich für eine Behandlung zu Hause entscheiden, müssen der Installation und Verwendung der Anwendung schriftlich zustimmen. Diese Zustimmung verpflichtet sie dazu, die App mit dem Internet und dem Mobilfunk verbunden zu halten. Bei der Registrierung muss der Benutzer sein Foto und seine Passdaten angeben und sich damit einverstanden erklären, diese Information an entsprechende Datenspeicherzentren zu übertragen. Das System Soziales Monitoring verfolge automatisch die Geolokation des Benutzers, so der Chef der bereits erwähnten Moskauer Abteilung für Informationstechnologien, Eduard Lysenko. „Dadurch wird keine Route verfolgt, sondern die Tatsache, dass der Ort der Selbstisolation verlassen wird“[6].

Die App löste sofort eine Empörung in der Fachwelt aus, da sie den Zugriff auf fast alle Smartphone-Funktionen anfordere: GPS, Standort, Kamera, Anrufen, Einstellungen, Sensoren usw. Die IT-Gemeinschaft führte eine detailliertere Analyse durch und stellte Folgendes fest: Die Anwendung überträgt die gesammelten Informationen offen, ohne Verschlüsselung an den Server der Moskauer Regierung. Für die Gesichtserkennung wird der estnische Server identix.one verwendet, was bedeutet, dass Fotos und Daten gesetzeswidrig ins Ausland übertragen werden. Die Regierung aber widerlegte diese Information über den Server in Estland.

QR-Code und ein Ausweis zum Verlassen des Hauses

Der Bürgermeister Sergei Sobyanin erklärte sich in seinem Blog dazu bereit, strengere Maßnahmen zu ergreifen, wenn die Moskauer Bürger die sogenannte Selbstisolation nicht einhielten. Dies war während einer Schönwetterperiode der Fall gewesen, als plötzlich wieder viele Menschen auf den Straßen auftauchten.

Am 10. April kündigte Sobyanin an, dass die Moskauer ab dem 15. April spezielle elektronische Ausweise erhalten müssen, um Transportmittel nutzen zu können – egal ob das eigene Auto oder die Metro. Diskussionen darüber, dass solche Ausweise im Format von QR-Codes eingeführt werden, um die Kontrolle über die Bewegungen der Bürger zu verstärken, werden seit langem geführt. Und jetzt ist es Realität geworden. Moskauer können einen speziellen Code auf der Website der Regierung, per SMS oder Telefonanruf erhalten. Der Code-Antragsteller muss seine Passdaten, seine Telefonnummer, das Kennzeichen seines persönlichen Autos oder seine Transportkartennummer angeben sowie den Zweck der Reise und einen Antrag stellen. Die Moskauer Regierung hat drei Arten von Ausweisen entwickelt: Für Reisen zur Arbeit – gültig bis 30. April; für Reisen zu einer medizinischen Einrichtung – gültig für 1 Tag; für andere Zwecke – gültig für 1 Tag und kann nicht mehr als 2 Mal pro Woche ausgestellt werden. Um in der Nähe einkaufen zu gehen, das Haustier auszuführen oder den Müll rauszubringen, sind keine Ausweise erforderlich. Nach Moskau wurde dieses System auch in anderen Regionen eingeführt.

Ich hoffe, dass diese Maßnahmen unserer Regierung helfen werden, die Pandemie zu besiegen. Aber viele Moskauer sind darüber besorgt, ob diese Notfallüberwachungsmaßnahmen wieder aufgehoben werden, nachdem all dies vorüber ist.

Es gibt zwei sehr wichtige Aspekte bei der Einführung von Maßnahmen zur vollständigen Kontrolle: Erstens gewöhnen sich die Moskauer gerade jetzt daran, in einer neuen Realität zu leben. Es resultiert eine emotionale Gewöhnung an derartige Kontrollmaßnahmen und deren moralische Rechtfertigung. In normalen Zeiten wäre dies kaum möglich. Zweitens tauchen die alten Probleme nach der Pandemie wieder auf, deren Lösung offenbar durch die Folgen der Quarantäne erschwert wird. Die Hauptaufgabe besteht darin, vor dem Hintergrund von wirtschaftlicher Rezession, Arbeitslosigkeit und niedrigen Ölpreisen die politische Macht zu behalten und die kontroverse Abstimmung über Verfassungsänderungen durchzuführen. Höchstwahrscheinlich werden viele Vertreter der russischen Regierung motiviert sein, dieses extreme Überwachungssystem aufrechtzuerhalten.

Quellen:

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Großer_Bruder

[2] https://www.kommersant.ru/doc/4308979?tg

[3] https://www.vedomosti.ru/technology/articles/2019/03/03/795527-moskvichi

[4] https://yandex.ru/web-maps/covid19/isolation?ll=41.775580%2C54.894027&z=3

[5] https://meduza.io/feature/2020/04/01/kak-imenno-rossiyskie-vlasti-sobirayutsya-sledit-za-lyudmi-u-kotoryh-nashli-koronavirus-a-takzhe-za-temi-kto-sidit-na-karantine

[6] https://meduza.io/feature/2020/04/01/meriya-moskvy-zapustit-prilozhenie-dlya-slezhki-za-patsientami-s-koronavirusom-ono-trebuet-dostup-k-geolokatsii-zvonkam-i-nastroykam

 

[Anastasia Petrowa/russland.NEWS]

Foto: Raymond Spekking, Creative Commons 4.0 via Wikimedia Commons

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