Beschleunigung in der Ukraine – und die Frage der Kritischen Solidarität

[Von Kai Ehlers] Die Eskalation des Bürgerkrieges in der Ukraine steigert sich von Tag zu Tag. Der soeben erfolgte Zerfall der Koalitionsregierung wird das Tempo eher noch beschleunigen als abbremsen, steht zu befürchten. Solidarität wird mehr und mehr zum Gebot der Stunde.

Aber mit wem solidarisch sein? Die Ansichten dazu gehen so diametral auseinander wie die Speichen eines Fahrrades. Mit den Mitgliedern der Regierung, die durch das Auseinanderfallen der Koalition noch härter unter den Druck der Rechten und des internationalen Kapitals geraten? Mit den Soldaten, die laut Poroschenko „heldenhaft unser Land verteidigen“, die aber ab August keinen Sold mehr bekommen werden, wenn nicht sofort das neue Steuergesetz verabschiedet werden kann, das heißt im Kern, wenn nicht endlich die Oligarchen zu ausreichenden Steuerabgaben verpflichtet werden können?  Mit den Wehrpflichtigen und ihren Müttern, die gegen Poroschenkos neue Mobilmachung demonstrieren? Mit den Opfern der Kiewer Offensive gegen „Terrorismus“? Für welche Ziele stehen welche Gruppierungen? Ist der Westen des Landes „faschistisch“? Sind der Osten und Süd-Osten, namentlich der Donbas „terroristisch“?

Das Informationschaos über das Geschehen im Lande ist inzwischen perfekt – ganz zu schweigen von dem Sturm der gegenläufigen Übertreibungen, Verdrehungen und gezielten Falschmeldungen, die zu den Ereignissen im Lande verbreitet werden, einschließlich der nach wie vor bloßen Schuldzuweisungen und wilden Spekulationen  zu den Ursachen des Boeing-Absturzes vor einer Woche.

Die Situation scheint ohne Ausweg zu sein. Westliche Appelle zur  Niederlegung der Waffen und zur Aufnahme von Gesprächen prallen an der Entschlossenheit des Präsidenten Poroschenko ab, den Widerstand des Donbas koste es, was es wolle zu brechen.

Da helfen auch Aufrufe der deutschen Bundeskanzlerin nichts, Poroschenko möge bei der Niederschlagung des Widerstandes die Verhältnismäßigkeit der Mittel beachten. Angesichts der Tatsache, dass Poroschenko selbst, wenn er wollte, die diversen irregulären  Truppen, Milizen und Banden nicht im Griff hat, die aufgebrochen sind, um in ihrem Sinne im Osten für Ordnung zu sorgen, klingen solche Ratschläge wenn nicht dumm, dann zynisch, ganz abgesehen davon, dass Poroschenko eine solche Rücksichtnahme erklärtermaßen nicht will.

Auf der anderen Seite brechen sich russische Appelle zur Niederlegung der Waffen an der Hartnäckigkeit der Kämpfer in den vom Westen belagerten und bombardierten Städten im Donbas und an ihren, angesichts der erklärten Zielsetzung Poroschenkos verständlichen, Befürchtungen, dass sie nach Niederlegung ihrer Waffen damit zu rechnen hätten anschließend niedergemacht, verhaftet, verfolgt und vertrieben zu werden.

Je weiter die Eskalation voranschreitet, soeben noch einmal angeheizt durch die von Poroschenko angeordnete nochmalige Teilmobilisierung von ca. 60.000 Mann, umso unversöhnlicher radikalisieren sich die Positionen, umso mehr treten die ursprünglichen sozialen und politischen Ziele der Unruhen hinter die militärische Aktion und hinter die Selbstbehauptung zurück, bekommen polare Positionen die Überhand über gemäßigte, verwandeln sich politische Ziele in Haß und Gewaltbereitschaft .

Wie auf dem Kiewer „Euro-Maidan“ die nationalistische pro-ukrainische Rechte, die mit europäischen Werten rein gar nichts im Sinn hat, in der Logik der Radikalisierung  dennoch in Führungspositionen vorrückte und am Ende das Geschehen des Umsturzes und der nachfolgenden Politik der Übergangsregierung, einschließlich des Kurses von Poroschenko bestimmte, so zeichnet sich auf der Seite des ursprünglichen Gegen-Maidan, der zunächst nicht mehr war, als die Forderung nach betrieblicher, lokaler und regionaler Selbstbestimmung, unter dem Eindruck der Bombardierung von Dörfern und Städten durch Kiewer Truppen ein spiegelbildlicher Vorgang ab, bei dem die ursprünglichen breiten Referenden sich, unter dem Einfluss russischer Ideologen und Kämpfer in aggressiven pro-russischen und orthodoxen Nationalismus zu verwandeln drohen.

Wer vertritt hier noch die Interessen der Bevölkerung? Wer hat hier noch die ursprünglichen Impulse der anti-oligarchischen Proteste im Blick?  Wer hat den Nutzen von dieser Entwicklung? Schaut man genau hin, dann gibt es im Westen wie im Osten des Landes nur einen Gewinner, nämlich diejenigen, denen es gelingt, die brennenden sozialen Probleme des Landes unter aufgeputschten nationalistischen Hysterien zu begraben.

Wer noch genauer hinschaut, wer vor allem hinhört, was das Volk redet, in russischen Küchen ebenso wie in ukrainischen, wo man sich bei gegenseitigen Verwandschaftsbesuchen  ein Bild von den Ereignissen zu machen versucht, dem öffnet sich noch eine weitere Dimension. Das ist, bitter zu sagen, die Dimension des Geldes. Geld, erzählt man sich an den Küchentischen und in den Urlaubsorten, wo Russen und Ukrainer sich immer noch begegnen, habe es für die Teilnehmerinnen des frühen  Euro-Maidan gegeben ebenso wie für die des Anti-Maidan.

Geld kam aber mit Sicherheit nicht nur von den Amerikanern, auch nicht nur von der EU sondern auch, ohne dass dies irgendwo öffentlich ausgerufen worden wäre, versteht sich, aus inländischen Quellen, aus Kreisen der Oligarchen, die über den Maidan wie schon in früheren Jahren ihre Konkurrenz austrugen und dafür den Maidan benutzten.

Geld kostet jetzt auch die „Offensive gegen den Terrorismus“, kostet das Heer, kostet die Nationalgarde, kosten die paramilitärischen Truppen eines Rechtsradikalen Jarosch, kosten schließlich auch die lokalen und regionalen Milizen, die offen von Oligarchen als Privattruppe unterhalten werden. Kein Zufall, dass die Regierung jetzt an der Novellierung eines Steuergesetzes scheitert. Poroschenko hat es nicht geschafft, anders als seinerzeit Putin in Russland, die Oligarchen nach ihren Privatisierungsraubzügen endlich wieder zu regelmäßigen Steuerzahlungen zu verpflichten. Es ist auch sehr fraglich, ob er – Oligarch unter Oligarchen und unter dem Druck der nationalistischen Rechten – das schaffen kann.

Geld kostet aber auch der Anti-Maidan. Das war schon so, als Janukowitsch den Anti-Maidan in Kiew finanzierte. Das gilt jetzt selbstverständlich in dem Maße noch mehr, als die Kämpfe des Anti-Maidan nicht nur Waffen erfordern, sondern die politischen Aktivitäten auch Geld.  Angesichts der anhaltenden Differenzen zwischen den verschiedenen Oligarchenclans dürfte klar sein, dass es da auch potente inländische Unterstützer gibt. Aus Solidarkassen von Kumpels und Stahlarbeitern, deren Spitzenlöhne bei 200 € im Monat liegen, lassen sich die Ausgaben einer „Republik“ Donezk oder Lugansk jedenfalls nicht bezahlen – jedenfalls nicht die von den Basis-Interessen der Donbasser  Industrie-Arbeiterschaft sich loslösenden  hochfahrenden Pläne eines russisch-orthodox ausgelegten „Novorossija“.

Der lachende Dritte im nationalistischen Gemetzel, zu dem die Menschen des Westens gegen die des Ostens aufgestachelt werden, sind die ukrainischen Oligarchen, die nach dem Maidan rundum im Lande die unmittelbare Macht übernommen haben. Dahinter werden noch ihre westlichen Unterstützer sichtbar. Poroschenko ist der deutlichste, wenn vielleicht auch selbst vorübergehende,  Ausdruck dieser Situation.  Sie vernichten ihre Kritiker im Osten wie auch im Westen, indem sie die Menschen aus dem Westen und aus dem Osten als „Faschisten“ und „Terroristen“ aufeinander hetzen.

Solidarität kann unter diesen Umständen nicht heißen, blind für „den Westen“ oder für „den Süd-Osten“ Partei zu ergreifen,  die einen pauschal als „Faschisten“, die anderen als „Terroristen“ abzustempeln. Solidarität zu üben, heißt dazu beizutragen, Kriegshetze, Hass und Gewalt im Lande und in der internationalen Wahrnehmung der Vorgänge zu stoppen.  Politische und sachliche Differenzen gehören ins Gespräch, Kriegshetze, Folter und Mord vor Gericht. Alles andere ist Lynchjustiz,  gleich in welchem Mantel und mit welcher Rechtfertigung sie daherkommt. Das gilt für nationalistische, separatistische ebenso wie für menschenrechtliche Masken.

Kai Ehlers

www.kai-ehlers.de

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